Divergenzrüge im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren
Formgerechte Darlegung einer Divergenz
Einander widersprechende abstrakte Rechtssätze
Gründe:
I
Im Streit ist ein Erstattungsanspruch für Leistungen, die der Leistungsberechtigten F S (S) in der Zeit vom 1.3.2006 bis zum
31.12.2011 erbracht worden sind, sowie Feststellung der Verpflichtung zur weiteren Kostenerstattung seit dem 1.1.2012 und
die Frage der Übernahme des Falles in die Zuständigkeit des beklagten Sozialhilfeträgers.
Die 1988 geborene, schwerbehinderte S lebte zunächst im Zuständigkeitsbereich des beklagten Landes, bevor sie seit 1994 im
Zuständigkeitsbereich des klagenden Landkreises in Vollzeitpflege nach § 33 Sozialgesetzbuch Achtes Buch - Kinder- und Jugendhilfe - (SGB VIII) in einer Pflegefamilie betreut wurde. Nach Vollendung des 18. Lebensjahres verblieb sie zunächst in der Pflegefamilie; seit
Februar 2007 erhält sie Leistungen des ambulant betreuten Wohnens in einer Einrichtung der GmbH. Einen Antrag (vom 29.11.2005)
auf Leistungen der Eingliederungshilfe nach Vollendung des 18. Lebensjahres leitete der Kläger am Tag des Eingangs bei ihm
an den Beklagten weiter; dieser sandte den Antrag zweimal (zuletzt am 6.2.2006) an den Kläger zurück. Der Kläger gewährte
seit dem 1.3.2006 vorläufig Leistungen des "ambulant betreuten Wohnens" in der Pflegefamilie sowie daneben seit dem 1.12.2007
Leistungen der Eingliederungshilfe in einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) und machte beim Beklagten erfolglos einen
Kostenerstattungsanspruch geltend.
Die Klage auf Erstattung von Kosten für die Zeit vom 1.3.2006 bis zum 31.12.2011 in Höhe von 114 976,51 Euro sowie Feststellung
der Verpflichtung, die weiteren Kosten seit dem 1.1.2012 zu übernehmen (mit Ausnahme der Kosten für die Leistungen nach dem
4. Kapitel seit dem 1.1.2014), und schließlich auf Verurteilung des Beklagten, den Fall in seine Zuständigkeit zu übernehmen,
ist ohne Erfolg geblieben (Urteil des Sozialgerichts [SG] Schleswig vom 2.10.2013; Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts
[LSG] vom 5.4.2017). Das LSG hat zur Begründung ua ausgeführt, die beiden Feststellungsanträge seien unzulässig. Die Klage
auf Feststellung der fortbestehenden Erstattungspflicht sei nicht zulässig, weil es vorliegend nicht um eine fortdauernde
Maßnahme, sondern um verschiedene Leistungen gehe. Dies führe auch zu einer Unzulässigkeit der Klage auf Feststellung, den
Leistungsfall in die Zuständigkeit zu übernehmen. Ein Kostenerstattungsanspruch nach § 107 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII) scheide aus, weil Zeiten nach Volljährigkeit von S betroffen seien. Ein Anspruch nach §
14 Abs
4 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - (
SGB IX) bestehe nicht, weil der Kläger als erstangegangener Träger vorläufig geleistet habe, obwohl er den Antrag weitergeleitet
habe. Damit sei er nicht der zweitangegangene Träger. Die Anträge auf ambulante Wohnbetreuung durch die A und auf Leistungen
in der WfbM habe er ohnehin nie weitergeleitet. Ein Erstattungsanspruch nach § 102 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X) scheide für den erstangegangenen Träger regelmäßig aus, weil er den Antrag weiterleiten könne. Allein die Rücksendung durch
den Beklagten berechtige den Kläger nicht zu einer "Vorleistung"; denn eine Rücksendung sehe das Gesetz nicht vor. Sollte
der Kläger überhaupt der unzuständige Träger sein, schließe §
14 Abs
4 Satz 3
SGB IX schließlich die Anwendung von § 105 SGB X aus. Ein Erstattungsanspruch ergebe sich auch nicht wegen der Hilfe zum Lebensunterhalt, für die §
14 SGB IX keine Anwendung finde. Der Kläger sei nämlich für diese Leistungen nach § 98 Abs 1 Satz 1 SGB XII zuständig. § 98 Abs 2 Satz 1 SGB XII komme nicht zur Anwendung, weil es sich bei der Leistung in einer Pflegefamilie, in der S vor dem 1.2.2007 gelebt habe, nicht
um eine stationäre Leistung gehandelt habe. Eine abweichende Zuständigkeit ergebe sich auch nicht aus § 98 Abs 5 SGB XII. S habe in der Pflegefamilie keine Leistungen nach dem Sechsten bis Achten Kapitel erhalten, was die Anwendung von § 98 Abs 5 Satz 1 SGB XII aber voraussetze. Zudem habe es sich bei der Pflegefamilie nicht um eine ambulant betreute Wohnmöglichkeit iS des § 98 Abs 5 SGB XII gehandelt.
Der Kläger macht mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde einen Verfahrensmangel geltend sowie eine Divergenz zu den Entscheidungen
des Bundessozialgerichts (BSG) vom 25.9.2014 - B 8 SO 7/13 R - (BSGE 117, 53 = SozR 4-3500 § 54 Nr 13) und vom 30.6.2016 - B 8 SO 7/15 R - zum Begriff der "Hilfen zu selbstbestimmtem Leben in betreuten
Wohnmöglichkeiten".
II
Die Beschwerde ist unzulässig und daher gemäß §
160a Abs
4 Satz 1 Halbsatz 2 iVm §
169 Satz 3
Sozialgerichtsgesetz (
SGG) ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter zu verwerfen. Ihre Begründung entspricht nicht den aus §
160a Abs
2 Satz 3
SGG abzuleitenden Anforderungen an die Darlegung der Revisionszulassungsgründe der Divergenz und des Verfahrensmangels.
Soweit der Kläger eine Divergenz zu einer Entscheidung des BSG behauptet, genügt sein Vorbringen nicht den gesetzlichen Anforderungen. Wer eine Rechtsprechungsdivergenz (§
160 Abs
2 Nr
2 SGG) entsprechend den gesetzlichen Anforderungen darlegen will, muss entscheidungstragende abstrakte Rechtssätze in der Entscheidung
des Berufungsgerichts einerseits und in der herangezogenen höchstrichterlichen Entscheidung des BSG, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes (GmSOGB) oder des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) andererseits
gegenüberstellen und dazu ausführen, weshalb beide miteinander unvereinbar sein sollen (vgl zB BSG Beschluss vom 28.7.2009 - B 1 KR 31/09 B - RdNr 4; BSG Beschluss vom 28.6.2010 - B 1 KR 26/10 B - RdNr 4; BSG Beschluss vom 22.12.2010 - B 1 KR 100/10 B - Juris RdNr 4 mwN). Erforderlich ist, dass das LSG bewusst einen abweichenden Rechtssatz aufgestellt und nicht etwa lediglich
fehlerhaft das Recht angewendet hat.
Jedenfalls die Entscheidungserheblichkeit der behaupteten Abweichung hat der Kläger nicht ausreichend dargelegt. Er trägt
zwar vor, das LSG habe den Rechtssatz aufgestellt, dass die Annahme eines ambulant betreuten Wohnens in einer Pflegefamilie
ein Gesamtkonzept der Betreuung voraussetzen würde und sporadische, situativ bedingte Betreuungsleistungen nicht ausreichten.
In der Sache B 8 SO 7/13 R habe das BSG aber für die Betreuung in einer Pflegefamilie (in einem allgemeinen, über die Volljährigkeit hinaus verstandenen Sinne) entschieden,
dass neben der rein erzieherischen Leistung eine behinderungsbedingt erforderliche Eingliederungshilfeleistung in Betracht
komme. In der Sache B 8 SO 7/15 R komme damit ein weites Verständnis der ambulanten Wohnbetreuung zum Ausdruck. Davon weiche
das LSG ab. Er legt aber nicht ausreichend dar, dass diese Abweichung die Entscheidung des LSG entscheidungserheblich trägt.
Er führt insoweit lediglich aus, dass das LSG bei Vorliegen der Voraussetzungen des ambulant betreuten Wohnens jedenfalls
wegen der Kosten für den Lebensunterhalt anders entschieden hätte, weil es insoweit auf die Wirkungen des §
14 SGB IX auch aus Sicht des LSG nicht ankomme. Es fehlt aber eine Auseinandersetzung mit der weiteren Begründung des LSG, das seine
ablehnende Entscheidung unabhängig von seinem (generellen) Verständnis von einer ambulant betreuten Wohnmöglichkeit iS des
§ 98 Abs 5 Satz 1 SGB XII ausdrücklich auch darauf gestützt hat, dass S vorliegend Leistungen nach dem Sechsten bis Achten Kapitel in der Pflegefamilie
tatsächlich nicht erhalten habe, was § 98 Abs 5 Satz 1 SGB XII nach seinem Wortlaut aber ebenfalls voraussetze. Vor diesem Hintergrund hätte der Kläger vortragen müssen, weshalb sich die
Entscheidung des LSG auch aus diesem Grund als unzutreffend darstellt und die Entscheidung also auf der behaupteten Divergenz
beruht. Soweit er (allerdings außerhalb der Begründungsfrist) vorträgt, das LSG habe sich nicht auf eine Alternativbegründung
gestützt, sind seine Ausführungen nicht nachvollziehbar, weil das LSG auf Seite 18 seines Urteils eine Anwendung des § 98 Abs 5 SGB XII ausdrücklich mit der Begründung ablehnt, dass es "zum Einen" daran fehle, dass S Leistungen nach dem Sechsten bis Achten
Kapitel (vor Eintritt in die betreute Wohnform) erhalten habe und es sich "zum Anderen" bei der Betreuung von S in der Pflegefamilie
nicht um eine ambulant betreute Wohnmöglichkeit gehandelt habe. Die vom Kläger behauptete angebliche Wertung des LSG, S habe
(lediglich) keine Leistungen nach dem Sechsten bis Achten Kapitel "in Form des ambulant betreuten Wohnens" erhalten, ist den
Urteilsgründen nicht ansatzweise zu entnehmen.
Auch das Vorliegen eines entscheidungserheblichen Verfahrensmangels (§
160 Abs
2 Nr
3 SGG) hat der Kläger nicht ausreichend dargelegt. Insoweit macht der Kläger geltend, das LSG habe den wörtlich in der mündlichen
Verhandlung gestellten Antrag "den Beklagten zu verurteilen, die Zuständigkeit des Eingliederungsfalls (...) zu übernehmen"
gegen das vom Kläger ausdrücklich Gewollte als Feststellungsantrag ausgelegt und diesen als unzulässig abgewiesen. Damit habe
es verfahrensfehlerhaft ein Prozessurteil statt eines Sachurteils erlassen. Es hätte aber ein Sachurteil erlassen müssen;
denn unabhängig davon, ob die Weiterleitung zu Recht oder zu Unrecht erfolgt sei, sei eine Rückgabe im Gesetz nicht vorgesehen.
Der Beklagte sei daher in der Sache verpflichtet, den Fall zu übernehmen, unabhängig davon, ob Kostenzuständigkeit und Fallzuständigkeit
dauerhaft auseinanderfielen.
Den Verfahrensfehler, das LSG hätte in der Sache entscheiden müssen und kein Prozessurteil erlassen dürfen (vgl dazu BSGE
34, 236, 237 = SozR Nr 57 zu §
51 SGG; BSGE 35, 267, 271 = SozR Nr 5 zu § 551
RVO Bl Aa 8; Kummer, Die Nichtzulassungsbeschwerde, 2. Aufl 2010, RdNr 658 ff mwN), hat der Kläger damit zwar bezeichnet. Er
hat aber nicht ausreichend dargelegt, dass der von ihm gestellte Verpflichtungsantrag hätte Erfolg haben müssen und die die
Berufung zurückweisende Entscheidung des LSG also auf dem geltend gemachten Verfahrensfehler beruht, wie es §
160 Abs
2 Nr
3 Halbsatz 1
SGG voraussetzt. Wenn aus Sicht des Klägers die rechtzeitige Weiterleitung des Antrags zur Zuständigkeit des Beklagten geführt
hat und er, der Kläger, nicht zur Erbringung von Leistungen an S verpflichtet ist, ist nicht erkennbar, weshalb es einer "Übernahme"
überhaupt bedarf. Eine denkbare Anspruchsgrundlage, auf die er sein Verpflichtungsbegehren gerichtet auf eine solche Übernahme
stützt, hat der Kläger nicht genannt und weitere Ausführungen dazu, dass die Klage wenn nicht als Feststellungsklage, dann
aber als Verpflichtungsklage Erfolg gehabt hätte, nicht gemacht. Auf solchen Darlegungen kann - entgegen seiner Auffassung
- auch nicht verzichtet werden. Zwar genügt für die Bezeichnung des Verfahrensmangels selbst, dass ein Sachurteil statt eines
Prozessurteils hätte ergehen müssen. Bei einem solchen Verfahrensfehler handelt es sich gleichwohl nicht um einen der abschließend
aufgeführten absoluten Revisionsgründe, bei dem die Entscheidung stets auf einer Verletzung des Rechts beruhend anzusehen
ist (vgl §
202 SGG iVm §
547 Zivilprozessordnung [ZPO]). Deshalb bedarf es des Vorbringens, dass und warum das LSG ohne den gerügten Verfahrensmangel zu einer für den Kläger
günstigeren Entscheidung hätte gelangen können (vgl BSG Beschluss vom 9.2.2018 - B 8 SO 2/17 B - Juris RdNr 8; BSG Beschluss vom 5.4.2017 - B 14 AS 376/16 B - Juris RdNr 3; BSG Beschluss vom 11.10.2017 - B 14 AS 193/17 B - Juris RdNr 3; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt,
SGG, 12. Aufl 2017, §
160 RdNr 23, §
160a RdNr 16c).