Kostenerstattung für eine Behandlung mit Transkornealer Elektrostimulationstherapie
Divergenzrüge im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren
Gründe
I
Das LSG hat mit Urteil vom 18.2.2020 den Anspruch der Klägerin auf Kostenerstattung für ihre Behandlung mit der Transkornealen
Elektrostimulationstherapie (TES) und dem OkuStim®-System nebst Kostenübernahme für die zukünftige Therapie bestätigt: Die
bei der Beklagten krankenversicherte Klägerin leide ua an einer erblich bedingten Netzhauterkrankung (Retinitis pigmentosa
beidseits). Die Erkrankung führe in den meisten Fällen zur Erblindung. Der Einsatz der TES ziele darauf ab, durch elektrische
Reize der Netzhaut mittels einer Hornhautelektrode den Untergang der Sinneszellen zu verlangsamen und die Sehleistung der
Betroffenen länger zu erhalten. Bei dem OkuStim®-System handele es sich um ein CE-gekennzeichnetes Medizinprodukt der Risikoklasse
IIa. Der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) habe am 20.7.2017 hierzu die "Richtlinie zur Erprobung der Transkornealen Elektrostimulation
bei Retinopathia Pigmentosa" erlassen (BAnz AT 06.10.2017 B3). Der Sachleistungsanspruch der Klägerin beruhe auf §
33 Abs
1 Satz 1
SGB V iVm §
2 Abs
1a SGB V. Das Hilfsmittel sei untrennbarer Bestandteil einer neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethode zur Sicherung des Erfolgs
der Krankenbehandlung iS von §
33 Abs
1 Satz 1 Var 1
SGB V. Eine Behandlung im Rahmen der vom GBA beschlossenen Erprobungsrichtlinie für OkuStim® sei nicht möglich, da die Erkrankung
der Klägerin bereits sehr weit fortgeschritten sei. Es liege daher ein Ausnahmefall vor, der keiner Empfehlung des GBA bedürfe.
Die Klägerin könne sich auf die strengen Voraussetzungen der Schwere einer Erkrankung iS von §
2 Abs
1a SGB V berufen, zu der auch der nicht kompensierbare Verlust eines wichtigen Sinnesorgans oder einer herausgehobenen Körperfunktion
zähle. Die Klägerin gelte bereits als blind im Sinne des Gesetzes. Der weit fortgeschrittene Krankheitsverlauf stelle eine
notstandsähnliche Situation mit einem gewissen Zeitdruck dar, denn jede weitere Verschlechterung führe angesichts des sehr
geringen vorhandenen Restsehvermögens zu einem irreparablen Schaden.
Die Beklagte hat Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG eingelegt. Sie beruft sich auf eine Rechtsprechungsabweichung
iS von §
160 Abs
2 Nr
2 SGG.
II
Die Nichtzulassungsbeschwerde ist unzulässig, weil die Beklagte das Vorliegen einer Divergenz - den gesetzlichen Anforderungen
entsprechend - nicht hinreichend aufgezeigt hat (§
160a Abs
2 Satz 3
SGG). Die Verwerfung der unzulässigen Beschwerde erfolgt gemäß §
160a Abs
4 Satz 1 Halbsatz 2 iVm §
169 Satz 2 und
3 SGG durch Beschluss ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter.
Divergenz liegt vor, wenn die tragenden abstrakten Rechtssätze, die zwei Entscheidungen zugrunde gelegt worden sind, nicht
übereinstimmen. Sie kommt nur dann in Betracht, wenn das LSG einen tragenden abstrakten Rechtssatz in Abweichung von einem
vorhandenen abstrakten Rechtssatz des BSG, des GmSOGB oder des BVerfG aufgestellt hat. Eine Abweichung liegt folglich nicht schon dann vor, wenn das Urteil des LSG
nicht den Kriterien entspricht, die das BSG aufgestellt hat, sondern erst, wenn das LSG diesen Kriterien widersprochen, also andere rechtliche Maßstäbe entwickelt hat.
Nicht die Unrichtigkeit der Entscheidung im Einzelfall, sondern die Nichtübereinstimmung im Grundsätzlichen begründet die
Zulassung der Revision wegen Abweichung. Darüber hinaus verlangt der Zulassungsgrund der Divergenz, dass das angefochtene
Urteil auf der Abweichung beruht (§
160 Abs
2 Nr
2 SGG). Bezogen auf die Darlegungspflicht bedeutet dies: Die Beschwerdebegründung muss erkennen lassen, welcher abstrakte Rechtssatz
in der in Bezug genommenen Entscheidung enthalten ist und welcher im Urteil des LSG enthaltene Rechtssatz dazu im Widerspruch
steht. Ferner muss aufgezeigt werden, dass auch das BSG die oberstgerichtliche Rechtsprechung im Revisionsverfahren seiner Entscheidung zugrunde zu legen haben wird (stRspr, vgl zum Ganzen: BSG SozR 4-1500 § 160 Nr 13 RdNr 17; BSG SozR 4-1500 § 160 Nr 10 RdNr 4; BSG SozR 1500 § 160a Nr 67 S 89 ff; BSG SozR 1500 § 160a Nr 14 S 22).
Die Beklagte rügt, dass das LSG von folgenden Ausführungen im Urteil des BSG vom 14.12.2006 (B 1 KR 12/06 R - SozR 4-2500 § 31 Nr 8 RdNr 20) abgewichen sei:
"Gerechtfertigt ist eine verfassungskonforme Auslegung der einschlägigen gesetzlichen Regelungen daher nur, wenn eine notstandsähnliche
Situation im Sinne einer in einem gewissen Zeitdruck zum Ausdruck kommenden Problematik vorliegt, wie sie für einen zur Lebenserhaltung
bestehenden akuten Behandlungsbedarf typisch ist. Das bedeutet, dass nach den konkreten Umständen des Falles bereits drohen
muss, dass sich der voraussichtlich tödliche Krankheitsverlauf innerhalb eines kürzeren, überschaubaren Zeitraums mit großer
Wahrscheinlichkeit verwirklichen wird. Ähnliches kann für den ggf. gleichzustellenden, nicht kompensierbaren Verlust eines
wichtigen Sinnesorgans oder einer herausgehobenen Körperfunktion gelten."
Demgegenüber habe das LSG (S 13 der Entscheidungsgründe) ausgeführt:
"dass eine notstandsähnliche Situation mit einem gewissen Zeitdruck vorliege, da angesichts des nur noch sehr geringen Restsehvermögens
jede weitere Verschlechterung zu einem irreparablen Schaden führe. Der Annahme einer notstandsähnlichen Situation stehe nicht
entgegen, dass der Zeitpunkt der vollständigen Erblindung im Sinne einer fehlenden Lichtwahrnehmung nicht genau prognostiziert
werden könne."
Hierzu führt die Beklagte weiter aus, dass eine drohende Erblindung zwar grundsätzlich als wertungsmäßig vergleichbare Erkrankung
in Betracht komme, während hochgradige Sehstörungen nach der Rechtsprechung des BSG nicht gleichzustellen seien (Hinweis auf BSGE 106, 81 = SozR 4-1500 § 109 Nr 3, RdNr 31). Die drohende Erblindung in 20 bis 30 Jahren wegen Stoffwechselstörung sei zB nicht als notstandsähnliche extremste Situation
gewertet worden (Hinweis auf BSG Beschluss vom 26.9.2006 - B 1 KR 16/06 B).
Das LSG habe hier das höchstrichterlich geprägte Zeitmoment nicht hinreichend berücksichtigt, weil es bereits die Wahrscheinlichkeit
des Fortschritts einer schwerwiegenden Erkrankung habe genügen lassen, um die Voraussetzungen von §
2 Abs
1a SGB V zu bejahen. Diese Bewertung stimme nicht mit den rechtlichen Maßstäben des BSG überein. Das LSG hätte daher den Leistungsanspruch nach §
2 Abs
1a Satz 1
SGB V ablehnen müssen.
Mit diesem Vortrag hat die Beklagte eine Divergenz nicht hinreichend bezeichnet.
Das BSG hat die verfassungsrechtlichen Vorgaben aus dem sog Nikolaus-Beschluss des BVerfG vom 6.12.2005 (BVerfGE 115, 25, 49 = SozR 4-2500 § 27 Nr 5 RdNr 33) zum Anspruch auf Krankenbehandlung in Fällen einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung in der Folgezeit
näher konkretisiert und hat dabei in die grundrechtsorientierte Auslegung auch Erkrankungen einbezogen, die mit einer lebensbedrohlichen
oder regelmäßig tödlichen Erkrankung wertungsmäßig vergleichbar sind, wie etwa der nicht kompensierbare Verlust eines wichtigen
Sinnesorgans oder einer herausgehobenen Körperfunktion (vgl zuletzt BSG Urteil vom 19.3.2020 - B 1 KR 22/18 R - juris RdNr 20). Eine drohende Erblindung kommt als eine solche Erkrankung in Betracht (vgl BSGE 106, 81 = SozR 4-1500 § 109 Nr 3, RdNr 31; BSGE 96, 153 = SozR 4-2500 § 27 Nr 7, RdNr 31); hochgradige Sehstörungen reichen demgegenüber noch nicht aus (vgl BSG SozR 4-2500 § 27 Nr 16 RdNr 13 ff zur starken Kurzsichtigkeit kombiniert mit Astigmatismus bei Kontaktlinsen- und Brillenunverträglichkeit).
Das LSG hat die og maßgebliche Rechtsprechung des BSG seiner Entscheidung zugrunde gelegt, insbesondere auch zu den rechtlichen Anforderungen an eine notstandsähnliche Situation.
Es hat sich daher im Ausgangspunkt nicht mit dem vom BSG vorgegebenen Maßstab in Widerspruch gesetzt. Das Vorliegen der Schwere einer Erkrankung iS von §
2 Abs
1a SGB V erfordert in zeitlicher Hinsicht eine notstandsähnliche Situation im Sinne einer in einem gewissen Zeitdruck zum Ausdruck
kommenden Problematik, wie sie für einen zur Lebenserhaltung bestehenden akuten Behandlungsbedarf typisch ist. Das bedeutet,
dass nach den konkreten Umständen des Falles bereits drohen muss, dass sich der voraussichtlich nicht kompensierbare Verlust
eines wichtigen Sinnesorgans oder einer herausgehobenen Körperfunktion innerhalb eines kürzeren, überschaubaren Zeitraums
mit großer Wahrscheinlichkeit verwirklichen wird (stRspr, vgl BSG SozR 4-2500 § 31 Nr 8 RdNr 20; BSGE 100, 103 = SozR 4-2500 § 31 Nr 9, RdNr 32; BSG SozR 4-2500 § 2 Nr 12 LS und RdNr 21), sodass Versicherte nach allen verfügbaren medizinischen Hilfen greifen müssen (vgl nur BVerfG <Kammer> Beschluss vom 11.4.2017 - 1 BvR 452/17 - SozR 4-2500 § 137c Nr 8 = NJW 2017, 2096 = NZS 2017, 582, RdNr 25).
Entgegen den Darlegungen der Beklagten hat das LSG hier nicht bereits die bloße Wahrscheinlichkeit des bloßen Fortschritts
einer schwerwiegenden Erkrankung genügen lassen. Es hat vielmehr das höchstrichterlich geprägte Zeitmoment herangezogen und
hat einen hinreichend konkreten Prognosezeitraum angenommen. Unter Bezugnahme auf die Einschätzung der Fachärztin S. vom 1.10.2019,
die zur Schwere des Krankheitsverlaufs durch das LSG zuletzt befragt worden ist, hat es eine weitere irreparable Verschlechterung
des Sehvermögens "innerhalb der nächsten Monate" für sehr wahrscheinlich gehalten. Es ist im Rahmen des im angestrebten Revisionsverfahren
maßgebenden Prüfungsmaßstabs (vgl §
163 SGG) sowie im Hinblick auf die für das Beschwerdeverfahren geltenden Einschränkungen (vgl §
160 Abs
2 Nr
3 Halbsatz 2 iVm §
128 Abs
1 Satz 1
SGG) nicht zu beanstanden, dass das LSG die notstandsähnliche Situation hier auf den irreparablen Schaden des Verlusts der geringen
Restsehfähigkeit bezogen hat. Die TES wird gezielt zur Verlangsamung des irreparablen Verlusts der Sehfähigkeit eingesetzt.
Das LSG hat insoweit für den weiteren Gang der Prüfung bindend festgestellt, dass auch ein noch so geringes Restsehvermögen
für die Klägerin von überragender Bedeutung sei. Nach den nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen Feststellungen hat das LSG
die Situation in seiner Subsumtion auf den Fall der Klägerin daher als notstandsähnlich beurteilt: Einerseits habe bei ihr
die hohe Wahrscheinlichkeit einer weiteren irreparablen Verschlechterung des nur noch sehr geringen Restsehvermögens innerhalb
eines konkreten Prognosezeitraumes bestanden und andererseits habe ein gewisser Zeitdruck vorgelegen, weil Aussicht auf Verzögerung
des fortschreitenden Verlaufs der Erkrankung und damit auf eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf bestanden
habe.
Wenn die Beklagte sinngemäß zugleich geltend macht, dass das LSG unzutreffend von einer notstandsähnlichen Situation ausgegangen
sei, so stellt dieser Vortrag lediglich eine im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde von vornherein unzulässige Rüge der
richterlichen Beweiswürdigung dar (§
160 Abs
2 Nr
3 Halbsatz 2 iVm §
128 Abs
1 Satz 1
SGG), die der Beschwerde nicht zum Erfolg verhelfen kann. Im Übrigen ist es für eine Divergenzrüge nicht ausreichend, wenn nur
die im Einzelfall als fehlerhaft gerügte Anwendung eines höchstrichterlichen Rechtssatzes durch das Berufungsgericht geltend
gemacht wird (sog bloße Subsumtionsrüge, stRspr, vgl nur BSG Beschlüsse vom 9.4.2008 - B 6 KA 18/07 B - juris RdNr 17 und vom 17.6.2009 - B 6 KA 6/09 B - juris RdNr 16).
Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§
160a Abs
4 Satz 2 Halbsatz 2
SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung von §
193 SGG.