Anspruch auf Verletztengeld in der gesetzlichen Unfallversicherung
Verhinderung der Anspruchsbeendigung durch die Gewährung einer Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben
Anforderungen an den Bezugsberuf
Tatbestand
Die Klägerin begehrt wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 11. Oktober 2010 Verletztengeld vom 26. Juni 2014 bis 3. Oktober
2016.
Sie wurde 1960 in der Republik Polen geboren, wo sie zur Elektromechanikerin ausgebildet wurde, und ist Rechtshänderin. 1988
siedelte sie in die Bundesrepublik Deutschland über. Seit April 1994 besteht bis aktuell mit der B. GmbH in S. ein Arbeitsverhältnis
als Bäckereihelferin. Die Tätigkeit übte sie regelmäßig zwischen Montag und Samstag an fünf Tagen von 4 bis 12:30 Uhr aus.
Nach den Angaben der Arbeitgeberin beinhalten die ausschließlich stehenden Tätigkeiten, Croissants herzustellen, Plunder zu
glasieren, Backwaren aufzuarbeiten, gebackenes Brot, Brötchen und Plunder zu kommissionieren, Backwaren zu sortieren und verpacken
sowie Aufräum-, Spül- und Reinigungsarbeiten.
Am 11. Oktober 2010 rutschte die Klägerin gegen 11:45 Uhr an der Arbeitsstätte auf einem Plastikbeutel aus und stürzte zu
Boden. Kurz vor 14 Uhr suchte sie Dr. Ku., Facharzt für Chirurgie, auf, der eine Schulterprellung rechts (ICD-10 S40.0) diagnostizierte.
Sie habe starke Schmerzen im Bereich der Schulter und des gesamten Oberarmes rechts geäußert. Äußere Verletzungszeichen seien
nicht erkannt worden. Der Ellenbogen, das Handgelenk und die Finger seien ohne Pathologie gewesen. Die röntgenologische Untersuchung
der Schulter mit Oberarm rechts habe keine Fraktur ergeben.
Am 19. Oktober 2010 hielt die Klägerin im Fragebogen "Schulter" fest, auf einer Plastiktüte ausgerutscht zu sein, als sie
ein Backblech ausgeräumt habe. Sie sei nach rechts gestürzt. Welche Position der rechte Arm im Zeitpunkt des Aufpralls gehabt
habe, ob durchgestreckt oder angewinkelt, sei ihr genauso wenig bekannt, wie ob er sich in einer Drehbewegung befunden habe.
Beim Sturz habe sie sich an Kunststoffkisten festgehalten beziehungsweise festhalten wollen. Von der X, wo die Klägerin gegen
Krankheit gesetzlich versichert war, zog die Beklagte das Leistungsverzeichnis bei.
Dr. Ka., Facharzt für Diagnostische Radiologie, berichtete nach der Kernspintomographie der rechten Schulter am 14. Oktober
2010, es sei eine Fraktur des Tuberculum majus ohne relevante Fragmentdislokation erkannt worden. Ein 8 mm breiter transtendinöser
Anriss der Supraspinatussehne im ventralen Ansatzbereich sei gesehen worden. Eine deutliche Ergussbildung in der Bursa subacromialis-subdeltoidea
und in der Gelenkkapsel des Schultergelenkes hätten vorgelegen. Eine Labrumläsion habe sich nicht nachweisen lassen. Zudem
sei eine degenerative Tendinopathie der Rotatorenmanschette gesehen worden. Eine mäßige Arthrose im Akromioklavikulargelenk
und eine subakromeale Spornbildung mit Impression des muscolo-tendinösen Überganges beziehungsweise der Sehne des Musculus
supraspinatus seien aufgetreten. Zudem sei es zu einer Ergussbildung in der Sehnenscheide der proximalen langen Bizepssehne
gekommen. Es habe der Verdacht auf eine SLAP-Läsion mit Einrissen am Bizepssehnenanker bestanden.
Prof. Dr. Kp., Chefarzt der Abteilung für Berufsgenossenschaftliche Rehabilitation und Prävention der Berufsgenossenschaftlichen
(BG)-Unfallklinik T., berichtete über den stationären Aufenthalt der Klägerin vom 4. Januar bis 2. Februar 2011, sie habe
erwähnt, bei ausgestrecktem Arm auf die rechte Schulter gestürzt zu sein. Nach der kernspintomographischen Untersuchung durch
Dr. Ka. sei ein transtendinöser Anriss der Supraspinatussehne im ventralen Ansatzbereich als unfallabhängig beschrieben worden.
Nach konservativ therapierter Abrissfraktur des Tuberculum majus rechts habe noch eine Einschränkung der Beweglichkeit bestanden.
Diese habe sich im Rahmen der berufsgenossenschaftlich stationären Weiterbehandlung verbessern lassen.
Dr. Sc., Fachärztin für Chirurgie, diagnostizierte nach der ambulanten Untersuchung der Klägerin am 9. April 2011 eine Ruptur
der Rotatorenmanschette der Schulter rechts (ICD-10 M75.1), eine nicht dislozierte Fraktur des Tuberculum majus (ICD-10 S42.9),
einen Abriss der Supraspinatussehne (ICD-10 T14.6) und eine Subluxation (ICD-10 T14.3).
Prof. Dr. St., Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, äußerte nach der ambulanten Untersuchung der Klägerin am 6. November
2011, auf neurologischem Gebiet liege eine sensible Teilschädigung des Nervus axillaris rechts mit Gefühlsstörungen vor. Die
motorische Funktion des Musculus deltoideus rechts sei vollständig intakt. Eine Schädigung des Armnervengeflechtes bestehe
nicht.
Mit Bescheid vom 30. April 2012 teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass die Zahlung des Verletztengeldes an diesem Tag
endet. Hiergegen legte die Klägerin Widerspruch ein.
Die Beklagte beauftragte Dr. Sc. mit der Erstattung eines Gutachtens. Nach der ambulanten Untersuchung der Klägerin am 22.
Mai 2012 ging sie als Unfallfolge noch von einer Bewegungseinschränkung des rechten Armes mit Schmerzen in der rechten Schulter
aus. Zudem habe der Verdacht auf eine depressive Verstimmung bestanden. Das Entkleiden sei flüssig und ohne fremde Hilfe,
aber unter Schonung der rechten Seite geschehen. Tendenziell habe eine Muskelminderung am rechten Oberarm bestanden. Eine
erhebliche Kraftminderung beim Jobe-Test rechts sei aufgefallen. Eine gut tastbare Kuhle an der rechten Schulter oberhalb
des Schulterblattes im Vergleich zur Gegenseite im Sinne einer Muskelverschmächtigung sei erkannt worden. Die 5 cm lange Narbe
über dem Deltamuskel nach einem dorsal kleinen Einstich bei einer Arthroskopie sei reizlos gewesen.
Zudem wurde Dr. van S., Ärztlicher Leiter des Neurologischen Rehabilitationszentrums der Kliniken S. in S., von der Beklagten
mit der Erstattung eines Gutachtens beauftragt. Nach der ambulanten Untersuchung der Klägerin am 31. Juli 2012 führte er aus,
auf nervenärztlichem Gebiet bestehe eine sensible Teilläsion des Nervus axillaris rechts und eine Schmerzfehlverarbeitung.
Eindeutige Hinweise auf eine depressive Erkrankung ließen sich aktuell nicht eruieren. Zudem hätten keine Anzeichen für eine
Somatisierungsstörung bestanden, allerdings könne sie sich bei fortbestehender Schmerzsymptomatik entwickeln. Die Muskeleigenreflexe
seien seitengleich mittellebhaft gewesen. Pathologische Reflexe hätten sich nicht gezeigt. Kloni seien nicht aufgetreten.
Bei der Prüfung der Motorik habe eine passive Bewegungseinschränkung im Bereich des Schultergelenkes rechts mit einer Armelevation
bis 90°, einer Anteversion bis 90°, einer Retroversion bis 30° und einer Außenrotation rechts bis 30° bestanden. Bei der Prüfung
der groben Kraft sei eine leichte Minderinnervation im Bereich der rechten oberen Extremität aufgefallen. Nach Aufforderung
habe sich allerdings eine seitengleiche Kraftentfaltung mit einem nahezu seitengleichen Muskelrelief gezeigt. Bei der Prüfung
der Sensibilität habe die Klägerin eine Hyperästhesie im Bereich der Schulter und des proximalen Oberarmes rechts angegeben,
am ehesten im Versorgungsgebiet des Nervus axillaris. Ansonsten seien keine Sensibilitätsstörungen angemerkt worden.
Mit Bescheid vom 12. Dezember 2012 über die Gesamtvergütung gewährte die Beklagte der Klägerin wegen der Folgen des Arbeitsunfalls
vom 11. Oktober 2010 eine Rente als vorläufige Entschädigung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 20 vom Hundert
(v. H.) vom 1. Mai 2012 bis 30. April 2013. Die Entscheidung werde wie folgt begründet: Der Arbeitsunfall habe zu einer Bewegungseinschränkung
des rechten Schultergelenkes, einer Muskelminderung des rechten Armes, einer Teilschädigung des Nervus axillaris rechts und
einer Schmerzsymptomatik geführt, die bei der Bewertung der MdE berücksichtigt worden seien. Unabhängig des Versicherungsfalls
hätten eine Teilamputation des Daumens mit einer plastischen Deckung sowie Beschwerden im Bereich der Halswirbelsäule durch
degenerative Veränderungen bestanden.
Im Verfahren S 2 U 957/13 beim Sozialgericht Ulm (SG), in dem die Klägerin die Bewilligung einer höheren Rente erstrebte, führte Prof. Dr. Ze., Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie,
in seiner gutachtlichen Stellungahme von Mai 2013 aus, bei ihr liege eine am 11. September 2012 operativ versorgte Schulterinstabilität
nach einem abgelösten Labrumkomplex im vorderen unteren Glenoidbereich und eine subakromiale Dekompression bei einem Akromionsporn
vor. Nach Aktenlage könne nicht beurteilt werden, welche Gesundheitsstörungen auf den Unfall vom 11. Oktober 2010 zurückzuführen
seien.
Vom 25. November 2013 bis 25. Juni 2014 nahm die Klägerin an einer Maßnahme des Berufsförderungswerkes S. teil, währenddessen
ihr Übergangsgeld gezahlt wurde, wobei sie am 3. und 11. April 2014 sowie vom 6. bis 20. Mai 2014 wegen Krankheit fehlte.
Hierüber wurde berichtet, besonders am Computerunterricht habe sie mit viel Freude und äußerst wissbegierig teilgenommen.
Sie habe die Lehrgangsleitung bereits morgens ab 7 Uhr mit ihren Fragen beschäftigt. Nach vierzehn Tagen habe die Klägerin
das Praktikum wieder beenden müssen, weil sie Schmerzen in der Schulter gehabt habe. Ende März 2014 habe sie ein Praktikum
in einem Brautmodengeschäft aufgenommen. Bereits nach vier Tagen sei sie erkrankt. Nach der Wiedergenesung habe sie neun Tage
gearbeitet und dann das Praktikum wiederum aus gesundheitlichen Gründen abgebrochen. Schließlich habe sie zu einem Orientierungspraktikum
als Alltagsbetreuerin überredet werden können, jedoch dieses nach wenigen Tagen beendet. Eine Praktikumsstelle in einem Büro,
wie es sich die Klägerin gewünscht habe, sei aus Sicht der Trägerin und der Lehrgangsleitung nicht realistisch gewesen. Bis
zu einem gemeinsamen Gespräch mit einer beratenden Person der Abteilung Rehabilitation der Beklagten und dem Geschäftsstellenleiter
habe es Probleme mit der Klägerin im disziplinarischen Bereich gegeben. Sie habe die Lehrgangsleitung durch ein oppositionelles
Gebaren provoziert. Nach dem Gespräch sei es zu einer kompletten Verhaltensänderung gekommen. Die Klägerin habe mit ihren
Zielsetzungen in Bezug auf ihre weiteren beruflichen Vorstellungen unausgereift gewirkt. Im körperlichen Bereich sei sie sehr
eingeschränkt gewesen. Ihre mangelnde Schulbildung und die fehlenden Sprachkenntnisse ließen es nicht zu, im kaufmännischen
Bereich Fuß zu fassen. Die Lehrgangsleitung habe den Eindruck gewonnen, dass die Klägerin mit Vehemenz versucht habe zu beweisen,
dass sie eigentlich nicht arbeitsfähig sei.
Die Beklagte beauftragte Dr. Sh., Arzt für Chirurgie, Orthopädie und Unfallchirurgie, mit der Erstattung eines Gutachtens.
Nach der ambulanten Untersuchung der Klägerin am 1. Juni 2014 führte er aus, an Unfallfolgen habe der Zustand nach einer Arthroskopie
der rechten Schulter mit einer subakromialen Dekompression und einer Refixation der Supraspinatussehne, einschließlich einer
Tenodese der Bizepssehne und einer Ablösung des Ligamentum coracoacromiale am 1. September 2011, nach einer arthroskopischen
Refixation einer Bankartläsion am rechten Schultergelenk sowie nach einer arthroskopischen Bursektomie, einer subakromialen
Dekompression und einer partiellen Synovektomie am 11. September 2012 bestanden. Es sei zu einer endgradigen Bewegungsbeeinträchtigung
der rechten Schulter, reizlosen Hautnarben und dem Zustand nach einer Tenodese der langen Bizepssehne rechts gekommen. Ab
1. Mai 2013 betrage die MdE 10 v. H.
Mit Bescheid vom 4. August 2014 teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass nach dem 25. Juni 2014 kein Anspruch auf Verletztengeld
besteht. Dieser ende mit der Zahlung des Übergangsgeldes. Hiergegen legte die Klägerin Widerspruch ein.
Im Auftrag der Beklagten erstattete die Dipl.-Psychologin Wi. im Psychologischen Testzentrum der D. und Partner GmbH in W.
ein Gutachten. Die Klägerin habe im Bereich der allgemeinen Lern- und Leistungsfähigkeit Ergebnisse erzielt, die insgesamt
im unteren Durchschnittsbereich anzusiedeln seien. Besonders gute Ergebnisse seien im Bereich des Merkens von Formen und Figuren
sowie der Sorgfalt bei Konzentrationsaufgaben erzielt worden. Das schwächste Ergebnis sei insoweit im Bearbeitungstempo erreicht
worden. Insgesamt könne eine Umschulung nicht empfohlen werden. Die Ergebnisse wiesen darauf hin, dass die Klägerin ihre Stärken
in einer eher handwerklich geprägten Tätigkeit habe, die ein hohes Maß an Sorgfalt erfordere.
Mit Widerspruchsbescheid vom 31. März 2015 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück. Hiergegen hat die Klägerin
am 27. April 2015 Klage beim SG erhoben.
Parallel hat die Klägerin ein Schwerbehindertenverfahren geführt. Im Berufungsverfahren L 3 SB 71/16 ist Dr. He., Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin, vom Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) mit der
Erstattung eines Gutachtens beauftragt worden. Nach ihrer ambulanten Untersuchung am 23. Mai 2016 hat er dargelegt, sie leide
an einer schmerzhaften Funktionsstörung der rechten Schulter nach einer operativen Behandlung einer Läsion der Rotatorenmanschette
nach einem Unfall am 11. Oktober 2010 mit einem knöchernen Ausriss ihrer Ansatzstelle ohne wesentliche Verschiebung der Knochenfragmente
gegeneinander. Zudem sei es zu einer dauerhaften Gefühlsstörung in der rechten Schulter und einer deutlichen Verschmächtigung
der Deltamuskulatur rechts gegenüber links nach einer Axillarisschädigung gekommen. Die biomechanische Belastbarkeit der gesamten
rechten oberen Gliedmaße sei durch die Schulter-Arm-Beschwerden dauerhaft deutlich beeinträchtigt. Die Klägerin sei anhaltend
nicht mehr in der Lage, mit der rechten Hand grob- oder feinmechanisch anspruchsvolle Arbeiten längerfristig zu verrichtenArbeiten
auf Schulterhöhe und Überkopftätigkeiten seien nur kurzfristig ohne besonderen Kraftaufwand möglich. Die Erwerbsfähigkeit
werde durch die dauerhafte Gebrauchsminderung der rechten oberen Gliedmaße massiv beeinträchtigt.
Die Beklagte hat der Klägerin mit Bescheiden vom 27. Juni und 21. Juli 2016 eine Reintegrationsmaßnahme im Beruflichen Kompetenzzentrum
A. vom 4. Oktober 2016 bis voraussichtlich 30. April 2017 bewilligt.
Der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Ho. hat im Juni 2016 geäußert, bei der Klägerin bestehe unverändert eine Axillarisläsion
rechts mit einer Beeinträchtigung der Armabduktion und einer leichten Atrophie des Musculus deltoideus sowie einem Taubheitsgefühl
über dem Deltoid. Die axilläre Nervenleitgeschwindigkeit habe als Hinweis auf eine axonale Schädigung des Nervus axillaris
noch eine deutliche Amplitudenminderung rechts gegenüber links ausgewiesen.
Über die teilstationäre multimodale Schmerztherapie in der Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie des Universitätsklinikums
H. vom 25. Juli bis 19. August 2016 hat die Assistenzärztin E. kundgetan, es sei unter anderem eine Axillarisläsion rechts
diagnostiziert worden. Bei der Entlassung seien keine Schmerzmedikamente mehr verordnet worden. Novalgin und Tilidin seien
im Laufe der Therapie abgesetzt worden.
Das SG hat nach der mündlichen Verhandlung am 12. Dezember 2016 die Klage durch Urteil abgewiesen. Die Klägerin habe keinen Anspruch
auf die erneute Gewährung von Verletztengeld vom 16. Juni 2014 bis 3. Oktober 2016. Die Beklagte habe spätestens im Bescheid
vom 4. August 2014 unmissverständlich zu erkennen gegeben, im Anschluss an die zum 25. Juni 2014 aus ihrer Sicht erfolgreich
beendete Integrationsmaßnahme keine weiteren Teilhabemaßnahmen mehr durchzuführen. Weder von ihr aus noch aus der Perspektive
der Klägerin habe damit zum 26. Juni 2014 eine geplante Warte- oder Unterbrechungszeit vorgelegen, die leistungsmäßig mit
einem Verletztengeldanspruch zu füllen gewesen wäre. Die von der Beklagten bei Erlass des Bescheides vom 4. August 2014 getroffene
Prognoseentscheidung, keine weiteren Teilhabeleistungen mehr zu erbringen, sei nachvollziehbar und nicht zu beanstanden, nachdem
der Abschlussbericht der mehrmonatigen Maßnahme im Berufsförderungswerk S. beinhalte, dass sie unausgereifte beziehungsweise
unrealistische Vorstellungen hinsichtlich ihrer beruflichen Zukunft gehabt habe. Es hätten weniger die Unfallfolgen als vielmehr
Gründe in der Persönlichkeit der Klägerin einer beruflichen Wiedereingliederung im Wege gestanden. Diese beträfen jedoch das
allgemeine Arbeitsmarktrisiko, welches nicht nach dem Recht der gesetzlichen Unfallversicherung versichert sei. Die angefochtene
Verwaltungsentscheidung sei rechtmäßig, obwohl die Beklagte danach erneut Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben bewilligt
habe.
Gegen die den Bevollmächtigten der Klägerin am 5. Januar 2017 zugestellte Entscheidung hat diese am 27. Januar 2017 Berufung
beim LSG eingelegt, welches Prof. Dr. Sp., Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie, nach Einholung einer Arbeitsplatzbeschreibung
der letzten Arbeitgeberin mit der Erstattung eines Gutachtens nach Aktenlage beauftragt hat. Erstellt worden ist es von ihm
am 9. August 2018. Unmittelbar nach dem Unfallereignis hätten eine Impressionsfraktur des Tuberculus majus, also des großen
Rollhügels des Oberarmkopfes, mit einer Schulterprellung rechts, mithin einer Kontusion, ohne Dislokation vorgelegen, welche
einzig durch das Ereignis vom 11. Oktober 2010 verursacht worden sei. Durch die stattgehabte direkte Gewalteinwirkung könne
es zum Bruch der Knochenrinde, also der Kortikalis, mit einem möglichen Frakturnachweis im Röntgenbild kommen, oder wie vorliegend
nur zu einem Einbruch des Knochenmarks, der Spongiosa. Letztere Frakturform lasse sich nur mittels der Kernspintomographie
nachweisen. Brüche im Bereich des Tuberculum majus könnten auch durch eine indirekte Gewalteinwirkung in Form eines Zuges
oder einer Hebelwirkung auf die Schulter bei Stürzen auf den ausgestreckten Arm entstehen. Allerdings komme es dann zum Ausriss
eines Knochenstückes aus dem Oberarmkopf, einer so genannten "Abrissfraktur". Dieses sei immer aus dem Verband der Oberarmkopfkalotte
herausgeschoben, was im Falle der Klägerin nicht aufgetreten sei. Unfallunabhängig bestünden Degenerationszeichen der Rotatorenmanschette
mit einem Teilriss von 8 mm der Supraspinatussehne der rechten Schulter, eine Arthrose des Akromioklavikulargelenkes mit einer
Spornbildung rechts und eine mögliche Schädigung des Bizepssehnenankers der rechten Schulter. Später seien eine Bankartläsion
der rechten Schulter, ein Impingement mit einer Begleitbursitis und Synovialitis, ein Schaden des Nervus axillaris mit einer
Sensibilitätsstörung und einer nachfolgenden Kraftminderung beziehungsweise Atrophie des Musculus deltoideus rechts sowie
eine Schmerzchronifizierung mit biopsychosozialen Folgen und der Verdacht auf eine Somatisierungsstörung beziehungsweise Depression
geäußert worden. Diese anderen Gesundheitsstörungen seien unfallunabhängig. Das Unfallereignis habe lediglich dazu geführt,
dass die bislang stumme Schadensanlage der Impingementsituation mit einer Degeneration der Supraspinatussehne und einer Einengung
des Gleitraumes klinisch manifest geworden sei. Das Unfallereignis als besonderem, nicht alltagsüblichem Ereignis sei hierfür
richtungsgebend gewesen. Ohne dieses wäre es mit hinreichender Wahrscheinlichkeit nicht zum gleichen Zeitpunkt zur Manifestation
des Impingementsyndroms gekommen. Allerdings überwiegten nach dem 9. Mai 2011 die Symptome aus den manifest manifest gewordenen
Schadensanlagen. Ab dem 26. Juni 2014 seien durchgehend Charakteristika in Form einer leichten Bewegungseinschränkung und
einer Kraftminderung, verbunden mit einer Funktionsminderung des rechten Armes, beschrieben worden, die ausschließlich den
unfallunabhängigen Gesundheitsstörungen zuzuordnen seien. Die unfallbedingten Gesundheitsstörungen seien mit hinreichender
Wahrscheinlichkeit bereits im Frühjahr 2011 folgenlos ausgeheilt gewesen.
In der nichtöffentlichen Sitzung des LSG am 23. November 2018 hat der Berichterstatter die Klägerin gehört.
Auf ihren Antrag nach §
109 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) hat Dr. Ko., Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, ein Gutachten erstattet. Nach ihrer ambulanten Untersuchung am 19.
Januar 2019 hat er im Juni dieses Jahres ausgeführt, zum Unfallhergang habe sie angeführt, sie habe ein Blech, welches neben
einer Maschine gestanden habe, aufräumen wollen. Auf einem Müllbeutel sei sie ausgerutscht und habe den Halt verloren. Mit
dem rechten Arm habe sie sich noch abstützen wollen, die Plastiktüte sei jedoch unter den Füßen weitergerutscht, sodass sie
mit dem noch gestreckten rechten Arm auf den Boden gefallen sei. Auf seinem Fachgebiet liege ein Chronisch regionales Schmerzsyndrom
(ICD-10 M89.00) in der rechten Schulter nach einer Verletzung am 11. Oktober 2010 vor. Diese Gesundheitsstörung sei als Folge
der intensiven Schmerzen nach einer Verletzung der rechten Schulter aufgetreten. Ihre genaue Ursache sei bis heute allerdings
nicht bekannt. Hiervon betroffen sei immer ein Gelenk, meistens die Hand oder der Fuß, seltener das Knie oder die Schulter
und noch weniger die Hüfte. Bei seiner gutachtlichen Untersuchung der Klägerin hätten sich die klassischen Zeichen eines Chronisch
regionalen Schmerzsyndroms im Vollbild nicht mehr nachvollziehen lassen. Inwieweit sie im Verlauf vorgelegen hätten und übersehen
worden seien, lasse sich der Aktenlage nicht entnehmen. Eine gezielte schmerztherapeutische Untersuchung und Behandlung sei
erst 2016 erfolgt, also sechs Jahre nach dem Unfallereignis. Nach dieser Zeit seien die akuten klinischen Erscheinungen in
aller Regel bereits abgeklungen. Immerhin habe sich eine leichte Temperaturdifferenz im Bereich des Handrückens und der Handinnenfläche
gegenüber links noch erheben lassen. Obwohl die Klägerin Rechtshänderin sei, sei die Muskulatur des rechten Armes im Seitenvergleich
schmächtiger gewesen. Insgesamt spreche das Schädigungsmuster, die Schmerzausbreitung, die Schmerzqualität, insbesondere mit
dem diffusquälenden Charakter, für ein residuales Chronisch regionales Schmerzsyndrom. Dr. van S., der neurologische und elektrophysiologische
Befunde erhoben habe, die sich mit denjenigen seiner aktuellen Untersuchung deckten, habe dessen typischen ausgeprägten Schmerzen
beschrieben. Die Möglichkeit dieser Erkrankung habe er gleichwohl differentialdiagnostisch nicht in Erwägung gezogen. Die
sensible Teilläsion des Nervus axillaris rechts könne anamnestisch nachvollzogen werden. Mit objektiven Methoden habe sich
eine Läsion von Nervenbahnen gleichwohl nicht nachweisen lassen. Alle Muskeldehnungsreflexe, auch der Deltoideusreflex, seien
normal gewesen, was eine intakte, vom Muskel zum Rückenmark laufende afferente Bahn und umgekehrt efferente voraussetze. Die
Überleitung vom oberen Armplexus zum Musculus deltoideus über den Nervus axillaris sei elektroneurographisch seitengleich
intakt gewesen. Prof. Dr. Sp. habe den gesamten Verlauf nach Aktenlage minuziös rekonstruiert und transparent gemacht. Mangels
eigener Untersuchung habe er sich jedoch auf die Wahrnehmungen der die Klägerin zuvor behandelnden Ärzte verlassen müssen.
Die Auswirkungen des ausgeprägten und lange anhaltenden Schmerzgeschehens seien ihm damit entgangen.
Die Klägerin trägt im Wesentlichen vor, nicht zuletzt aufgrund des Gutachtens von Dr. Ko. stehe ihr Verletztengeld im begehrten
Zeitraum zu. Prof. Dr. Sp. habe den Inhalt ihrer beruflichen Tätigkeit falsch erfasst und auch den Unfallhergang nicht richtig
zugrunde gelegt.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 12. Dezember 2016 und den Bescheid vom 4. August 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 31. März 2015 aufzuheben sowie die Beklagte zu verurteilen, ihr wegen der Folgen des Arbeitsunfalles vom 11. Oktober 2010
Verletztengeld vom 26. Juni 2014 bis 3. Oktober 2016 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.
Sie trägt, auch gestützt auf die beratungsärztliche Stellungahme von Dr. H., Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, von
Juli 2019, im Wesentlichen vor, die Kontinuität von Beschwerden seien ein Baustein der Beurteilung ihrer Konsistenz und Plausibilität,
nicht jedoch, wie von Dr. Ko. dargestellt, unter Diagnosen und Befunde zu subsumieren. Es entspreche nicht dem anerkannten
Stand des Fach- und Erfahrungswissens, dass ein Komplexes regionales Schmerzsyndrom durch Schmerzen ausgelöst werde. Die Ursache
sei bis heute nicht eindeutig geklärt. Der Schluss, Dr. van S. habe diese Krankheit übersehen, könne nicht daraus gezogen
worden, dass Dr. Ko. genauso wie dieser zu einem im Grunde identischen neurologischen Befund gekommen sei, also obligate Symptome
und Befunde für ein Komplexes regionales Schmerzsyndrom nicht festzustellen gewesen seien und damit über eine Zeitspanne von
sieben Jahren eine Befundkonstanz zu attestieren sei. Dr. Ko. versuche, die Möglichkeit einer Erkrankung auf eine vollbeweisliche
Ebene zu heben. Davon abgesehen sei bei der Einstellung der Verletztengeldzahlung die Prognose für eine Wiedereingliederung
sowohl auf Arbeitsmarktebene wie auch medizinisch schlecht gewesen, sodass kein weiterer Anspruch auf diese Leistung bestehe.
Die später bewilligte Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben sei trotz der weiterhin schlechten Prognose auf mehrfachen Wunsch
der Klägerin erfolgt. Dies rechtfertigt keinen durchgehenden Bezug von Verletztengeld. Hierdurch werde die vorher getroffene
Entscheidung nicht rechtswidrig.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten beider
Instanzen, einschließlich der LSG-Akte L 3 SB 71/16, und die Verwaltungsakte der Beklagten (5 Bände) verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung der Klägerin ist form- und fristgerecht (§
151 Abs.
1 SGG) eingelegt worden sowie im Übrigen zulässig, insbesondere statthaft (§
143, §
144 Abs.
1 SGG). Sie begehrte im Berufungsverfahren die Bewilligung von Verletztengeld vom 26. Juni 2014 bis 3. Oktober 2016, also eine
laufende Leistung für mehr als ein Jahr (§
144 Abs.
1 Satz 1 Nr.
1, Satz 2
SGG). Das Rechtsmittel ist aber unbegründet.
Gegenstand des Berufungsverfahrens ist das angefochtene Urteil des SG vom 12. Dezember 2016, mit dem die als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§
54 Abs.
1 Satz 1 und Abs.
4, §
56 SGG) erhobene Klage, mit welcher die Klägerin unter Aufhebung des Bescheides vom 4. August 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 31. März 2015 die Verurteilung der Beklagten zur Gewährung von Verletztengeld vom 26. Juni 2014 bis 3. Oktober 2016 verfolgte,
abgewiesen wurde. Maßgebender Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist für diese Klageart der Zeitpunkt
der letzten mündlichen Verhandlung in den Tatsacheninstanzen (vgl. BSG, Urteil vom 2. September 2009 - B 6 KA 34/08 R -, BSGE 104, 116 <124>; Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Kommentar zum
SGG, 12. Aufl. 2017, §
54 Rz. 34), welche am 24. Oktober 2019 stattfand.
Die Berufung ist mangels Begründetheit der Klage nicht begründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Verletztengeld vom
26. Juni 2014 bis 3. Oktober 2016, weder nach Abs. 1 noch nach Abs.
2 Satz 1 des §
45 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB VII). Der angefochtene Verwaltungsakt ist rechtmäßig und verletzt sie nicht in ihren Rechten (§
54 Abs.
2 Satz 1
SGG).
Nach §
45 Abs.
1 SGB VII wird Verletztengeld erbracht, wenn Versicherte infolge eines Versicherungsfalls arbeitsunfähig sind oder wegen einer Maßnahme
der Heilbehandlung eine ganztägige Erwerbstätigkeit nicht ausüben können und unmittelbar vor Beginn der Arbeitsunfähigkeit
oder der Heilbehandlung Anspruch auf Arbeitsentgelt, Arbeitseinkommen oder die dort aufgeführten Sozialleistungen wie etwa
Übergangsgeld hatten. Gemäß §
46 Abs.
1 SGB VII wird Verletztengeld von dem Tag an gezahlt, ab dem die Arbeitsunfähigkeit ärztlich festgestellt wird, oder mit dem Tag des
Beginns einer Heilbehandlungsmaßnahme, welche die Versicherten an der Ausübung einer ganztägigen Erwerbstätigkeit hindern.
Die Zahlung von Verletztengeld endet nach §
46 Abs.
3 Satz 1
SGB VII mit dem letzten Tag der Arbeitsunfähigkeit oder der Hinderung an einer ganztägigen Erwerbstätigkeit durch eine Heilbehandlungsmaßnahme
(Nr. 1) oder mit dem Tag, der demjenigen vorausgeht, an dem ein Anspruch auf Übergangsgeld besteht (Nr. 2). Wenn mit dem Wiedereintritt
der Arbeitsfähigkeit nicht zu rechnen ist und Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nicht zu erbringen sind, endet das Verletztengeld
gemäß §
46 Abs.
3 Satz 2
SGB VII mit dem Tag, an dem die Heilbehandlung so weit abgeschlossen ist, dass die Versicherten eine zumutbare, zur Verfügung stehende
Berufs- oder Erwerbstätigkeit aufnehmen können (Nr.1), mit Beginn der in § 50 Abs. 1 Satz 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch
<SGB V> genannten Leistungen, es sei denn, dass diese Leistungen mit dem Versicherungsfall im Zusammenhang stehen (Nr. 2),
im Übrigen mit Ablauf der 78. Woche, gerechnet vom Tag des Beginns der Arbeitsunfähigkeit an, jedoch nicht vor dem Ende der
stationären Behandlung (Nr. 3).
Zwar sind insbesondere die Voraussetzungen des Beendigungstatbestandes des §
46 Abs.
3 Satz 1 Nr.
3 SGB VII nicht erfüllt, obwohl die Beklagte bis 30. April 2012 Verletztengeld zahlte, also die 78 Wochen überschritten sind. Unabhängig
davon, ob sie überhaupt eine Prognoseentscheidung über den Wiedereintritt der Arbeitsfähigkeit der Klägerin traf, bewilligte
sie ihr mit Bescheiden vom 27. Juni und 21. Juli 2016 eine Reintegrationsmaßnahme im Beruflichen Kompetenzzentrum A. vom 4.
Oktober 2016 bis voraussichtlich 30. April 2017, wenn auch erst auf mehrfachen Wunsch der Klägerin, wie die Beklagte kundtat.
Hierbei handelt es sich um eine Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben, die verhinderte, dass der Anspruch auf Verletztengeld
endete. Denn das Recht der gesetzlichen Unfallversicherung enthält keine Höchstgrenze von 78 Wochen für das Verletztengeld
(vgl. BSG, Urteil vom 30. Oktober 2007 - B 2 U 31/06 R -, SozR 4-2700 § 46 Nr. 3, Rz. 22).
Im Zeitraum vom 26. Juni 2014 bis 3. Oktober 2016 ist infolge des von der Beklagten mit Bescheid vom 12. Dezember 2012 nach
Auslegung bindend (§
77 SGG) anerkannten Arbeitsunfalls vom 11. Oktober 2010 indes keine die Bewilligung von Verletztengeld begründende Arbeitsunfähigkeit
eingetreten. Der Zusammenhang besteht anknüpfend an die Rechtsprechung zu diesem Begriff in der gesetzlichen Krankenversicherung
nur, wenn Versicherte aufgrund der Folgen eines Versicherungsfalls nicht in der Lage sind, ihrer zuletzt ausgeübten oder einer
gleich oder ähnlich gearteten Tätigkeit nachzugehen (vgl. zur ständigen Rechtsprechung in der gesetzlichen Krankenversicherung:
BSG, Urteile vom 30. Mai 1967 - 3 RK 15/65 -, BSGE 26, 288, 9. Dezember 1986 - 8 RK 12/85 -, BSGE 61, 66 und 8. Februar 2000 - B 1 KR 11/99 R -, BSGE 85, 271 <273>; zur Übernahme dieses Begriffs in die gesetzliche Unfallversicherung: BSG, Urteile vom 29. November 1972 - 8/2 RU 123/71 -, BSGE 35, 65, 4. Dezember 1991 - 2 RU 76/90 -, SozR 3-2200 § 560 Nr. 1 und 13. August 2002 - B 2 U 30/01 R -, SozR 3-2700 § 46 Nr. 1). Arbeitsunfähigkeit ist danach gegeben, wenn Versicherte ihre zuletzt vor Eintritt des Versicherungsfalls
konkret ausgeübte Tätigkeit wegen Krankheit nicht weiter verrichten können (vgl. hierzu und zum Folgenden: BSG, Urteil vom 30. Oktober 2007 - B 2 U 31/06 R -, SozR 4-2700 § 46 Nr. 3, Rz. 12). Dass sie möglicherweise eine andere Tätigkeit trotz der gesundheitlichen Beeinträchtigung
noch ausüben können, ist unerheblich. Geben sie nach Eintritt der Arbeitsunfähigkeit die zuletzt innegehabte Arbeitsstelle
beziehungsweise bei selbstständiger Tätigkeit ihre Arbeitstätigkeit auf, ändert sich allerdings der rechtliche Maßstab insofern,
als für die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit nicht mehr die konkreten Verhältnisse an diesem Arbeitsplatz maßgebend sind,
sondern nunmehr abstrakt auf die Art der zuletzt ausgeübten Beschäftigung abzustellen ist. Versicherte dürfen dann auf gleich
oder ähnlich geartete Tätigkeiten verwiesen werden, wobei aber der Kreis möglicher Verweisungstätigkeit entsprechend der Funktion
des Kranken- oder Verletztengeldes eng zu ziehen ist. Handelt es sich bei der zuletzt ausgeübten Tätigkeit um einen anerkannten
Ausbildungsberuf, so scheidet eine Verweisung auf eine außerhalb dieses Berufes liegende Beschäftigung aus. Auch eine Verweisungstätigkeit
innerhalb des Ausbildungsberufes muss, was die Art der Verrichtung, die körperlichen und geistigen Anforderungen, die notwendigen
Kenntnisse und Fertigkeiten sowie die Höhe der Entlohnung angeht, mit der bisher verrichteten Arbeit im Wesentlichen übereinstimmen,
sodass Versicherte sie ohne größere Umstellung und Einarbeitung ausführen können. Dieselben Bedingungen gelten bei ungelernten
Arbeiten, nur dass hier das Spektrum der zumutbaren Tätigkeiten deshalb größer ist, weil die Verweisung nicht durch die engen
Grenzen eines Ausbildungsberufes eingeschränkt ist.
Die Klägerin übte zum Zeitpunkt des Arbeitsunfalls am 11. Oktober 2010 eine Beschäftigung als Bäckereihelferin bei der B.
GmbH in S. aus. Diese umfasst die ausschließlich stehenden Tätigkeiten, Croissants herzustellen, Plunder zu glasieren, Backwaren
aufzuarbeiten, gebackenes Brot, Brötchen und Plunder zu kommissionieren, Backwaren zu sortieren und verpacken sowie Aufräum-,
Spül- und Reinigungsarbeiten, was der Senat dessen Auskunft entnimmt. Diese Arbeit übte sie regelmäßig zwischen Montag und
Samstag an fünf Tagen von 4 bis 12:30 Uhr aus. Das Arbeitsverhältnis besteht weiterhin fort, wie die Arbeitgeberin mitteilte.
Ob die Klägerin, die anschließend und im streitgegenständlichen Zeitraum ihre berufliche Tätigkeit nicht mehr ausübte, gleichwohl
ihre letzte Arbeitsstätte - faktisch - aufgab und sich bereits deshalb der rechtliche Maßstab insofern änderte, als für die
Beurteilung der Arbeitsfähigkeit nicht mehr die konkreten Verhältnisse an seinem Arbeitsplatz bei der Arbeitgeberin maßgebend
waren, sondern nunmehr abstrakt auf die Art der zuletzt ausgeübten Beschäftigung abzustellen war, kann dahinstehen. Denn unter
Berücksichtigung der Berufsinformation der Bundesagentur für Arbeit (im Internet unter "www.berufenet.arbeitsagentur.de",
Beruf "Helferin - Lebensmittelherstellung") ergibt sich kein Unterschied zu den konkret für die Arbeitgeberin ausgeübten Tätigkeiten.
Helferinnen im Bereich Lebensmittelherstellung unterstützen die Fachkräfte bei der Herstellung von Backwaren. In einer Bäckerei
stellen sie die benötigten Rohstoffe bereit. Sie helfen beim Reinigen von Maschinen und Werkzeugen sowie beim Verarbeiten
der Zutaten, etwa beim Herstellen des Teiges. Auf Anweisung der Fachkräfte belegen sie zudem Kuchen oder formen Brezeln. Verfügt
der Betrieb über einen Laden oder Verkaufsraum, sorgen sie dort für Ordnung. Sie räumen Regale ein, zeichnen Waren aus und
helfen bei der Dekoration mit.
Aufgrund der Folgen des Arbeitsunfalls vom 11. Oktober 2010 war die Klägerin in der Lage, vom 26. Juni 2014 bis 3. Oktober
2016 der beruflichen Tätigkeit als Bäckereihelferin nachzugehen.
Am Unfalltag wollte sie in Ausübung ihrer Beschäftigung (§
2 Abs.
1 Nr.
1 SGB VII) gegen 11:45 Uhr ein Blech, welches neben einer Maschine stand, aufräumen. Hierbei rutschte sie auf einem sich auf dem Boden
befindenden Müllbeutel aus Plastik aus und verlor den Halt. Mit dem rechten Arm wollte sie sich noch abstützen, rutschte jedoch
weiter, sodass sie mit der rechten Körperseite auf den Boden fiel. Diesen Hergang entnimmt der Senat ihren eigenen Angaben
und dem Durchgangsarztbericht von Dr. Ku., der eine Schulterprellung rechts (ICD-10-GM-2019 S40.0) diagnostizierte. In welcher
Stellung sich der rechte Arm beim Aufprall befand, steht hingegen nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit fest.
Weder nach dem
SGG noch nach der
Zivilprozessordnung (
ZPO) gibt es zwar eine Beweisregel in dem Sinne, dass frühere Aussagen oder Angaben grundsätzlich einen höheren Beweiswert besitzen
als spätere; im Rahmen der freien Beweiswürdigung (§
128 Abs.
1 Satz 1
SGG, §
286 ZPO) sind vielmehr alle Aussagen, Angaben und sonstigen Einlassungen zu würdigen. Gleichwohl kann das Gericht im Rahmen der Gesamtwürdigung
den zeitlich früheren Aussagen aufgrund der Gesichtspunkte, dass die Erinnerung hierbei noch frischer war und sie von irgendwelchen
Überlegungen, die darauf abzielen, das Klagebegehren zu begünstigen, noch unbeeinflusst waren, einen höheren Beweiswert als
den späteren zumessen (vgl. BSG, Urteil vom 11. November 2003 - B 2 U 41/02 R -, SozR 4-2700 § 4 Nr. 1, Rz. 12; Urteile des Senats vom 12. August 2014 - L 6 VH 5821/10 ZVW - juris, Rz. 144 und vom 21. Mai 2015 - L 6 U 1053/15 -, juris, Rz. 34). Der Senat misst den Erstangaben der Klägerin im Fragebogen "Schulter" acht Tage nach dem Versicherungsfall
den höheren Beweiswert zu. Derart zeitnah war ihr nicht bekannt, welche Position der rechte Arm im Zeitpunkt des Aufpralles
hatte, ob durchgestreckt oder angewinkelt oder ob eine Drehbewegung stattfand. Soweit sie erstmals Anfang 2011 gegenüber Prof.
Dr. Kp. anführte, er sei ausgestreckt gewesen, mag dies für sie plausibel erschienen sein. Der Senat schließt jedoch aus,
dass sie sich nahezu drei Monate nach dem Ereignis auf einmal konkret erinnern konnte. Dagegen spricht sogar, dass ein Bruch
im Bereich des Tuberculum majus, wie ihn Dr. Ka. bei der kernspintomographischen Untersuchung drei Tag nach dem Sturz feststellte,
zwar auch durch eine indirekte Gewalteinwirkung in Form eines Zuges oder einer Hebelwirkung auf die Schulter bei Stürzen auf
den ausgestreckten Arm entstehen kann. Allerdings kommt es dann zum Ausriss eines Knochenstückes aus dem Oberarmkopf, wie
der Sachverständige Prof. Dr. Sp. überzeugend aufzeigte. Dieses ist immer aus dem Verband der Oberarmkopfkalotte herausgeschoben,
was im Falle der Klägerin nicht auftrat.
Bei der versicherten Verrichtung am Unfalltag zog sie sich neben der Prellung der rechten Schulter eine Impressionsfraktur
des Tuberculum majus ohne Dislokation zu, wie Prof. Dr. Sp. unter Berücksichtigung einer nicht erwiesenen indirekten Gewalteinwirkung
überzeugend darlegte. Die Kontusion war bereits nach wenigen Wochen und der Bruch im Frühjahr 2011 ausgeheilt, worauf Prof.
Dr. Sp. schlüssig hinwies. Prof. Dr. Kp. stellte bereits Anfang Februar 2011 fest, dass sich die noch bestandene Einschränkung
der Beweglichkeit der konservativ therapierten Fraktur im Rahmen der berufsgenossenschaftlich stationären Weiterbehandlung
in der BG-Unfallklinik T. weiter verbessern ließ.
Unfallfolge ist zudem eine Läsion des Nervus axillaris rechts. Den Zusammenhang mit dem Versicherungsfall stellte die Beklagte
mit Bescheid vom 12. Dezember 2012 bestandskräftig fest. Dem Satz, wonach der Arbeitsunfall unter anderem zu einer Teilschädigung
des Nervus axillaris rechts führte, kommt vorliegend nach Auslegung die Bedeutung einer solchen bindenden Feststellung zu
(vgl. BSG, Urteil vom 23. April 2015 - B 2 U 20/14 R -, SozR 4-5671 Anl. 1 zu Nr. 2108 Nr. 8, Rz. 13 m. w. N.). Dieser Gesundheitsschaden führte indes im streitgegenständlichen
Zeitraum nicht zur Arbeitsunfähigkeit. Denn Dr. van S. fiel bereits Mitte 2012 bei der Prüfung der groben Kraft nur eine leichte
Minderinnervation im Bereich der rechten oberen Extremität auf. Nach Aufforderung zeigte sich sogar eine seitengleiche Kraftentfaltung
mit einem nahezu seitengleichen Muskelrelief. Bei der Prüfung der Sensibilität gab die Klägerin lediglich eine Hyperästhesie
im Bereich der Schulter und des proximalen Oberarmes rechts an, am ehesten im Versorgungsgebiet des Nervus axillaris. Ansonsten
wurden keine Sensibilitätsstörungen angemerkt, was der Senat dem im Wege des Urkundenbeweises verwerteten schlüssigen Gutachten
(§
118 Abs.
1 Satz 1 i. V. m. §§
415 ff.
ZPO) von Dr. van S. entnimmt.
Soweit der Sachverständige Dr. He. (§
118 Abs.
1 Satz 1
SGG i. V. m. §
411a ZPO) nach seiner gutachtlichen Untersuchung im Mai 2016 die Erwerbsfähigkeit der Klägerin durch eine dauerhafte Gebrauchsminderung
der rechten oberen Gliedmaße massiv beeinträchtigt sah, ist dieser Zustand auf unfallfremde Gesundheitsstörungen zurückzuführen
und nicht auch auf eine angebliche deutliche Verschmächtigung der Deltamuskulatur rechts gegenüber links nach einer Axillarisschädigung.
Nach Auswertung der Aktenlage kam Prof. Dr. Sp. auch für den Senat überzeugend zu dem Ergebnis, dass unfallunabhängig Degenerationszeichen
der Rotatorenmanschette mit einem Teilriss von 8 mm der Supraspinatussehne der rechten Schulter, eine Arthrose des Akromioklavikulargelenkes
mit einer Spornbildung rechts, eine Bankartläsion der rechten Schulter sowie ein Impingement mit einer Begleitbursitis und
Synovialitis bestehen. Eine Schädigung des Bizepssehnenankers steht demgegenüber nicht sicher fest, Prof. Dr. Sp. hielt sie
nur für möglich. Allein diese versicherten Ursachen führten zu dem gesundheitlichen Zustand der Klägerin mit unter anderem
einer Bewegungseinschränkung der rechten Schulter und einer Schmerzsymptomatik, welche die Beklagte mit Bescheid vom 12. Dezember
2012 nicht bindend als Unfallfolgen feststellen konnte. Hierbei handelt es sich um keine Gesundheitsstörungen, die durch Einordnung
in eines der gängigen Diagnosesysteme unter Verwendung der dortigen Schlüssel exakt bezeichnet werden können (vgl. Urteil
des Senats vom 28. Juli 2016 - L 6 U 1013/15 -, juris, Rz. 74). Prof. Dr. Sp. zog in seine Bewertung zwar auch die Läsion des Nervus axillaris rechts mit ein. Dr. Ko.
konnte zuletzt jedoch diese Gesundheitsstörung mit objektiven Methoden nicht mehr nachweisen. Alle Muskeldehnungsreflexe,
auch der Deltoideusreflex, waren normal, was eine intakte, vom Muskel zum Rückenmark laufende afferente Bahn und umgekehrt
efferente voraussetzt, wie er nachvollziehbar anführte. Die Überleitung vom oberen Armplexus zum Musculus deltoideus über
den Nervus axillaris war elektroneurographisch seitengleich intakt, sodass hiermit keine Funktionsstörung mehr verbunden ist,
die eine Arbeitsunfähigkeit zumindest mitbewirken könnte. Damit in Einklang steht, dass Dr. Sh. kurz vor dem streitgegenständlichen
Zeitraum nur noch eine endgradige Bewegungseinschränkung der rechten Schulter feststellte sowie der Facharzt für Neurologie
und Psychiatrie Ho. im Juni 2016 wegen der Axillarisläsion rechts lediglich noch eine geringfügige Beeinträchtigung der Armabduktion,
eine leichten Atrophie des Musculus deltoideus und ein Taubheitsgefühl über dem Deltoid erhob. Damit war es der Klägerin möglich,
trotz der unfallbedingten Funktionsstörungen von Ende Juni 2014 bis Anfang Oktober 2016 ihrer beruflichen Tätigkeit nachzugehen.
Das von Dr. Ko. diagnostizierte Chronisch regionale Schmerzsyndrom (ICD-10-GM-2019 M89.00) steht bereits nach seinen eigenen
Ausführungen nicht im Vollbeweis fest, worauf Dr. H. in seiner beratungsärztlichen Stellungnahme von Juli 2019, welche rechtlich
als qualifiziertes Beklagtenvorbringen zu werten ist (vgl. BSG, Beschluss vom 6. Oktober 2016 - B 5 R 45/16 B -, juris, Rz. 19), im Ergebnis zutreffend hinwies. Bei seiner gutachtlichen Untersuchung der Klägerin im Januar 2019 ließen
sich die klassischen Zeichen dieser Krankheit im Vollbild nicht mehr nachvollziehen. Nach den im sozialgerichtlichen Verfahren
geltenden Grundsätzen der objektiven Feststellungslast trägt sie die Folgen der Nichtfeststellbarkeit von anspruchsbegründenden
Tatsachen (vgl. BSG, Urteil vom 1. Juli 2014 - B 1 KR 29/13 R -, SozR 4-2500 § 12 Nr. 5, Rz. 14 m. w. N.), also insbesondere, wenn sich wegen der erstmals 2016 durchgeführten schmerztherapeutischen
Untersuchung und Behandlung akute klinische Erscheinungen nicht mehr belegen ließen, was Dr. Ko. vermutete.
Damit war die Klägerin wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 11. Oktober 2010 vom 26. Juni 2014 bis 3. Oktober 2016 nicht
arbeitsunfähig, zumal die Tätigkeitsbeschreibung keine schulterbelastenden Arbeiten umfasst, worauf insbesondere Prof. Dr.
Sp. zutreffend hingewiesen hat.
Nach §
45 Abs.
2 Satz 1
SGB VII wird Verletztengeld, das so genannte "Übergangs-Verletztengeld", erbracht, wenn Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben erforderlich
sind (Nr. 1), diese Maßnahmen sich aus Gründen, welche die Versicherten nicht zu vertreten haben, nicht unmittelbar an die
Heilbehandlung anschließen (Nr. 2), die Versicherten ihre bisherige berufliche Tätigkeit nicht wieder aufnehmen können oder
ihnen eine andere zumutbare Tätigkeit nicht vermittelt werden kann oder sie diese aus wichtigem Grund nicht ausüben können
(Nr. 3) und die Voraussetzungen des Absatzes 1 Nr. 2 erfüllt sind (Nr. 4).
Die Klägerin hat auch nach dieser Vorschrift keinen Anspruch auf Verletztengeld für den streitgegenständlichen Zeitraum. Nach
dieser Norm wird er zwar erweitert. Während einer von den Versicherten nicht zu vertretenden Wartezeit auf eine Leistung zur
Teilhabe am Arbeitsleben besteht auch dann Anspruch auf diese Leistung, wenn sie nicht arbeitsunfähig sind. Die Regelung ist
zur Sicherung des Lebensunterhaltes bei Teilhabeleistungen notwendig (vgl. Schur, in: Hauck/Noftz, Kommentar zum
SGB VII, Stand: Januar 2017, §
45 Rz. 16). Die Klägerin hätte im Zeitraum vom 26. Juni 2014 bis 3. Oktober 2016 ihrer Beschäftigung als Bäckereihelferin aufnehmen
können, da insbesondere das Arbeitsverhältnis fortdauerte. Sie war damit nicht gehindert, ihre bisherige berufliche Tätigkeit
wieder auszuüben, weshalb es an der kumulativen Anspruchsvoraussetzung des § 45 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 fehlt.
Nach alledem war die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des §
160 Abs.
2 SGG nicht vorliegen.