Anspruch auf Grundsicherung für Arbeitsuchende, Europarechtskonformität des Leistungsausschlusses für Ausländer
Gründe:
I. Der 1959 geborene Antragsteller besitzt die italienische Staatsangehörigkeit. Ausweislich seines Versicherungsverlaufes
bei der Landesversicherungsanstalt Rheinland-Pfalz hat er in Deutschland seit 1974 insgesamt bereits 62 Monate versicherungspflichtiger
Beschäftigung zurückgelegt. In B war er zuletzt von Mai bis August 2002, von Mai bis August 2003 und seit Mai 2007 gemeldet.
Im Juni 2007 schloss er einen Mietvertrag über die aus dem Rubrum ersichtliche 46 qm große Wohnung zu einem Mietzins von 435
Euro ab. Am 24. Oktober 2007 erhielt er vom Bezirksamt Charlottenburg-Wilmersdorf von Berlin eine Bescheinigung gemäß § 5
Freizügigkeitsgesetz/EU (FreizügG/EU).
Am 8. Februar 2008 beantragte der Antragsteller beim Antragsgegner Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes. Mit Bescheid
vom 6. März 2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. März 2008 lehnte der Antragsgegner den Antrag mit der Begründung
ab, dass der Antragsteller als Ausländer, dessen Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergebe, keine
Leistungen beanspruchen könne.
Auf den am 28. März 2008 gestellten Antrag hat das Sozialgericht Berlin mit Beschluss vom 10. April 2008 den Antragsgegner
verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig - unter Vorbehalt der Rückforderung bei Unterliegen des Antragstellers im Hauptsacheverfahren
- ab dem 28. März 2008 Arbeitslosengeld II (ALG II) bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens zu gewähren. Der Antragsteller erfülle die Voraussetzungen
für einen Leistungsanspruch nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II). Der Leistungsausschluss
in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II sei für ihn als Italiener wirkungslos, da das Europäische Fürsorgeabkommen (EFA) Anwendung
finde, wie bereits das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen entschieden habe.
Hiergegen hat der Antragsgegner am 14. April 2008 Beschwerde eingelegt mit dem sinngemäßen Antrag,
den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 10. April 2008 aufzuheben und den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
abzuweisen.
Der Antragsteller beantragt sinngemäß,
die Beschwerde des Antragsgegners zurückzuweisen.
Er trägt ergänzend vor, dass er im Oktober 2007 einen knappen Monat im Restaurant "L P" in B gearbeitet habe, dort aber nicht
versichert worden sei, worauf er gekündigt habe. Anschließend habe er von Ersparnissen und der Unterstützung seiner Familienangehörigen
gelebt. Sein Bruder und seine Schwester lebten in W bzw. B, weswegen er auch nach B gekommen sei. Er betrachte Deutschland
als seinen ersten Wohnsitz.
Mit Bescheiden vom 28. März und 10. Juni 2008 hat der Antragsgegner dem Antragsteller zwischenzeitlich in Umsetzung des Beschlusses
Leistungen bis zum 31. August 2008 bewilligt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze
nebst Anlagen und auf den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte und auf die Verwaltungsakte des Antragsgegners verwiesen, die
dem Senat vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.
II. Die nach §§
172 Abs.
1 und
173 des Sozialgerichtsgesetzes (
SGG) zulässige Beschwerde des Antragsgegners ist begründet. Das Sozialgericht hat den Antragsgegner zu Unrecht verpflichtet,
vorläufig Leistungen nach dem SGB II zu gewähren.
Gemäß §
86 b Abs.
2 SGG kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf einen Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht,
dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich
erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes zulässig, wenn eine solche
Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Entscheidungserhebliche Angaben sind dabei von den Beteiligten
glaubhaft zu machen (§
86 b Abs.
2 SGG in Verbindung mit §
920 Abs.
2 Zivilprozessordnung).
In Anlegung dieses Maßstabes sind die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht erfüllt. Der Antragsteller
hat keinen Anordnungsanspruch.
Gemäß § 7 SGB II erhalten erwerbsfähige Hilfebedürftige Leistungen nach dem SGB II. Gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II sind
hiervon allerdings Ausländer ausgenommen, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt. Unter diese
Ausnahme fällt auch der Antragsteller.
Der Antragsteller ist italienischer Staatsangehörigkeit und damit Ausländer. Als freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger hat
er gemäß § 2 Abs. 1 Freizügigkeitsgesetz/EU (FreizügG/EU) das Recht auf Aufenthalt in Deutschland, wie auch seine vom Bezirksamt
Charlottenburg-Wilmersdorf ausgestellte Freizügigkeitsbescheinigung nach § 5 FreizügG/EU klarstellt. Die gemeinschaftsrechtliche
Freizügigkeitsberechtigung folgt in seinem Fall indes allein aus § 2 Abs. 2 Nr. 1 2.Var. FreizügigG/EU, also aus dem Umstand,
dass er sich zur Arbeitsuche in Deutschland aufhalten will. Andere Gründe, die ein Aufenthaltsrecht vermitteln könnten, sind
nicht ersichtlich.
Der Antragsteller ist insbesondere nicht Arbeitnehmer im Sinne von § 2 Abs. 2 Nr. 1 1. Var. bzw. Abs. 3 FreizügG/EU.
Er übt in Deutschland keine, auch keine geringfügige Arbeit aus (zum Arbeitnehmerstatus aufgrund geringfügiger Beschäftigung
vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 30. Mai 2008 - L 14 B 282/08 AS). Er hat auch keinen Status als Arbeitnehmer aufgrund früherer Beschäftigungen in Deutschland, denn für das Fortbestehen
des Arbeitnehmerstatus trotz Arbeitslosigkeit ist Voraussetzung eine unfreiwillige, durch die zuständige Agentur für Arbeit
bestätigte Arbeitslosigkeit. Ausweislich des vom Antragsteller vorgelegten Versicherungsverlaufs hat er seine letzte versicherungspflichtige
Tätigkeit in Deutschland im Jahr 2003 ausgeübt. Eine sich anschließende durchgehende und von der Bundesagentur für Arbeit
bestätigte Arbeitslosigkeit ist nicht ersichtlich. Soweit der Antragsteller vorträgt, im Oktober 2007 einen knappen Monat
in einem Berliner Restaurant gearbeitet zu haben, ist - abgesehen davon, dass der Antragsteller dies erstmals im Gerichtsverfahren
vorträgt und es hierfür keinerlei Belege gibt - bereits nicht erkennbar, ob es sich überhaupt um eine versicherungspflichtige
Beschäftigung gehandelt hat. Eine Arbeitslosmeldung erfolgte danach erstmals am 8. Februar 2008 beim Antragsgegner.
Auch der Umstand, dass der Bruder und die Schwester des Antragstellers in Deutschland leben, begründet kein Aufenthaltsrecht.
Gemäß § 3 FreizügG/EU sind freizügigkeitsberechtigte Familienangehörige - unter gewissen weiteren Voraussetzungen - nur Ehegatten
und Verwandte in aufsteigender bzw. absteigender Linie, d. h. insbesondere Eltern und Kinder, nicht indes Geschwister.
Schließlich ist er auch nicht als nicht erwerbstätiger Unionsbürger gemäß § 4 FreizügigG/EU aufenthaltsberechtigt, denn er
verfügt gerade nicht über ausreichende Existenzmittel.
Die Bedenken des Sozialgerichts Berlin hinsichtlich der Anwendbarkeit von § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II werden nicht geteilt.
Der Senat hat im Rahmen der im Eilverfahren erfolgten vorläufigen Prüfung insbesondere keine Zweifel daran, dass die Vorschrift
europarechtskonform ist. Laut der Begründung des Gesetzgebers (BT-Drucks.16/5065, S. 234 zu Nr. 2) sollte mit dieser Vorschrift
die Regelung des Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG des Rates vom 29. April 2004 (ABl. L 158 vom 30. April 2004, S.
77 ff.) umgesetzt werden, wonach abweichend vom grundsätzlichen Gleichbehandlungsgebot aller Unionsbürger (vgl. Art. 24 Abs.
1) ein Aufnahmemitgliedstaat nicht verpflichtet ist, anderen Personen als Arbeitnehmern und Selbständigen sowie Personen,
denen dieser Status erhalten bleibt, und deren Familienangehörigen einen Anspruch auf Sozialhilfe zu gewähren.
Der Auffassung, dass diese Richtlinie im Widerspruch zu vorrangigen europäischen Rechtsvorschriften stehe und die Ausschlussvorschrift
des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II daher einschränkend ausgelegt werden müsse, vermag sich der Senat nicht anzuschließen (insoweit
entgegen LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 30. Mai 2008 - L 14 B 282/08 AS ER - und Beschluss vom 25. April 2007 - L 19 B 116/07 AS ER - ; auch LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 23. Juli 2008 - L 7 AS 3031/08 ER B; Spellbrink in Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl., § 7 Rdnr. 17, 24, 25; Schreiber, info also 2008, 3 ff.)
Es ist bereits zweifelhaft, ob die Frage, wem Leistungen nach dem SGB II zustehen, überhaupt dem Anwendungsbereich des Rechts
der Europäischen Union unterfällt, denn dies setzt eine entsprechende Kompetenzübertragung des deutschen Gesetzgebers voraus
(vgl. zu diesem Problemkreis m. w. N. SG Reutlingen, Urteil vom 29. April 2008 - S 2 AS 2952/07, Rnr. 63-81, zitiert nach juris).
Auch wenn man indes von einer entsprechenden Regelungskompetenz der Europäischen Union ausgeht, steht europäisches Recht der
Anwendung von § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II auf EU-Ausländer nicht entgegen.
Das Diskriminierungsverbot aus Art. 12 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften - EGV - (vormals Art. 6, geändert durch Vertrag von Amsterdam, ABl. C 340 vom 10. November 1997, S. 141) gilt nicht vorbehaltlos. Eine unterschiedliche
Behandlung von Unionsbürgern ist dann zulässig, wenn sie durch objektive Gründe sachlich gerechtfertigt ist (EuGH, Urteil
vom 23. Januar 1997, Rs. C-29/95 - Pastoors u. Trans-Cap GmbH - NZV 1997, 234, 235; EuGH, Urteil vom 2. Oktober 1997, Rs. C-122/96 - Saldanha u. MTS Securities Corporation - NJW 1997, 3299, 3300; auch Hessisches LSG, Beschluss vom 3. April 2008 - L 9 AS 59/08 B ER-, Rnr. 24, zitiert nach juris; SG Reutlingen aaO, Rnr. 87 f.). § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II führt zwar zu einer unterschiedlichen
Behandlung von deutschen Bürgern und Unionsbürgern anderer Mitgliedstaaten. Diese ist indes gerechtfertigt, denn die Vorschrift
verfolgt den - sachlichen und richtlinienkonformen - Zweck, sozialleistungsorientierte Wanderungsbewegungen zu vermeiden (vgl.
Hessisches LSG und SG Reutlingen aaO.).
Art. 18 EGV gewährleistet jedem Unionsbürger zwar grundsätzlich Freizügigkeit, gewährt indes keinen Leistungsanspruch gegen die öffentliche
Hand im Sinne eines Teilhaberechts von Unionsbürgern an sozialen Vergünstigungen des Aufenthaltsstaates (SG Reutlingen aaO.,
Rnr. 83 m. w. N; Hessisches LSG aaO., Rnr. 25 ff.).
Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der Rechtsprechung des EuGH. Insbesondere der Entscheidung des EuGH vom 7. September
2004, C-456/02 - Rs- Trojani - NZA 2005, 757) lässt sich die Notwendigkeit einer einschränkenden Auslegung von § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II nicht entnehmen. Das SGB II war
zum einen gar nicht Gegenstand der EuGH-Entscheidung, ist es doch erst 2005 in Kraft getreten (vgl. zu diesem Gesichtspunkt
auch LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 5. September 2007 - L 29 B 828/07 AS ER - Rnr. 34, zitiert nach juris). Zum anderen lag der Entscheidung ein spezifischer, nicht ohne weiteres übertragbarer
Sachverhalt zugrunde (es ging um einen französischen Staatsbürger, der in einem Heim der Heilsarmee in Belgien gegen Unterkunft
und Taschengeld ca. 30 Stunden pro Woche verschiedene Leistungen erbrachte, vgl. hierzu Hessisches LSG, aaO. Rnr. 27). Schließlich
führt der EuGH in der Entscheidung gerade aus, dass ein Recht zum Aufenthalt im Hoheitsgebiet nicht absolut ist, sondern nur
im Rahmen der im EGV und den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen besteht (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss
vom 5. September 2007 - L 29 B 828/07 AS ER - Rnr. 35, zitiert nach juris).
Schließlich vermag auch das von der ersten Instanz herangezogene Argument, dass sich bereits aus dem Europäischem Fürsorgeabkommen
vom 11. Dezember 1953 (EFA, BGBl. 1956, Teil II, S. 564), dem sich auch Italien angeschlossen hat, die Wirkungslosigkeit des
§ 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ergebe (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 14. Januar 2008 - L 8 SO 88/07 ER), nicht
zu überzeugen. Das EFA findet gemäß seinem Art. 2 nur auf die im Anhang genannten Rechtsvorschriften Anwendung. Von der nach
wie vor gültigen Fassung aus dem Jahr 2000 ist naturgemäß das SGB II gar nicht erfasst, sondern neben Vorschriften des SGB VIII und des Gesetzes zur Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten nur das Bundessozialhilfegesetz (BGBl. 2001, Teil II, S. 1086, 1088). Eine Anpassung an die aktuelle Gesetzeslage ist nicht erfolgt. Daneben hat die Bundesregierung
gemäß Anhang II Nr. 1 zum EFA ausdrücklich folgenden Vorbehalt erklärt: "Da die in Anhang I aufgeführte deutsche Gesetzgebung
die Gewährung von Beihilfen und Darlehen sowie von Ausbildungshilfen vorsieht für Zwecke der Existenzgründung und der Erlangung
der Erwerbs- und Berufsbefähigung, und da diese Hilfe außerhalb des Rahmens der Fürsorge im Sinne dieses Abkommens liegt,
kann die Regierung der Bundesrepublik Deutschland diese besondere Hilfe auch den Staatsangehörigen der übrigen Vertragsschließenden
gewähren, ohne jedoch hierzu verpflichtet zu sein." (BGBl. 1956, Teil II, S. 576). Dieser Vorbehalt verdeutlicht das Anliegen
der Bundesregierung, Verpflichtungen nur eingeschränkt zu übernehmen, und steht damit einer erweiternden, also das SGB II
einbeziehenden Auslegung des Anhangs I des EFA entgegen (so auch SG Reutlingen, aaO. Rnr. 91 f.), insbesondere auch, wenn
man bedenkt, dass das SGB II kein reines Nachfolgegesetz zum BSHG ist, sondern auch wesentliche Vorschriften der Arbeitsförderung enthält, die zuvor im
SGB III enthalten waren.
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung von §
193 SGG.
Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§
177 SGG).