Rechtswidrigkeit einer Beanstandungsverfügung des BMG
Angelegenheit des Vertragsarztrechts
Rechtsnatur des Beanstandungsrechts
Tatbestand
Die Klägerin zu 1., die Kassenärztliche Bundesvereinigung, und der Kläger zu 2., der Spitzenverband Bund der Krankenkassen,
wenden sich als Trägerorganisationen des Bewertungsausschusses für die vertragsärztliche Versorgung nach §
87 SGB V gegen eine im Zuge der Rechtsaufsicht ergangene Beanstandungsverfügung des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG). Das Verfahren betrifft die Empfehlungen des Bewertungsausschusses gemäß §
87a Abs.
5 Satz 1 Nr.
2 SGB V „zur Vereinbarung von Veränderungen der Morbiditätsstruktur“ nach §
87a Abs.
4 Satz 1 Nr.
2 SGB V. Diese Empfehlungen sind der jährlichen Anpassung des Behandlungsbedarfs nach §
87a Abs.
4 SGB V auf der regionalen Ebene zugrunde zu legen (§
87a Abs.
4 Satz 1, 2. Hs.
SGB V).
§
87a Abs.
3 SGB V sieht vor, dass die Kassenärztliche Vereinigung und die Landesverbände der Krankenkassen und die Ersatzkassen jährlich bis
zum 31. Oktober gemeinsam und einheitlich für das Folgejahr die von den Krankenkassen mit befreiender Wirkung an die jeweilige
Kassenärztliche Vereinigung zu zahlenden morbiditätsbedingten Gesamtvergütungen für die gesamte vertragsärztliche Versorgung
der Versicherten mit Wohnort im Bezirk der Kassenärztlichen Vereinigung vereinbaren. Gemäß §
87a Abs.
3 Satz 2
SGB V wird hierzu der mit der Zahl und der Morbiditätsstruktur der Versicherten verbundene Behandlungsbedarf als Punktzahlvolumen
auf der Grundlage des Einheitlichen Bewertungsmaßstabes (EBM) vereinbart und mit dem nach §
87a Abs.
2 Satz 1
SGB V vereinbarten Punktwert bewertet. Der Behandlungsbedarf ist zwischen den Vertragspartnern nicht jährlich neu festzulegen;
gemäß §
87a Abs.
4 Satz 1
SGB V ist vielmehr eine jährliche Anpassung des vereinbarten Behandlungsbedarfs auf Basis des Vorjahreswertes zu vereinbaren. Grundlage
dieser Anpassung sind neben weiteren Kriterien insbesondere auch „Veränderungen der Morbiditätsstruktur der Versicherten aller
Krankenkassen mit Wohnort im Bezirk der jeweiligen Kassenärztlichen Vereinigung“ (§
87a Abs.
1 Satz 1 Nr.
2 SGB V). Bei der Vereinbarung über die Anpassung des Behandlungsbedarfs sind die Empfehlungen und Vorgaben des Bewertungsausschusses
nach §
87a Abs.
5 SGB V zu berücksichtigen (§
87a Abs.
4 Satz 1, 2. Hs.
SGB V).
Gemäß §
87a Abs.
5 Satz 1 Nr.
2 SGB V beschließt der Bewertungsausschuss jährlich bis spätestens zum 31. August u.a. „Empfehlungen zur Vereinbarung von Veränderungen
der Morbiditätsstruktur nach § 87a Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 SGB V“. Darüber hinaus hat das Institut des Bewertungsausschusses gemäß
§
87a Abs.
5 Satz 3
SGB V für jeden KV-Bezirk zwei einheitliche Veränderungsraten zu berechnen, wobei eine Rate auf den Behandlungsdiagnosen gemäß
§ 295 Abs. 1 Satz 2 und die andere Rate auf demographischen Kriterien (Alter und Geschlecht) basiert. Zur Ermittlung der diagnosebezogenen
Rate ist das geltende Modell des Klassifikationsverfahrens („Klassifikationsmodell“) anzuwenden (§
87a Abs.
5 Satz 5
SGB V), das vom Bewertungsausschuss in bestimmten Zeitabständen auf seine weitere Eignung für die Anwendung in der vertragsärztlichen
Versorgung überprüft und fortentwickelt werden kann (§
87a Abs.
5 Satz 6
SGB V). Die vom Institut des Bewertungsausschusses errechneten Veränderungsraten sind den regionalen Vertragspartnern als Teil
der Empfehlungen des Bewertungsausschusses jährlich bis zum 15. September mitzuteilen (§
87a Abs.
5 Satz 2 i.V.m. Satz 8
SGB V). Die jahresbezogene Veränderung der Morbiditätsstruktur wird von den regionalen Vertragspartnern durch eine gewichtete Zusammenfassung
der vom Bewertungsausschuss mitgeteilten diagnosebezogenen und demographischen Raten vereinbart („Schieberegler“).
In Wahrnehmung seiner gesetzlichen (§
87a Abs.
5 Sätze 7 und 8
SGB V) Aufgabe machte der Bewertungsausschuss in seiner 269. Sitzung am 25. Januar 2012 „Vorgaben zur Weiterentwicklung des Klassifikationsmodells“
und kündigte an, bis zum 30. Juni 2018 das zur Ermittlung der diagnosebezogenen Veränderungsraten mit Wirkung für das Jahr
2019 zu verwendende Klassifikationsmodell gemäß §
87a Abs.
5 SGB V einschließlich Hierarchisierung und Komprimierung festzulegen. Die in diesem Beschluss festgelegten Vorgaben zur Weiterentwicklung
des Klassifikationssystems gemäß §
87a Abs.
5 SGB V sahen unter anderem vor, dass das Klassifikationssystem „resistent“ sein solle „gegenüber möglichen Anreizwirkungen zur Manipulation
der Dokumentationsgrundlagen“ (Teil A Nr. 1 b) ff) des Beschlusses). Weiter wurde gefordert, dass „das Klassifikationssystem
und die damit ermittelten diagnosebezogenen Veränderungsraten (…) robust sein (sollen) gegenüber Ausreißerwerten und verbliebenen
Mängeln in den zugrundeliegenden Daten“ (Teil A Nr. 1 b) ee) des Beschlusses). In den „entscheidungserheblichen Gründen“ heißt
es hierzu unter Ziffer 2.3.2. u.a.: „Weiterhin wird festgelegt, dass das Klassifikationssystem den statistischen Kriterien
der Reliabilitat, der Validität, der Signifikanz, der Stabilität und der Schätzgenauigkeit genügen und insbesondere robust
gegenüber Ausreißerwerten und verbliebenen Mängeln in den zugrunde liegenden Daten sein muss. Zuletzt soll die Klassifikation
so ausgestaltet werden, dass vorsätzlich unrichtige Kodierungen das Ergebnis der Veränderungsrate nicht beeinflussen können.
Dies kann entweder durch den Ausschluss von nicht plausiblen Diagnosen oder durch einen Zuschnitt der Diagnosegruppen bzw.
Risikokategorien erfolgen, der weitestgehend gewährleistet, dass sich eine bestimmte unrichtige Kodierung nicht auf die Veränderungsraten
auswirkt.“
Der Hintergrund dieser Vorgaben zur Weiterentwicklung des Klassifikationsmodells bestand darin, dass es nach der gesetzlichen
Regelung in §
87a Abs.
5 Satz 2
SGB V nur tatsächliche Veränderungen der Morbiditätsstruktur der Versicherten gemäß §
87a Abs.
4 Satz 1 Nr.
2 SGB V abbilden soll, nicht dagegen Veränderungen, die sich z.B. – was insbesondere der Kläger zu 2. betont – aus einem geänderten
Kodierverhalten der Vertragsärzteschaft oder durch willkürliches, „strategisches Kodieren“ ergeben. Wesentlicher Bestandteil
der Höhe der diagnosebedingten Veränderungsrate sind die Prävalenzänderungen der beteiligten Risikokategorien, die wiederum
zum wesentlichen Teil auf den Prävalenzänderungen der zugrunde liegenden Diagnosen beruhen. Die Prävalenz ist eine Kennzahl
für die Krankheitshäufigkeit. Sie sagt aus, welcher Anteil der Menschen einer bestimmten Gruppe definierter Größe zu einem
bestimmten Zeitpunkt an einer bestimmten Krankheit erkrankt ist. Im Rahmen des Klassifikationsmodells wird die Prävalenz durch
die von den Vertragsärzten kodierten Diagnosen beeinflusst. Wird eine bestimmte Diagnose häufiger kodiert, nimmt die Prävalenz
der mit dieser Diagnose verbundenen Erkrankung zu. Ein Anzeichen für Veränderungen, die nicht auf die Morbiditätsstruktur
der Versicherten zurückzuführen sind, sondern auf Kodiereffekten beruhen, sind außergewöhnliche Prävalenzänderungen. Von einer
außergewöhnlichen Prävalenzänderung ist auszugehen, wenn der außergewöhnliche Anstieg der Kodierung bestimmter Diagnosen medizinisch
nicht erklärbar ist. Außergewöhnliche Prävalenzänderungen, die keine Morbiditätsstrukturveränderung repräsentieren, sollen
nach dem Willen des Bewertungsausschusses die diagnosebezogene Veränderungsrate nicht beeinflussen, zumal außergewöhnliche
Prävalenzänderungen ihrer Zahl und Höhe nach KV-spezifisch zum Teil stark unterschiedlich ausfallen und damit - ohne Korrektur
- die Berechnung zu den diagnosebezogenen Veränderungsraten in den Kassenärztlichen Vereinigungen unterschiedlich verzerren
können.
Über die in der 269. Sitzung des Bewertungsausschusses am 25. Januar 2012 vorgesehene Weiterentwicklung des Klassifikationsmodells
gemäß §
87a Abs.
5 SGB V für das Jahr 2019 wurde in der 423. Sitzung des Bewertungsausschusses beraten. Nachdem eine Einigung nicht möglich war, wurde
der Erweiterte Bewertungsausschuss angerufen. In der 56. Sitzung des Erweiterten Bewertungsausschusses am 21. August 2018
wurde ein einvernehmlicher „Beschluss über das zur Ermittlung der diagnosebezogenen bzw. demografischen Veränderungsraten
für das Jahr 2019 zu verwendende Klassifikationsmodell gemäß §
87a Abs.
5 SGB V sowie zu Untersuchungsaufträgen an das Institut des Bewertungsausschusses zur Vorbereitung der Beschlussfassung des Bewertungsausschusses
über das zur Ermittlung der diagnosebezogenen bzw. demografischen Veränderungsraten für das Jahr 2020 zu verwendende Klassifikationsmodell“
gefasst.
Dieser Beschluss sieht neben anderen Festlegungen und Änderungen am Klassifikationsmodell auch ein Korrekturverfahren zum
Umgang mit außergewöhnlichen Prävalenzänderungen der ICD-10-verschlüsselten Behandlungsdiagnosen vor. Das in Nr. 4.4 in Teil
A des Beschlusses geregelte Verfahren bewirkt eine Anpassung der Einzelbeträge zur diagnosebezogenen Veränderungsrate jener
diagnosebezogenen Risikoklassen, bei denen die darin übergeleiteten ICD-10-Codes eine relative Prävalenzänderung zwischen
den Jahren 2015 und 2016 von mehr als 35% aufweisen und der ICD-10-Code gleichzeitig in beiden Jahren bei mindestens 0,325%
aller Versicherten eines KV-Bezirks vorliegt. Hintergrund dieser Regelungen sind vom Bewertungsausschuss beobachtete außergewöhnliche
Prävalenzänderungen, die sich nicht auf Veränderungen der Morbidität der Versicherten zurückführen lassen, sondern auf Änderungen
im Kodierverhalten der Vertragsärzteschaft beruhen.
Das in Ziffer 4.4 des Beschlusses vorgesehene Korrekturverfahren bewirkt in Umsetzung der Festlegungen im Beschluss der 269.
Sitzung, dass außergewöhnlichen Prävalenzänderungen jedenfalls nicht im vollem Umfang mit in die diagnosebezogene Veränderungsrate
einfließen können. Durch dieses Verfahren soll erreicht werden, dass die außergewöhnlichen Prävalenzänderungen, die in der
Zahl und der Höhe KV-spezifisch zum Teil stark unterschiedlich ausfallen, gezielt KV-spezifisch berücksichtigt werden können.
Auf der Grundlage dieses Beschlusses vom 21. August 2018 zur Festlegung des für das Jahr 2019 zu verwendenden Klassifikationssystems
wurden die Veränderungsraten gemäß §
87a Abs.
5 Satz 2 bis
5 SGB V durch das Institut des Bewertungsausschusses für die einzelnen KV-Bezirke ermittelt. Durch einen Beschluss des Bewertungsausschusses
„zu Empfehlungen zur Vereinbarung von Veränderungen der Morbiditätsstruktur nach § 87a Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 SGB V“ vom 18.
September 2018 wurden die sich danach ergebenden und empfohlenen Veränderungsraten nach den Berechnungen des Instituts des
Bewertungsausschusses mitgeteilt.
Mit Bescheid vom 19. Oktober 2018 beanstandete das Bundesministerium für Gesundheit (1.) Teil A des Beschlusses des Erweiterten
Bewertungsausschusses vom 21. August 2018 sowie (2.) den Beschluss des Bewertungsausschusses vom 18. September 2018. Die Regelungen
im Klassifikationsmodell zum Umgang mit außergewöhnlichen Prävalenzänderungen seien nicht gesetzeskonform. Im Umfange der
Beanstandung seien die beiden in Zusammenhang stehenden Beschlüsse mit dem geltenden Recht nicht vereinbar und daher rechtswidrig.
Eine Teilbeanstandung könne nicht erfolgen, weil eine Abtrennung der beanstandeten Beschlussteile von den jeweiligen Beschlüssen
nicht möglich sei.
Der Beschluss vom 21. August 2018, Teil A, über das zur Ermittlung der diagnosebezogenen bzw. demografischen Veränderungsraten
für das Jahr 2019 zu verwendende Klassifikationsmodell sei aus folgenden Gründen rechtswidrig:
„Im Zuge der Regionalisierung wurden mit dem GKV-Versorgungsstrukturgesetz die Kompetenzen des Bewertungsausschusses beschränkt.
Gemäß §
87a Absatz
5 Satz 1 Nr.
2 SGB V hat er nur noch Empfehlungen zur Vereinbarung von Veränderungen der Morbiditätsstruktur zu beschließen. Dementsprechend hat
er den Gesamtvertragspartnern auf regionaler Ebene die diagnosebezogene und die demografiebezogene Veränderungsrate mitzuteilen.
Die Raten werden dann von den Gesamtvertragspartnern - ggf. unter Berücksichtigung der Empfehlungen nach §
87a Absatz
5 Satz 7
SGB V - gewichtet zusammengefasst (§
87a Absatz
4 Satz 3
SGB V). Hintergrund dieser Regelungen war auch die Abschaffung der ambulanten Kodierrichtlinien. In den regionalen Verhandlungen
zur Gewichtung der Raten können - wie sich aus der Gesetzesbegründung ergibt - in der Folge Aspekte einer qualitätsgesicherten
Kodierung von Diagnosen (wie auch rein statistische Effekte, z.B. von Up- oder Right-Coding, denen keine zusätzliche Morbiditätsveränderung
gegenübersteht) angemessen berücksichtigt werden. Die regionalen Vertragspartner sind in der Verantwortung, die Anwendung
der Behandlungsdiagnosen auf die Veränderungsrate der Morbidität sachgemäß umzusetzen. Eine rechtliche Grundlage für den (Erweiterten)
Bewertungsausschuss, bereits auf Bundesebene eine entsprechende (Vor)Berücksichtigung dieser Aspekte durch eine Anpassung
der diagnosebezogenen Veränderungsraten durch die im Kapitel 4.4.4 und darauf aufbauend im Kapitel 4.4.5 des Beschlusses enthaltenen
Regelungen vorzunehmen, besteht nicht.
Der Erweiterte Bewertungsausschuss kann seinen Beschluss zu 1. Teil A auch nicht auf die von ihm angeführte Rechtsgrundlage
des §
87a Absatz
5 Satz 6
SGB V stützen. Diese Vorschrift, die den Bewertungsausschuss ermächtigt, das Klassifikationsmodell in bestimmten Zeitabständen
auf seine weitere Eignung für die Anwendung in der vertragsärztlichen Versorgung zu überprüfen und fortzuentwickeln, legitimiert
nicht zu der im Beschluss zu 1. Teil A getroffenen Anpassung auf Bundesebene. Mit der in Absatz 5 Satz 6 angesprochenen Fortentwicklung
wollte der Gesetzgeber ausweislich der Gesetzesbegründung eine Überprüfung des Modells wie zum Beispiel hinsichtlich der Zahl
der Risikoklassen im Modell oder im Hinblick auf den Umfang der Berücksichtigung des ICD-10-GM ermöglichen. Er wollte aber
den Bewertungsausschuss nicht zur Übernahme von Aufgaben ermächtigen, die gesetzlich den regionalen Gesamtvertragspartnern
zugewiesen sind. Daher ist der Beschluss zu l. Teil A zum Klassifikationsmodell zu beanstanden.“
Zur Beanstandung des Beschlusses zu 2. lautet die Begründung:
„In der Folge ist auch der Beschluss zu 2., mit dem der Bewertungsausschuss seine konkreten Empfehlungen zur Vereinbarung
von Veränderungen der Morbiditätsstruktur für das Jahr 2019 vereinbart hat, rechtswidrig. Denn bei den Berechnungen der auf
Grundlage der vertragsärztlichen Behandlungsdiagnosen empfohlenen Veränderungsraten wurde das rechtswidrige Klassifikationsmodell,
das in nicht zulässiger Weise Anpassungen auf Bundesebene enthält (s. Ausführungen zum Beschluss zu 1. Teil A) angewendet.
Daher ist auch dieser Beschluss insgesamt zu beanstanden.
Sofern in anderen Beschlüssen auf die beanstandeten Beschlüsse verwiesen wird (z.B. im Beschluss des Bewertungsausschusses
vom 18. September 2018 zur Festlegung der technischen Einzelheiten der Bestimmung des Umfangs des nicht vorhersehbaren Anstiegs
des morbiditätsbedingten Behandlungsbedarfes für das Jahr 2016 usw.) ist zu prüfen, inwieweit Anpassungsbedarf in diesen Beschlüssen
entsteht und entsprechende Änderungen vorzunehmen sind.“
Gegen diese Beanstandungsverfügung richtet sich die am 13. November 2018 erhobene Klage.
Weil die Klage keine aufschiebende Wirkung entfaltet, hat der Bewertungsausschuss in seiner 430. Sitzung am 12. Dezember 2018
einen neuen „Beschluss über das zur Ermittlung der diagnosebezogenen bzw. demografischen Veränderungsraten für das Jahr 2019
zu verwendende Klassifikationsmodell gemäß § 87a Abs. 5 SGB V“ gefasst. Dieser Beschluss unterscheidet sich von dem (beanstandeten)
Beschluss des Erweiterten Bewertungsausschusses vom 21. August 2018 dadurch, dass keine Anpassungen aufgrund von außergewöhnlichen
Prävalenzänderungen vorgenommen werden. Daneben hat der Bewertungsausschuss am 12. Dezember 2018 einen neuen Beschluss „zu
Empfehlungen zur Vereinbarung von Veränderungen der Morbiditätsstruktur nach §
87a Abs.
4 Satz 1 Nr.
2 SGB V gemäß §
87a Abs.
5 Satz 1 Nr.
2 SGB V für das Jahr 2019“ gefasst und so der angefochtenen Beanstandungsverfügung Rechnung getragen. Gegenüber dem Beschluss des
Bewertungsausschusses vom 18. September 2018 weist dieser Beschluss vom 12. Dezember 2018 folgende empfohlenen „Veränderungsraten
auf der Grundlage der vertragsärztlichen Behandlungsdiagnosen nach § 87a Abs. 5 Satz 3 SGB V“ auf:
KV
|
Beschluss vom 18. September 2018, Veränderungsrate in Prozent
|
Beschluss vom 12. Dezember 2018, Veränderungsrate in Prozent
|
Differenz
|
Schl.-Holstein
|
0,8683
|
0,8702
|
0,0019
|
Hamburg
|
-0,1875
|
-0,1951
|
0,0076
|
Bremen
|
0,9906
|
1,0215
|
0,0309
|
Niedersachsen
|
0,9721
|
0,9785
|
0,0064
|
Westf.-Lippe
|
1,1044
|
1,1271
|
0,0227
|
Nordrhein
|
0,7628
|
0,7650
|
0,0022
|
Hessen
|
0,7153
|
0,7196
|
0,0043
|
Rh.-Pfalz
|
0,8735
|
0,9147
|
0,0412
|
Baden-Württ.
|
0,1599
|
0,1599
|
0,0
|
Bayern
|
-0,0134
|
-0,0137
|
0,0003
|
Berlin
|
0,3821
|
0,3842
|
0,0021
|
Saarland
|
0,0633
|
0,0654
|
0,0021
|
Meck.-Pomm.
|
0,8914
|
0,9231
|
0,0317
|
Brandenburg
|
0,5865
|
0,5859
|
0,0006
|
Sachsen-Anhalt
|
0,7601
|
0,7601
|
0,0
|
Thüringen
|
1,1199
|
1,1199
|
0,0
|
Sachsen
|
0,8830
|
0,8839
|
0,0009
|
Im Durchschnitt der 17 Kassenärztlichen Vereinigungen beträgt die Differenz in der empfohlenen Veränderungsrate von dem Beschluss
vom 18. September 2018 zu dem Beschluss vom 12. Dezember 2018 0,0091. Nach einer Mitteilung des Klägers zu 2. vom 3. September
2021 zieht dies für das Jahr 2019 finanzielle Auswirkungen in Höhe von insgesamt 855.370,00 Euro nach sich; auf Bl. 303 der
Gerichtsakte wird Bezug genommen.
Klägerin und Kläger haben übereinstimmend erklärt, dass es selbst bei einem Erfolg der Klage bei den beiden Beschlüssen des
Bewertungsausschusses vom 12. Dezember 2018 zur Umsetzung der Beanstandungsverfügung für das Jahr 2019 bleibe, dass insoweit
Erledigung eingetreten sei und nur noch eine Feststellung der Rechtswidrigkeit der Beanstandungsverfügung begeht werde. Weil
die aufgeworfene Rechtsfrage zur Kompetenz des Bewertungsausschusses Auswirkungen für die Zukunft (jedenfalls bis 2022) entfalte,
bestehe ein entsprechendes Feststellungsinteresse.
Zur Begründung ihrer Klage führen sie an:
Die Klägerin zu 1. meint, die beanstandeten Beschlüsse bewegten sich im Rahmen des unbeanstandet gebliebenen Beschlusses des
Bewertungsausschusses in seiner 269. Sitzung am 25. Januar 2012. Eine relevante außergewöhnliche Prävalenzänderung werde nur
in eng definierten Grenzen angenommen. Damit werde nicht in die Kompetenz für eine gewichtete Zusammenfassung der diagnosebezogenen
und der demographischen Veränderungsrate durch die Gesamtvertragspartner eingegriffen. Denn für den Regelfall bleibe es weiterhin
bei der gebotenen hälftigen Gewichtung der diagnosebezogenen und der demographischen Veränderungsrate (Hinweis auf B 6 KA 6/14 R). Die von der Beklagten vorgenommene Beanstandung verletze den Grundsatz der maßvollen Rechtsaufsicht. Die beanstandeten
Beschlüsse bewegten sich im Rahmen des rechtlich noch Vertretbaren (Hinweis auf B 6 KA 59/17 R). Nach §
87a Abs.
5 Satz 6
SGB V könne und müsse der Bewertungsausschuss das Klassifikationsmodell in bestimmten Zeitabständen auf seine weitere Eignung für
die Anwendung in der vertragsärztlichen Versorgung überprüfen und fortentwickeln; dieses Fortentwicklungsrecht bestehe uneingeschränkt.
Das Klassifikationssystem diene dazu, aus den ärztlich kodierten Diagnosen eine Morbiditätsstrukturveränderung zu ermitteln.
Aspekte einer qualitätsgesicherten Kodierung würden dabei seit jeher unbeanstandet berücksichtigt. So bestimme das Regelwerk
etwa, dass einzelne kodierte Diagnosen von anderen im Wege der Hierarchie verdrängt würden, weil bestimmten Diagnosen keine
eigenständige Aussagekraft im Hinblick auf eine Morbiditätsstrukturveränderung zukomme und sie daher keine Berücksichtigung
in der diagnosebezogenen Veränderungsrate fänden. Die nun beanstandete Nichtberücksichtigung von Diagnosen aufgrund einer
außergewöhnlichen Prävalenzänderung entspreche diesem Ansatz und sei nichts Neues. Daher sei nicht nachvollziehbar, warum
die Beklagte meine, nur die Gesamtvertragspartner dürften kodierte Diagnosen im Hinblick auf ihre Aussagekraft bewerten; dafür
gäben weder Gesetz noch Rechtsprechung etwas her. Rechtswidrig sei der Beanstandungsbescheid schließlich auch wegen Ermessensausfalls.
Ob überhaupt das gesetzlich vorgesehene pflichtgemäße Ermessen ausgeübt worden sei, werde nicht erkennbar. Im Gegenteil lese
sich der Bescheid so, als habe die Beklagte eine gebundene Entscheidung treffen wollen. Im Falle eines vollständigen Ermessensausfalls
könne die Ermessensausübung auch nicht im Klageverfahren nachgeholt werden.
Auch der Kläger zu 2. verteidigt die beanstandeten Beschlüsse. Die Beklagte verkenne die Grenzen der Rechtsaufsicht nach §
87 Abs.
6 SGB V und mische sich rechtswidrig in die Aufgabenwahrnehmung des Bewertungsausschusses ein. Dessen Handeln bewege sich noch im
Rahmen des rechtlich Vertretbaren. Als untergesetzlicher Normgeber genieße der Bewertungsausschuss einen weiten Gestaltungsspielraum,
den die Beklagte respektieren müsse (Hinweis auf B 6 KA 33/01 R). Das festgelegte Verfahren zur Korrektur auffälliger Prävalenzänderungen sei von der Regelungskompetenz des Bewertungsausschusses
nach §
87a Abs.
5 Satz 6
SGB V umfasst, und zwar auch ohne einen ausdrücklichen gesetzlichen Auftrag, wie ihn für die Zukunft (ab 2023) §
87a Abs.
5 Satz 11
SGB V vorsehe. Aus der Begründung zum GKV-Versorgungsstrukturgesetz (Hinweis auf BT-Drs. 17/6906, S. 64) ergebe sich nicht anderes.
Das streitige Korrekturverfahren zur Berücksichtigung auffälliger Prävalenzänderungen diene als Fortentwicklung gerade dazu,
die weitere Eignung des Klassifikationsmodells zu sichern. Im unbeanstandeten Beschluss vom 25. Januar 2012 habe der Bewertungsausschuss
gerade die Absicht formuliert, dass das Klassifikationsmodell gegenüber Anreizen zur Manipulation der Dokumentationsgrundlagen
resistent sein solle. Dem Gesetz sei nicht zu entnehmen, dass – wie von der Beklagten behauptet – ausschließlich die regionale
Ebene berechtigt sei, Kodierauffälligkeiten zu berücksichtigen. Zwar lasse der in §
87a Abs.
4 Satz 3
SGB V vorgesehene „Schieberegler“ in Gestalt der Berücksichtigung von Behandlungsdiagnosen einerseits und demographischen Kriterien
andererseits die Berücksichtigung von Kodiereffekten durch die regionalen Vertragspartner grundsätzlich zu; es sei aber nicht
ersichtlich, dass insoweit durch das Gesetz eine ausschließliche Kompetenz der regionalen Vertragspartner begründet worden
sei. Nur der Bewertungsausschuss sei in der Lage, die aktuelle Version des beschlossenen Klassifikationsmodells zu handhaben.
Wenn es bei einzelnen Diagnosen zu medizinisch nicht erklärbaren Auffälligkeiten komme, könne eine gezielte Korrektur nur
durch den Bewertungsausschuss auf Bundesebene in Gestalt einer Fortentwicklung des Klassifikationsmodells erfolgen. Der Bewertungsausschuss
wäre gezwungen, falsche Veränderungsraten zu übermitteln, wenn er eine als sachgerecht empfundene Korrektur der diagnosebedingten
Veränderungsrate nicht mitteilen dürfe. Grundsätzlich sei auch nur der Bewertungsausschuss dazu in der Lage, außergewöhnliche
Prävalenzänderungen verlässlich zu erkennen, weil der einzelnen Kassenärztlichen Vereinigung nur die eigenen Abrechnungsdaten
vorlägen. Das zeige etwa das Beispiel des Rückgangs der Prävalenz der Diagnose Hyperprolaktinämie in den Jahren 2012 und 2013
in mehreren KV-Bezirken, deren Ursache in einer Kodierveränderung eines Großlabors in Hessen bestanden habe. Zudem habe der
Bewertungsausschuss seine Korrekturen durch die Wahl eines Schwellenwerts für die Prävalenzänderung von 35 Prozent bewusst
auf herausgehobene Auffälligkeiten beschränkt. Die Berücksichtigung von Auffälligkeiten unterhalb dieses Schwellenwerts obliege
den regionalen Gesamtvertragspartnern im Rahmen des „Schiebereglers“; dieser eigne sich vor allem zur Berücksichtigung der
generellen Kodierqualität, nicht jedoch dazu, den Einfluss einzelner Diagnosen mit medizinisch nicht erklärbaren Auffälligkeiten
in der diagnosebezogenen Veränderungsrate zu berücksichtigen. Im Gesamtbild greife der beanstandete Beschluss nicht in die
Kompetenz der regionalen Vertragspartner ein. Gesetzgeberisch gewollt sei einerseits die Fortentwicklungskompetenz des Bewertungsausschusses
in Bezug auf das Klassifikationsmodells und andererseits – zugleich – die Handhabung des „Schiebereglers“ auf regionaler Ebene.
Beide Kompetenzen schlössen einander nicht aus. Zudem sei in den entscheidungserheblichen Gründen ausdrücklich klargestellt,
dass für den Regelfall weiter von einer hälftigen Gewichtung der diagnosebezogenen und er demographischen Veränderungsrate
ausgegangen werden könne.
Die Klägerinnen beantragen,
festzustellen, dass der Bescheid des Bundesministeriums für Gesundheit vom 19. Oktober 2018 rechtswidrig war.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zu Recht habe man die Beschlüsse vom 21. August 2018 und vom 18. September 2018 beanstandet, denn sie seien rechtswidrig.
Der Bewertungsausschuss sei in Ermangelung einer geeigneten Rechtsgrundlage nicht befugt, eine rechnerische Korrektur der
diagnosebezogenen Veränderungsraten vorzunehmen, um außergewöhnliche Prävalenzänderungen zu berücksichtigen. Vielmehr seien
im Zuge der Regionalisierung mit dem GKV-Versorgungsstrukturgesetz die regionalen Gesamtvertragspartner in der Verantwortung,
die Anwendung der Behandlungsdiagnosen auf die Veränderungsrate der Morbidität sachgemäß umzusetzen. §
87a Abs.
5 Satz 6
SGB V stelle keine ausreichende Rechtsgrundlage für die beanstandeten Beschlüsse dar. Die Fortentwicklungsmöglichkeiten des Bewertungsausschusses
endeten bei Maßnahmen, die der Gesetzgeber den Gesamtvertragspartnern überantwortet habe. Erst mit §
87a Abs.
5 Sätze 11 und 12
SGB V, eingeführt durch das Terminservice- und Versorgungsgesetz mit Wirkung vom 11. Mai 2019, sehe der gesetzliche Auftrag an
den Bewertungsausschuss vor, im Zuge der Wiedereinführung von verbindlichen ambulanten Kodiervorgaben mögliche Kodiereffekte
auf Bundesebene in den Berechnungen zu bereinigen. Soweit ein Wissensvorsprung des Bewertungsausschusses gegenüber den regionalen
Gesamtvertragspartnern behauptet werde, könne dem entgegengewirkt werden, indem der Bewertungsausschuss auf aus seiner Sicht
bestehende außergewöhnliche Prävalenzänderungen hinweise und entsprechende Empfehlungen gebe, wie es bereits im Jahre 2017
für das Jahr 2018 erfolgt sei; eine differenzierende Berücksichtigung könne dann auf Landesebene erfolgen. Unabhängig davon
verfügten die Gesamtvertragspartner über spezifische Kenntnisse, um die Auswirkungen von Prävalenzänderungen auf die Morbiditätsstruktur
einschätzen zu können. Die mit der Korrektur auf Bundesebene eingetretene Verzerrung erschwere es den Gesamtvertragspartnern
zudem, eigenständig angemessen zu reagieren. Ermessensfehler schließlich weise die Beanstandungsverfügung nicht auf. Man sei
sich sehr wohl darüber im Klaren gewesen, dass aufgrund des im Aufsichtsrecht geltenden Opportunitätsgrundsatzes trotz rechtswidrigen
Handelns prinzipiell auch die Möglichkeit bestehe, nicht aufsichtsrechtlich tätig zu werden. Das BMG habe sich aber aus guten Gründen bewusst für den Weg der Beanstandung entschieden. Kriterien der Ermessensausübung seien
die Schwere des objektiven Verstoßes gegen die Rechtsordnung, die Bedeutung der verletzten Norm, der Umfang des finanziellen
Schadens und die Auswirkungen dieser Maßnahmen. Vorliegend sei der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung in erheblichem
Maße verletzt. Es sei geboten gewesen, den in den Beschlüssen eingeschlagenen Weg so früh wie möglich zu unterbinden. Im Hinblick
auf die finanziellen und grundrechtsrelevanten Folgen habe sich das Ermessen auf Null reduziert, so dass eine Beanstandung
rechtlich geboten gewesen sei.
Wegen des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird im Übrigen auf den Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs
der Beklagten Bezug genommen, der, soweit wesentlich, Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Entscheidungsfindung war.
Entscheidungsgründe
Die Aufsichtsklage ist zulässig und begründet.
A. Das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg ist erstinstanzlich zuständig nach §
29 Abs.
4 Nr.
2 Sozialgerichtsgesetz (
SGG), weil es sich um eine Klage in einer Aufsichtsangelegenheit gegenüber dem Bewertungsausschuss nach §
87 Abs.
6 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB V) handelt.
Der Senat behandelt die Streitsache als eine Angelegenheit des Vertragsarztrechts im Sinne der §§
10 Abs.
2 Satz 1,
31 Abs.
2 SGG, denn streitgegenständlich ist die Kompetenz des Bewertungsausschusses für die vertragsärztliche Versorgung nach §
87 SGB V in Bezug auf Berechnungselemente für die Festlegung des Behandlungsbedarfs, der nach §
87a Abs.
3 Satz 2
SGB V die morbiditätsbedingte Gesamtvergütung beeinflusst. Weil es sich um eine Angelegenheit des Vertragsarztrechts (und nicht
der Vertragsärzte) handelt, waren zur Mitwirkung ein ehrenamtlicher Richter aus den Kreisen der Vertragsärzte und einer aus
den Kreisen der Krankenkassen berufen, §
33 Abs.
1 Satz 2 i.V.m. §
12 Abs.
3 Satz 1
SGG.
B. Die Klage ist als Aufsichtsklage nach §
54 Abs.
3 SGG in Form der Fortsetzungsfeststellungsklage (§
131 Abs.
1 Satz 3
SGG) statthaft.
Nach §
54 Abs.
3 SGG kann eine Körperschaft oder eine Anstalt des öffentlichen Rechts mit der Klage die Aufhebung einer Anordnung der Aufsichtsbehörde
begehren, wenn sie behauptet, dass die Anordnung das Aufsichtsrecht überschreite. Streitgegenständlich ist eine Aufsichtsverfügung
der Beklagten nach §
87 Abs.
6 SGB V. Die Klägerin zu 1. ist die Kassenärztliche Bundesvereinigung gemäß §
77 Abs.
4 SGB V, der Kläger zu 2. ist der Spitzenverband Bund der Krankenkassen gemäß §
217a SGB V. Gemäß §
87 Abs.
1 i.V.m. Abs.
3 SGB V bilden sie gemeinsam den Bewertungsausschuss für die vertragsärztliche Versorgung. Beschlüsse des Bewertungsausschusses sind
gemäß §
87 Abs.
6 Satz 1
SGB V dem Bundesministerium für Gesundheit (BMG) vorzulegen. Das BMG kann die Beschlüsse innerhalb von zwei Monaten beanstanden (§
87 Abs.
6 Satz 2
SGB V).
Die Beanstandungsverfügung vom 19. Oktober 2018 hat sich indessen erledigt, denn von ihr geht keine unmittelbare Beschwer
mehr aus. Mit seinen Beschlüssen vom 12. Dezember 2018 hat der Bewertungsausschuss der Beanstandung Folge geleistet und seine
Beschlüsse vom 21. August 2018 sowie 18. September 2018 im Sinne der Rechtsauffassung des BMG korrigiert. Klägerin und Kläger haben übereinstimmend erklärt, dies selbst im Falle eines Erfolgs der Klage nicht rückabwickeln
zu wollen, so dass es für das Jahr 2019 abschließend bei den Beschlüssen vom 12. Dezember 2018 zur Ermittlung der diagnosebezogenen
Veränderungsrate bleibt. Weil die aufgeworfene Rechtsfrage zur Kompetenz des Bewertungsausschusses sich aber auch zukunftsgerichtet
bis ins Jahr 2022 hinein weiter stellen wird, haben die Kläger ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit
der Beanstandungsverfügung vom 19. Oktober 2018.
Die Aufsichtsklage ist auch im Übrigen zulässig. Mit der Behauptung, dass die streitgegenständliche Aufsichtsverfügung der
Beklagten vom 19. Oktober 2018 das Aufsichtsrecht überschreite, sind die Kläger als Trägerorganisationen des Bewertungsausschusses
klagebefugt. Der Bewertungsausschuss ist - ungeachtet seiner Verselbständigung - ein Vertragsorgan, durch das die Partner
der Bundesmantelverträge den EBM vereinbaren; sein Handeln wird den Partnern der Bundesmantelverträge als eigenes zugerechnet
(vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 9. Dezember 2004, B 6 KA 44/03 R, zitiert nach juris, dort Rdnr. 78).
Ein Widerspruchsverfahren war nicht durchzuführen, §
78 Abs.
1 Satz 2 Nr.
2 SGG, da ein Verwaltungsakt einer obersten Bundesbehörde angefochten ist. Die Klagefrist nach §
87 Abs.
1 Satz 1
SGG ist gewahrt. Die Streitgenossenschaft auf Klägerseite ist zulässig nach §
202 Satz 1
SGG i.V.m. §
59 der
Zivilprozessordnung (
ZPO).
C. Die Klage ist auch begründet. Der streitige Beanstandungsbescheid war rechtswidrig und verletzte die Kläger in ihren Rechten
als Selbstverwaltungsorgane.
I. Der Bescheid war formell rechtmäßig. Insbesondere war das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) zuständig, den streitgegenständlichen Beanstandungsbescheid zu erlassen, §
87 Abs.
6 Satz 2
SGB V. Die zweimonatige Beanstandungsfrist, die sich auch aus §
87 Abs.
6 Satz 2
SGB V ergibt, ist mit der am 19. Oktober 2018 erfolgten und durch Telefax am selben Tag bekannt gegebenen Beanstandung gewahrt.
II. Der Beanstandungsbescheid der Beklagten war zur Überzeugung des Senats allerdings materiell rechtswidrig, denn die Beklagte
hat das ihr gegenüber den klagenden Trägern des Bewertungsausschusses zukommende Aufsichtsrecht verletzt.
1. Rechtsgrundlage für die angefochtene Beanstandungsverfügung ist §
87 Abs.
6 Satz 1 bis
4 SGB V i.d.F. des GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes vom 26. März 2007. Danach kann das BMG an den Sitzungen der Bewertungsausschüsse teilnehmen; ihm sind die Beschlüsse der Bewertungsausschüsse zusammen mit den Beschlüssen
zugrunde liegenden Beratungsunterlagen und den für die Beschlüsse jeweils entscheidungserheblichen Gründen vorzulegen. Das
BMG kann die Beschlüsse innerhalb von zwei Monaten beanstanden; es kann im Rahmen der Prüfung eines Beschlusses vom Bewertungsausschuss
zusätzliche Informationen und ergänzende Stellungnahmen dazu anfordern; bis zum Eingang der Auskünfte ist der Lauf der Frist
unterbrochen. Die Nichtbeanstandung eines Beschlusses kann vom BMG mit Auflagen verbunden werden; das BMG kann zur Erfüllung einer Auflage eine angemessene Frist setzen. Kommen Beschlüsse der Bewertungsausschüsse ganz oder teilweise
nicht oder nicht innerhalb einer vom BMG gesetzten Frist zustande oder werden die Beanstandungen des BMG nicht innerhalb einer von ihm gesetzten Frist behoben, kann das BMG die Vereinbarungen festsetzen; es kann dazu Datenerhebungen in Auftrag geben oder Sachverständigengutachten einholen.
2. a) Das Beanstandungsrecht des BMG stellt eine Form der Rechtsaufsicht dar. Es ist beschränkt auf Rechtsverstöße und erstreckt sich nicht auf eine Prüfung der
Zweckmäßigkeit der Regelungen des Bewertungsausschusses, umfasst also keine Fachaufsicht (vgl. hierzu und zum Folgenden: Bundessozialgericht,
Beschluss vom 27. Januar 2021, B 6 A 1/19 R, Rdnrn. 9ff.; Hamdorf in Hauck/Noftz, SGB, 05/18, §
87 SGB V, Rdnr. 423f.). Das Bundessozialgericht hat schon zu vergleichbaren Befugnissen des BMG gegenüber dem Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) entschieden, dass die aufsichtsrechtlichen Befugnisse des Bundesministeriums
dort auf eine bloße Rechtskontrolle beschränkt sind (Urteil vom 6. Mai 2009, B 6 A 1/08 R, zitiert nach juris, dort Rdnr. 34ff.). Hierzu hat es auf den Grundsatz verwiesen, dass die Staatsaufsicht gegenüber Selbstverwaltungsträgern
prinzipiell auf eine Rechtsaufsicht begrenzt und für eine weiterreichende Zweckmäßigkeitskontrolle nur Raum ist, wenn der
Gesetzgeber dies ausdrücklich angeordnet hat (a.a.O., Rdnr. 43). Insbesondere hat es dargelegt, dass die Rechtfertigungsgründe
für das im Vertragsarztrecht bestehende besondere Normsetzungskonzept umso stärker in Frage gestellt werden, je mehr es die
Ministerialverwaltung ist, welche letztlich - ohne Bindung an die Voraussetzungen des Art.
80 Abs.
1 und
2 GG - die untergesetzlichen Bestimmungen erlässt; fachaufsichtsrechtliche Letztentscheidungsrechte sind damit nicht vereinbar
(a.a.O., Rdnr. 47; „Einmischungsaufsicht“). Diese Argumentation ist auf den Bewertungsausschuss ohne Weiteres übertragbar,
denn auch er ist Teil des besonderen Normsetzungskonzepts des Vertragsarztrechts. Ausdrücklich hat das Bundessozialgericht
(a.a.O., Rdnr. 41) gerade der Gesetzesbegründung zur Änderung des §
87 SGB V (BT-Drucks. 16/3100, S. 132) entnommen, dass dem BMG weiterhin nur eine Überprüfung der untergesetzlichen Normen auf Rechtskonformität zukommen soll. Daher spricht alles dafür,
auch das Beanstandungsrecht nach §
87 Abs.
6 Satz 2
SGB V auf eine Rechtskontrolle zu beschränken (so schon Urteil des Senats vom 10. April 2019, L 7 KA 35/16 KL, zitiert nach juris, dort Rdnr. 55; nun auch Bundessozialgericht, Beschluss vom 27. Januar 2021, B 6 A 1/19 R, Rdnrn. 9ff. (MedR 2021, S. 752)). Das sieht auch die Beklagte nicht anders.
b) Prüfungsmaßstab ist daher - unter Heranziehung des Grundsatzes der maßvollen Ausübung der Rechtsaufsicht -, ob sich das
Handeln des Bewertungsausschusses im Bereich des rechtlich noch Vertretbaren bewegt; dabei muss dem Bewertungsausschuss bei
der ihm zugewiesenen Normsetzung ein gewisser Bewertungsspielraum verbleiben (Bundessozialgericht, a.a.O., Rdnr. 11; Hamdorf,
a.a.O., Rdnr. 423b). Die aufsichtsrechtliche Kontrolle des BMG über den Bewertungsausschuss beschränkt sich mithin darauf, ob sich ein Beschluss des (erweiterten) Bewertungsausschusses
auf eine ausreichende gesetzliche Ermächtigungsgrundlage stützen kann und ob die äußersten Grenzen der Rechtssetzungsbefugnis
überschritten wurden. Letzteres ist erst dann der Fall, wenn die getroffene Regelung in einem „groben Missverhältnis“ zu den
mit ihr verfolgten legitimen Zielen steht, d.h. in Anbetracht des Zwecks der Ermächtigung schlechterdings unvertretbar oder
unverhältnismäßig ist. Der Bewertungsausschuss überschreitet den ihm eröffneten Gestaltungsspielraum, wenn sich zweifelsfrei
feststellen lässt, dass seine Entscheidungen von sachfremden Erwägungen getragen sind (so ausdrücklich Bundessozialgericht,
a.a.O. mit Hinweis auf B 6 KA 29/17 R, dort Rdnr. 12 und B 6 KA 31/19 R, dort Rdnr. 41).
3. Hieran gemessen erweist sich der Beanstandungsbescheid als rechtswidrig. Denn der erweiterte Bewertungsausschuss hat mit
dem Beschluss vom 21. August 2018, Teil A, die Grenzen seiner Rechtssetzungsbefugnis nicht überschritten (unten a). Unabhängig
davon ist der Beanstandungsbescheid auch deshalb rechtswidrig, weil er unter einem Ermessensausfall leidet (unten b).
a) Das in Teil A des Beschlusses des erweiterten Bewertungsausschusses vom 21. August 2018 geregelte Korrekturverfahren zum
Umgang mit außergewöhnlichen Prävalenzänderungen bewegt sich „im Bereich des rechtlich noch Vertretbaren“ und ist nicht „schlechterdings
unvertretbar oder unverhältnismäßig“. Es hätte daher ebenso wenig im Wege der Rechtsaufsicht beanstandet werden dürfen wie
der nachfolgende Beschluss des Bewertungsausschusses vom 18. September 2018.
Die Ermächtigungsgrundlage des erweiterten Bewertungsausschusses für die in Teil A (dort insbesondere unter Punkt 4.4) des
Beschlusses vom 21. August getroffenen Regelungen besteht in §
87a Abs.
5 Satz 6
SGB V. Danach kann der Bewertungsausschuss das zur Ermittlung der diagnosebezogenen Rate dienende Modell des Klassifikationsverfahrens
in bestimmten Zeitabständen auf seine weitere Eignung für die Anwendung in der vertragsärztlichen Versorgung überprüfen und
fortentwickeln. Maßgeblich sind insoweit folgende rechtliche Zusammenhänge:
aa) Die regional zu vereinbarende morbiditätsbedingte Gesamtvergütung der vertragsärztlichen Leistungen (§
87a Abs.
3 Satz 1
SGB V) bemisst sich nach dem jährlichen Punktwert (§
87a Abs.
2 Satz 1
SGB V) und dem Punktzahlvolumen (§
87a Abs.
3 Satz 2
SGB V). Als Punktzahlvolumen ist der mit der Zahl und der Morbiditätsstruktur der Versicherten verbundene Behandlungsbedarf jährlich
neu zu ermitteln (§
87a Abs.
3 Satz 2
SGB V). Die jährliche Anpassung des Behandlungsbedarfs muss u.a. Veränderungen der Morbiditätsstruktur der Versicherten aller Krankenkassen
mit Wohnort im Bezirk der jeweiligen Kassenärztlichen Vereinigung berücksichtigen (§
87a Abs.
4 Satz 1 Nr.
2 SGB V); dabei sind die Empfehlungen und Vorgaben des Bewertungsausschusses gemäß §
87a Abs.
5 SGB V zu berücksichtigen. Die jeweils jahresbezogene Veränderung der Morbiditätsstruktur im Bezirk einer Kassenärztlichen Vereinigung
ist danach auf der Grundlage der vertragsärztlichen Behandlungsdiagnosen gemäß §
295 Absatz
1 Satz 2
SGB V einerseits sowie auf der Grundlage demografischer Kriterien (Alter und Geschlecht) andererseits durch eine gewichtete Zusammenfassung
der vom Bewertungsausschuss als Empfehlungen nach Absatz 5 Satz 2 bis 4 mitgeteilten Raten zu vereinbaren („Schieberegler“,
§
87a Abs.
4 Satz 3
SGB V).
In Übereinstimmung hiermit bestimmt §
87a Abs.
5 Satz 1
SGB V, dass der Bewertungsausschuss u.a. Empfehlungen beschließt zur Vereinbarung von Veränderungen der Morbiditätsstruktur nach
Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Satz 2 bis 6 lauten weiter:
2Bei der Empfehlung teilt der Bewertungsausschuss den in Absatz 2 Satz 1 genannten Vertragspartnern die Ergebnisse der Berechnungen
des Instituts des Bewertungsausschusses zu den Veränderungen der Morbiditätsstruktur nach Absatz 4 Satz 1 Nummer 2 mit. 3Das
Institut des Bewertungsausschusses errechnet für jeden Bezirk einer Kassenärztlichen Vereinigung zwei einheitliche Veränderungsraten,
wobei eine Rate insbesondere auf den Behandlungsdiagnosen gemäß § 295 Absatz 1 Satz 2 und die andere Rate auf demografischen
Kriterien (Alter und Geschlecht) basiert. 4Die Veränderungsraten werden auf der Grundlage des Beschlusses des erweiterten
Bewertungsausschusses vom 2. September 2009 Teil B Nummer 2.3 bestimmt mit der Maßgabe, die Datengrundlagen zu aktualisieren.
5Zur Ermittlung der diagnosenbezogenen Rate ist das geltende Modell des Klassifikationsverfahrens anzuwenden. 6Der Bewertungsausschuss
kann das Modell in bestimmten Zeitabständen auf seine weitere Eignung für die Anwendung in der vertragsärztlichen Versorgung
überprüfen und fortentwickeln.
bb) §
87a Abs.
4 SGB V hat seine maßgebliche Gestalt durch das GKV-Versorgungsstärkungsgesetz vom 22. Dezember 2011 gefunden. In der Gesetzesbegründung
heißt es u.a. zur Neufassung des Abs. 4 (BT-Drs. 17/6909, S. 63f.):
„Durch die Neufassung des Absatzes 4 wird die mit diesem Gesetz deutlich gestärkte Gestaltungsverantwortung der regionalen
gemeinsamen Selbstverwaltung, das heißt der jeweiligen Kassenärztlichen Vereinigung und der Landesverbände der Krankenkassen
sowie der Ersatzkassen, bei den Vereinbarungen über die Anpassung des notwendigen Behandlungsbedarfs verdeutlicht. Der in
Satz 1 genannte und jährlich in Vereinbarungen anzupassende notwendige Behandlungsbedarf entspricht – wie im bisherigen Recht
– dem Umfang der medizinisch notwendigen ärztlichen Leistungsmengen, aus denen sich, bewertet mit dem regional vereinbarten
Punktwert (ggf. angepasst mit Zu- oder Abschlägen), die von den Krankenkassen für das Folgejahr zu zahlende morbiditätsbedingte
Gesamtvergütung ergibt. Künftig haben die regionalen Vertragspartner über die notwendige Anpassung des Behandlungsbedarfs
in Verhandlungen zu treten und dabei (in regionaler Hinsicht) insbesondere die Veränderungen der in den Nummern 1 bis 5 aufgeführten
Kriterien zu berücksichtigen. Grundlage der regionalisierten Vereinbarung der Anpassungen des Behandlungsbedarfs anhand der
gesetzlichen Kriterien ist der im Vorjahr für alle Versicherten mit Wohnort im Bezirk einer Kassenärztlichen Vereinigung vereinbarte
und bereinigte morbiditätsbedingte Behandlungsbedarf und nicht die abgerechnete Leistungsmenge, so dass den Kassen aus der
Umstellung des Vergütungssystems insgesamt keine Mehrausgaben entstehen. Die Anpassungskriterien entsprechen dabei im Wesentlichen
dem bisherigen Recht, wobei jedoch die Bezugsgrößen zur Berücksichtigung der Versichertenzahl sowie der Morbiditätsstruktur
in regionaler Hinsicht konkretisiert werden. Für die Berücksichtigung der Kriterien wird auf Vorgaben des Bewertungsausschusses
verzichtet. Künftig wird es als wesentliche Verhandlungsgrundlage jährlich bis zum 31. August Empfehlungen und Verfahrensvorgaben
des Bewertungsausschusses sowie Mitteilungen von KV-bezogenen Berechnungsergebnissen an die Vertragsparteien geben. (…)
Satz 3 (neu) räumt der Kassenärztlichen Vereinigung und den Landesverbänden der Krankenkassen sowie den Ersatzkassen bei der
Vereinbarung der Gesamtvergütung eine höhere Flexibilität und Kompetenz ein. Die konkrete Höhe der Steigerungsrate zur Berücksichtigung
der Veränderungen der Morbiditätsstruktur aller Versicherten mit Wohnort im KV-Bezirk und damit der wesentlichen Bestimmungsgröße
für die Höhe der Gesamtvergütung basiert auf einer regional auszuhandelnden Festlegung einer konkreten zusammenfassenden Gewichtung
der als Verhandlungsempfehlungen zur Morbiditätsentwicklung den regionalen Vertragspartnern mitgeteilten Raten. Eine Addition
der demographischen Rate und der diagnosenbezogenen Rate sowie eine Veränderung dieser einzelnen Raten ist ausgeschlossen.
In diesem Verhandlungsprozess können Aspekte einer qualitätsgesicherten Kodierung von Diagnosen (wie auch rein statistische
Effekte, z. B. von Up- oder Right-Coding, denen keine zusätzliche Morbiditätsveränderung gegenübersteht) angemessen berücksichtigt
werden. Die regionalen Vertragspartner sind in der Verantwortung, die Anwendung der Behandlungsdiagnosen auf die Veränderungsrate
der Morbidität sachgemäß umzusetzen.
Satz 4 (neu) erhöht vor dem Hintergrund der weitgehenden Regionalisierung die Spielräume der gemeinsamen Selbstverwaltung
bei der Gestaltung der Vergütung zusätzlich. Dies wird dadurch erreicht, dass die regionalen Vertragspartner die bisher nur
dem Bewertungsausschuss gegebene Möglichkeit nunmehr regional anwenden können und somit weitere sachgerechte sowie für die
Vereinbarung der Veränderung des ambulanten Behandlungsbedarfs und für die wirtschaftliche Versorgung der Patienten relevante
Morbiditätskriterien für die Verhandlung des notwendigen Behandlungsbedarfs bei Bedarf heranziehen können. Für eine höhere
vertragliche Flexibilität entfällt dabei auch die als Überregulierung anzusehende zwingende Anforderung des bisherigen Rechts,
dass diese Kriterien mit den im jeweils geltenden Risikostrukturausgleich verwendeten Morbiditätskriterien vereinbar sein
müssen. (…)“
Zu §
87a Abs.
5 SGB V heißt es u.a. In der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 17/6909, S. 64):
„Durch die Änderungen in Satz 1 wird die Kompetenz des Bewertungsausschusses zu Gunsten der regionalen Abweichungsspielräume
bei den Vereinbarungen zwischen der jeweiligen Kassenärztlichen Vereinigung und den Landesverbänden der Krankenkassen und
der Ersatzkassen auf Empfehlungen beschränkt. (…)
Durch die neuen Sätze 2 bis 6 werden die Empfehlungen des Bewertungsausschusses für die regionalen Vergütungsverhandlungen
zwischen der jeweiligen Kassenärztlichen Vereinigung und den Landesverbänden der Krankenkassen und der Ersatzkassen konkretisiert.
Die Empfehlung muss dabei in jedem Fall auch eine Mitteilung des Bewertungsausschusses zu Berechnungsergebnissen vorsehen,
aus denen sich die in dem jeweiligen KV-Bezirk zu berücksichtigenden Veränderungsraten ergeben (Satz 2). Diese Raten geben
– basierend auf dem Beschluss des erweiterten Bewertungsausschusses vom 2. September 2009 für die Vergütungsvereinbarungen
für das Jahr 2010 – einerseits die diagnosenbezogenen Veränderungen und andererseits die demographischen Veränderungen wider.
Diese Raten sind als Empfehlung zur „Morbiditätsrate“ an die regionalen Vertragspartner anzusehen. Lediglich für den Fall,
dass KV-spezifische Diagnosedaten nicht vorliegen, sind für die Berechnung der Diagnoserate bundesweite Daten heranzuziehen.
Mit den Berechnungen wird das unabhängige Institut des Bewertungsausschusses beauftragt (Satz 3). (…) In Satz 5 wird klarstellend
vorgegeben, dass die Messung der auf den Behandlungsdiagnosen basierenden Rate auf Grundlage der in dem o. a. Beschluss vorgesehenen
vom Institut des Bewertungsausschuss angepassten Variante H des Klassifikationssystems durchzuführen ist. Nach Satz 6 kann
der Bewertungsausschuss künftig dieses Modell in regelmäßigen Abständen auf seine weitere Eignung zur Anwendung in der vertragsärztlichen
Versorgung prüfen, z. B. hinsichtlich der Zahl der Risikoklassen (sog. Condition Categories) oder zum Umfang der Berücksichtigung
des ICD-10-GM.“
cc) In einer Zusammenschau des Wortlauts der komplexen gesetzlichen Regelungen und der Gesetzesbegründung ergibt sich folgendes
Bild:
Die Anpassung des morbiditätsbedingten Behandlungsbedarfs lag bis zum Inkrafttreten des GKV-VStG am 1. Januar 2012 verbindlich in den Händen des Bewertungsausschusses. So regelte §
87a Abs.
4 SGB V a.F., dass bei der Anpassung des Behandlungsbedarfs insbesondere Veränderungen der Zahl und der Morbiditätsstruktur der Versicherten
zu berücksichtigen waren, u.z. „nach Maßgabe des vom Bewertungsausschuss beschlossenen Verfahrens nach Abs. 5“ („Vorgaben“
des Bewertungsausschusses, vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 27. Juni 2012, B 6 KA 28/11 R, zitiert nach juris, dort Rdnr. 67).
Mit dem GKV-VStG kam es zu einer Reduzierung der Machtposition des Bewertungsausschusses. Das Recht, die morbiditätsbedingte Gesamtvergütung
einschließlich der Anpassung des Behandlungsbedarfs zu verhandeln und zu vereinbaren, steht nun den Gesamtvertragsparteien
auf Landesebene zu und nicht (mehr) dem Bewertungsausschuss, der die Vertragsparteien z.B. auch nicht verpflichten kann, für
bestimmte Leistungen Vergütung nachzuschießen (vgl. Motz in Eichenhofer/von Koppenfels-Spies/Wenner,
SGB V, 3. Aufl. 2018, Rdnr. 8 zu §
87a unter Hinweis auf Urteil des Senats vom 15. Dezember 2010, L 7 KA 62/09 KL, zitiert nach juris, dort Rdnr. 62f.). Rechte und Befugnisse des Bewertungsausschusses wurden im System des §
87a SGB V im Zuge des GKV-VStG zu Gunsten der regionalen Gesamtvertragspartner deutlich limitiert. Bei der Ermittlung von Veränderungen der Morbiditätsstruktur
sind (nur noch) „die Empfehlungen und Vorgaben des Bewertungsausschusses gemäß Abs. 5 zu berücksichtigen“. Diese Änderung
ist Ausdruck der mit der Novellierung vorgenommenen Regionalisierung (vgl. Motz, a.a.O., Rdnr. 32 zu § 87a). Allerdings obliegt
es dem Bewertungsausschuss, bei der Ermittlung der diagnosebezogenen Veränderungsrate „das geltende Modell des Klassifikationsverfahrens
anzuwenden“ (§
87a Abs.
5 Satz 5
SGB V). Der Gesetzgeber stellt es dem Bewertungsausschuss frei, „das Modell in bestimmten Zeitabständen auf seine weitere Eignung
für die Anwendung in der vertragsärztlichen Versorgung überprüfen und fortentwickeln“ (§
87a Abs.
5 Satz 5
SGB V).
dd) Im Gesetz angelegt ist danach eine duale Kompetenzverteilung: Einerseits verhandeln und vereinbaren die Gesamtvertragsparteien
auf Landesebene die Anpassung des Behandlungsbedarfs verbindlich; andererseits sind dabei „Empfehlungen“ des Bewertungsausschusses
zu berücksichtigen, die dieser auf Grundlage eines von ihm selbst fortzuentwickelnden Klassifikationsmodells abzugeben hat.
Die „Empfehlungen“ des Bewertungsausschusses nach §
87a Abs.
4 Satz 3
SGB V sind für die regionalen Vertragspartner bindend und dürfen von diesen nicht überspielt werden (vgl. Bundessozialgericht,
Urteil vom 10. Mai 2017, B 6 KA 14/16 R, zitiert nach juris, dort Rdnr. 38 bis 48).
Die Rolle des Bewertungsausschusses hat der Gesetzgeber in diesem Zusammenhang allerdings nur unvollkommen geregelt, denn
es bleibt unklar, welchen Umfang, welche Tiefe und einen wie weit gehenden Inhalt die von den Gesamtvertragsparteien verbindlich
zu berücksichtigenden Empfehlungen haben dürfen. Das zeigt der vorliegende Rechtsstreit anschaulich. Insbesondere ist nicht
eindeutig geregelt, welchen Inhalt das zur Ermittlung der diagnosebezogenen Veränderungsrate „geltende Modell des Klassifikationsverfahrens“
haben darf (§
87a Abs.
5 Satz 5
SGB V) und in welchen Grenzen der Bewertungsausschuss das Klassifikationsmodell „überprüfen und fortentwickeln“ darf (§
87a Abs.
5 Satz 6
SGB V).
Vor diesem Hintergrund erscheinen beide von den Prozessbeteiligten favorisierten Lesarten des Gesetzes plausibel und vertretbar.
Die Seite der Beklagten betont die mit dem GKV-VStG aufgewertete Rolle der regionalen Gesamtvertragsparteien und will die Einflussmöglichkeiten des Bewertungsausschusses eher
zurückdrängen, während die Kläger, die Trägerorganisationen des Bewertungsausschusses, den Empfehlungen des Bewertungsausschusses
mehr Tiefenschärfe geben wollen, indem das Klassifikationsmodell auch den Umgang mit außergewöhnlichen Prävalenzänderungen
vorsehen soll.
ee) Angesichts all dessen erweist sich die angefochtene Beanstandungsverfügung als rechtswidrig, weil sich das Handeln des
Bewertungsausschusses zur Überzeugung des Senats im Bereich des rechtlich Vertretbaren bewegt und nicht ansatzweise „schlechterdings
unvertretbar oder unverhältnismäßig“ ist (vgl. Bundessozialgericht, Beschluss vom 27. Januar 2021, B 6 A 1/19 R, Rdnr. 11). Der Senat neigt sogar dazu, die beanstandete Regelung zum Umgang mit außergewöhnlichen Prävalenzänderungen im
Lichte des Gesetzes für „gut vertretbar“ zu halten, weil der Gesetzgeber eine Beurteilung der Morbiditätsentwicklung gerade
in die Hände des Bewertungsausschusses gelegt hat, der insoweit zweifellos über hinreichende Kompetenz verfügt (vgl. Bundessozialgericht,
Urteil vom 10. Mai 2017, B 6 KA 14/16 R, zitiert nach juris, dort Rdnr. 48).
Der Begriff der „Vertretbarkeit“ ist dem Prüfungsrecht entlehnt. In der Bewertung z.B. von juristischen Prüfungsleistungen
ist gängiger Bewertungsmaßstab, „ob bei der Lösung eines mit der Aufgabe gestellten Rechtsproblems die Prüfung einer Norm
geboten, vertretbar oder fernliegend ist“ (vgl. BVerwG, Beschluss vom 9. Dezember 2020, 6 B 35/20, zitiert nach juris, dort Rdnr. 11). „Vertretbar“ ist danach eine Norminterpretation, die nicht fernliegend ist. In diesen
Worten wäre eine rechtsaufsichtliche Beanstandungsverfügung gerechtfertigt, wenn die beanstandete Regelung auf einer fernliegenden
(unzutreffenden) Norminterpretation beruht. Hiervon kann aber nach dem oben Gesagten nicht die Rede sein. Vielmehr hat die
Beklagte ihre eigene (ebenso vertretbare) Norminterpretation mit der Beanstandungsverfügung durchsetzen wollen, damit aber
Zweckmäßigkeitsaufsicht (Fachaufsicht) ausgeübt und so rechtswidrig in die Kompetenz des Bewertungsausschusses eingegriffen.
Das von der Beklagten gewünschte Interpretationsergebnis hätte aber verbindlich nur durch eine Klarstellung im Gesetz erreicht
werden können.
Bestärkt sieht sich der Senat in diesem Ergebnis durch zweierlei:
Erstens führt die Gesetzesbegründung zu §
87a Abs.
5 SGB V (BT-Drs. 17/6909, S. 64), wie oben bereits zitiert, ausdrücklich an, dass Satz 6 „zum Beispiel“ die Zahl der Risikoklassen
(sog. Condition Categories) oder den Umfang der Berücksichtigung des ICD-10-GM betreffen kann, aber eben nicht ausschließlich.
Zweitens zeigt die neuere Gesetzgebungsgeschichte mit §
87a Abs.
5 Satz 11
SGB V i.d.F. des am 11. Mai 2019 in Kraft getretenen Terminservice- und Versorgungsgesetzes (TSVG), wie naheliegend es ist, den
Bewertungsausschuss mit der Aufgabe zu betrauen, Kodiereffekte bei der Ermittlung der diagnosebezogenen Veränderungsrate zu
berücksichtigen. Der Senat sieht sich angesichts dieser Neuregelung, die auf der Einführung bundeseinheitlicher Regelungen
und Prüfmaßstäbe für die Vergabe und Dokumentation von Diagnosen und Prozeduren beruht, nicht gehindert, den Bewertungsausschuss
schon nach alter Rechtslage (vertretbar) für befugt zu halten, Regelungen zum Umgang mit außergewöhnlichen Prävalenzänderungen
zu treffen; die mit dem TSVG getroffene Neuregelung wäre insoweit nur als ergänzende Neuregelung zu begreifen.
b) Unabhängig von der Frage, ob sich die von dem erweiterten Bewertungsausschuss am 21. August 2018 getroffene Entscheidung
zur Berücksichtigung außergewöhnlicher Prävalenzänderungen und deren begrenzten Eingang in die diagnosebezogene Veränderungsrate
im Bereich des rechtlich noch Vertretbaren bewegt, erweist sich der angefochtene Beanstandungsbescheid als rechtswidrig, weil
er zur Überzeugung des Senats evident unter Ermessensausfall leidet.
aa) Das Fünfte Buch des Sozialgesetzbuchs räumt dem BMG neben der Regelung zum (erweiterten) Bewertungsausschuss in §
87 Abs.
6 SGB V auch in anderen Bereichen rechtsaufsichtliche Befugnisse ein, so etwa gemäß §
78 Abs. 1 gegenüber der Klägerin zu 1., in § 217d Abs. 1 gegenüber dem Kläger zu 2., gemäß § 94 Abs. 1 gegenüber dem Gemeinsamen
Bundesausschuss und gemäß § 89 Abs. 10 gegenüber dem Bundesschiedsamt. Gemeinsam ist diesen rechtsaufsichtlichen Befugnissen bzw. dem Beanstandungsrecht des BMG, dass die Aufsichtsbehörde im Rahmen der Rechtsaufsicht Ermessen auszuüben hat und nicht gleichsam automatisiert beanstanden
darf. Das wird auch von der Beklagten nicht bestritten und ergibt sich unzweideutig aus der gesetzlichen Ermächtigung in z.B.
§
87 Abs.
6 SGB V („kann beanstanden“).
Als Aufsichtsbehörde hatte die Beklagte in Bezug auf den Erlass der vorliegend streitigen aufsichtsrechtlichen Verfügung sowohl
ein Entschließungs- als auch ein Auswahlermessen, wobei eine Beanstandung als belastender Verwaltungsakt den Erfordernissen
des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuchs (SGB X) genügen muss. Nach § 35 Abs. 1 Satz 3 SGB X muss die Begründung eines schriftlichen Verwaltungsaktes, der eine Ermessensentscheidung zum Inhalt hat, auch die Gesichtspunkte
erkennen lassen, von denen die Behörde bei der Ausübung ihres Ermessens ausgegangen ist. Der Begründung des Bescheides muss
zu entnehmen sein, dass die Aufsichtsbehörde sich ihrer Befugnis und Pflicht zur Ermessensausübung bewusst gewesen ist, dass
sie die Möglichkeit erwogen hat, unter Opportunitätsgründen von der Durchführung abzusehen, und welche Gründe dafür entscheidend
gewesen sind, der Beanstandung den Vorzug zu geben (vgl. Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 25. Februar 2010, L 10 AL 225/08 KL, zitiert nach juris, dort Rdnr. 39, zum Erlass eines rechtsaufsichtlichen Verpflichtungsbescheides). Die Begründung muss
– wie auch sonst im hergebrachten allgemeinen Verwaltungsverfahrensrecht – deutlich machen, dass die Beklagte überhaupt eine
Ermessensentscheidung getroffen hat (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 31. Oktober 1991, 7 RAr 60/89, zitiert nach juris, dort Rdnr. 35; Urteil vom 18. April 2000, B 2 U 19/99 R, zitiert nach juris, dort Rdnr. 19; s.a. Urteil vom 21. März 2018, B 6 KA 59/17 R, zitiert nach juris, dort Rdnr. 48; Littmann in: Hauck/Noftz, SGB, Stand 04/13, Rdnrn. 27ff. zu § 35 SGB X). Das gilt in besonderem Maße für die Entscheidung einer Aufsichtsinstanz: Ihr muss zu entnehmen sein, dass die Aufsichtsbehörde
sich ihrer Befugnis und Pflicht zur Ermessensausübung bewusst gewesen ist, dass sie die Möglichkeit erwogen hat, unter Opportunitätsgründen
von der Durchführung abzusehen und welche Gründe dafür entscheidend gewesen sind, die Beanstandung vorzunehmen (vgl. Luthe
in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, Stand 21. Mai 2021, Rdnr. 20 zu § 35).
bb) Vorliegend ergeben sich weder aus dem streitgegenständlichen Bescheid vom 19. Oktober 2018 noch aus den Akten der Beklagten
Hinweise darauf, dass sich die Beklagte vor Erlass des belastenden Bescheides der Notwendigkeit einer Ermessensbetätigung
und deren Verlautbarung nach außen bewusst war. Vielmehr hat sie ihren Ermessensspielraum verkannt („Ermessensausfall“) und
im Bescheid keine Ermessenserwägungen zum Ausdruck gebracht. Die Lektüre des Beanstandungsbescheides belegt dies nachdrücklich,
denn sein knapper Wortlaut lässt allein die Schlussfolgerung zu, die Beklagte habe sich zum Erlass der Beanstandung rechtlich
gebunden gefühlt. Es fehlt an jeglicher abwägenden Begründung, stattdessen dominiert apodiktischer Tonfall („Daher ist der
Beschluss (…) zu beanstanden“); Opportunitätserwägungen fehlen vollständig.
In diese Richtung weist auch der insoweit einzige Rückschlüsse erlaubende Bestandteil des Verwaltungsvorgangs der Beklagten,
nämlich das Votum des Referats 226 vom 27. September 2018. Der Senat sieht hier klassische „Einmischung“ dokumentiert, wie
sie der Rechtsaufsicht fremd sein muss (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 6. Mai 2009, B 6 A 1/08 R, zitiert nach juris, dort Rdnr. 47). Nach Art eigener Zweckmäßigkeitserwägungen führt das Votum nämlich aus: „Ziel ist, die
entsprechenden Beschlüsse neu zu fassen und die diagnosebezogenen Veränderungsraten ohne Anpassung auf Bundesebene neu zu
berechnen. Analog zum letztjährigen Verfahren sollte in der Empfehlung transparent dargestellt werden, in welchen KV-Regionen
auffällige Prävalenzänderungen in den Diagnosedaten aufgefallen sind und dass deshalb eine niedrigere Gewichtung empfohlen
wird.“ Diese Passage, die handschriftlich am Seitenrand mit der Bemerkung „Unbedingt!“ versehen ist, lässt nur den Rückschluss
zu, dass das BMG hier seinen eigenen Gestaltungswillen an die Stelle des Gestaltungsspielraums des Bewertungsausschusses stellen wollte, was
dann wiederum seinen klaren Ausdruck in dem Beanstandungsbescheid gefunden hat, der nach Art eingreifender, gebundener Verwaltung
formuliert ist.
Sind aber Ermessenserwägungen nicht erkennbar bzw. lässt der Verwaltungsakt nicht erkennen, dass sich die Behörde des Bestehens
eines Ermessensspielraums überhaupt bewusst war, ist er allein deshalb rechtswidrig und aufzuheben (Bundessozialgericht, Urteil
vom 31. Oktober 1991, 7 Rar 60/89, zitiert nach juris, dort Rdnr.36; Senat, Urteil vom 27. Mai 2015, L 7 KA 44/11 KL, zitiert nach juris, dort Rdnr. 85).
cc) Auch unter dem Aspekt einer von der Beklagten im Klageverfahren behaupteten Ermessensreduzierung auf Null gilt nichts
anderes, denn auch das Vorliegen einer solchen ist im Bescheid selbst deutlich zu machen und zu begründen (vgl. Bundessozialgericht,
Urteil vom 18. April 2000, B 2 U 19/99 R, zitiert nach juris, dort Rdnr. 19; Urteil vom 24. Juni 1987, 5a RKnU 2/86, zitiert nach juris, dort Rdnr. 13; Luthe in:
Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, Stand 21. Mai 2021, Rdnr. 18 zu § 35; Littmann in: Hauck/Noftz, SGB, Stand 04/13, Rdnr. 30 zu § 35 SGB X). Die Beklagte kann daher nicht mit ihrer Auffassung durchdringen, ein Ermessensausfall sei unbeachtlich, weil ihr Ermessen
auf Null reduziert gewesen sei.
Unabhängig davon hat der Senat durchgreifende Zweifel am Vorliegen einer Ermessensreduzierung, denn eine solche würde das
Drohen erheblicher finanzieller Schäden oder gravierender Rechtsverletzungen zu Lasten der Vertragsärzte oder der Versicherten
voraussetzen (vgl. Senat, Urteil vom 27. Mai 2015, L 7 KA 44/11 KL, zitiert nach juris, dort Rdnr. 85). Solche Umstände sind im vorliegenden Fall weder dargetan noch anderweitig ersichtlich.
Im Gegenteil erscheint dem Senat der Streit um die Entscheidung des Bewertungsausschusses vom 21. August 2018 eher wie ein
solche „ums Prinzip“ bzw. wie ein Machtkampf, dessen tatsächliche finanziellen Auswirkungen relativ gering sind. Das zeigt
die Aufstellung im Urteilstatbestand zu den empfohlenen „Veränderungsraten auf der Grundlage der vertragsärztlichen Behandlungsdiagnosen
nach § 87a Abs. 5 Satz 3 SGB V“ auf Grundlage des Beschlusses des Bewertungsausschusses vom 18. September 2018 einerseits
und des Beschlusses vom 12. Dezember 2018 andererseits. Während es für drei KV-Bezirke im Zuge der Beanstandungsverfügung
zu überhaupt keinen Auswirkungen kam, bewegt sich der Durchschnitt der durch die Beanstandung veranlassten Änderung der Veränderungsrate
bei 0,0091, mithin im Tausendstelbereich; der für das Jahr 2019 in Rede stehende Gesamtbetrag von 855.370,00 Euro fällt im
Verhältnis zu der bundesweit umgesetzten Gesamtvergütung überaus gering aus. Warum die Beanstandung vor diesem Hintergrund
von einer Ermessensreduzierung auf Null getragen sein sollte, erschließt sich nicht. Vielmehr kommt in der Behauptung einer
Ermessensreduzierung nur noch einmal zum Ausdruck, dass die Beklagte sich irrig für gebunden gehalten hat.
dd) Ob es grundsätzlich statthaft ist, in einem Beanstandungsbescheid vollständig fehlende Ermessenserwägungen im anschließenden
Klageverfahren nachzuholen – mit der Folge, dass der ursprüngliche Ermessensausfall rechtlich unerheblich bleibt –, sieht
der Senat kritisch, muss dies aber nicht entscheiden (vgl. aber, gegenüber dem Nachschieben von Ermessensgründen im Klageverfahren
ablehnend: Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 25. Februar 2010, L 10 AL 225/08 KL, zitiert nach juris, dort Rdnr. 41; ablehnend ebenso Engin in: Ory/Weth, jurisPK-ERV Band 3, 1. Aufl., Rdnr. 18 zu § 41 SGB X, Stand: 8. Juni 2021).
Zwar deuten sich Ermessenserwägungen der Beklagten, nach entsprechender Rüge der Klägerin zu 1., erstmalig im Schriftsatz
vom 25. Oktober 2019 an, dort Bl. 9. Gleichzeitig gibt die Beklagte dort aber zu erkennen, sich „im Hinblick auf die finanziellen
und grundrechtsrelevanten Folgen“ im Wege der Ermessensreduzierung für gebunden zu halten. Das hält der Senat nicht ansatzweise
für überzeugend, denn es fehlt eine substantiierte inhaltliche Unterlegung der behaupteten „finanziellen und grundrechtsrelevanten
Folgen“ ihrer Art und ihrem Umfang nach. Selbst wenn also verfahrensrechtlich die Möglichkeit der Heilung auch eines vollständigen
Ermessensausfalls bejaht werden würde – was zweifelhaft ist –, genügte Bl. 9 des Schriftsatzes der Beklagten vom 25. Oktober
2019 insoweit den Anforderungen nicht.
Ob die Heilung eines Ermessensausfalls durch den Erlass eines neuen Bescheides nach Ausübung pflichtgemäßen Ermessens möglich
ist, muss ebenso wenig entschieden werden, denn bei dem Schreiben der Beklagten vom 25. Oktober 2019 handelt es sich mangels
Regelung i.S.d. § 31 S. 1 SGB X nicht um einen Verwaltungsakt, der Gegenstand des Klageverfahrens hätte werden können (vgl. insoweit Engin, a.a.O. mit Hinweis
auf Bundessozialgericht, Urteil vom 22. März 2005, B 1 A 1/03 R, zitiert nach juris, dort Rdnr. 17).
D. Die Kostenentscheidung folgt aus §
197 a Abs.
1 Satz 1
SGG in Verbindung mit §
154 Abs.
1 VwGO. Der Senat lässt die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zu, §
160 Abs.
2 Nr.
1 SGG.