Anerkennung einer Berufskrankheit gemäß BKV Anl. 1 Nr. 2108 und Nr. 2110 in der gesetzlichen Unfallversicherung bei bandscheibenbedingter Erkrankung der Lendenwirbelsäule
Anforderungen an die Anwendung der Konsensempfehlungen zur Zusammenhangsbegutachtung der BK Nr. 2108 und Nr. 2110
Tatbestand
Der 1952 geborene Kläger begehrt die Anerkennung einer Lendenwirbelsäulenerkrankung als Berufskrankheit (BK) nach den Nummern
2108 und 2110 der Anlage 1 der
Berufskrankheitenverordnung (
BKV).
Der Kläger ist zum 1. November 2008 aus dem Berufsleben ausgeschieden und bezieht eine Erwerbsminderungsrente. Mit Schreiben
vom 16. März 2010 zeigte seine gesetzliche Krankenkasse den Verdacht einer Berufskrankheit bei der Beklagten an. Der als Heimatvertriebener
anerkannte Kläger war von 1975 bis 1991 LKW-Fahrer auf unebenen Landstraßen in Kasachstan. Von 5/1975 bis 12/1985 transportierte
er Milch. Von 1985 bis 1988 führte er den Transport von Backsteinen, Holz, Stahl und Eisen durch, wobei diese Gegenstände
auch von Hand gehoben werden mussten. Von 1/1989 bis 4/1991 fuhr er einen Muldenkipper in einer Kohlengrube, und zwar auf
dem Grubenboden auf unbefestigten Straßen. Nach seiner Einreise in die Bundesrepublik Deutschland arbeitete er durchgehend
bei der Firma D. In den Jahren 5/1992 bis 7/1993 war er als Gießereiwerker tätig (Fertigung von Kanalringen im Akkord mit
Einfüllen von Beton in Rüttelform, Stapeln der Kanalringe), in den Jahren 8/1993 bis 7/1995 als Betonfertigteilbauer in der
Abscheiderfertigung (Nachbearbeitung von Betontöpfen/Tragen von wassergefüllten Eimern und Eimern mit Beton). Von 8/1995 bis
7/2004 war er Gießereiwerker/Lagerarbeiter im Kokillenlager (= Lager für Kühlsteine aus Stahl; Tragen von Gussteilen mit ausgestreckten
Armen). Von 9/2004 bis 2006 beförderte er täglich 15 bis 20 Sandkerne mit einem Gewicht pro Kern im Schnitt von 15 kg. In
den Jahren 2006 bis 2008 war er in der Sandaufbereitung und im innerbetrieblichen Transport beschäftigt (Heben von ca. 40
Säcken à 25 kg täglich in etwa der Hälfte der Arbeitstage).
Die Beklagte holte Befundberichte der behandelnden Orthopäden E. vom 5. Mai 2010 und Dr. F. vom 7. Juni 2010 ein, die u. a.
über einen Befund vom 9. Juni 2005 berichteten, und zog die Behandlungsunterlagen dieser Ärzte bei. Nach einem radiologischen
Befund (CT-Aufnahme) von Dr. G. vom 30. April 2009 bestanden bei dem Kläger eine Osteochondrose, Retrospondylose und ein grenzwertig
weiter Spinalkanal „LWK5 und 5/S1“ mit jeweils unterfütternder Bandscheibenprotrusion in diesen Wirbelsäulensegmenten. Die
Beratungsärztin Dr. H. nahm am 16. Juli 2010 zu den Unterlagen unter Auswertung der Röntgenaufnahmen der behandelnden Ärzte
und der CT-Aufnahme von Dr. G. Stellung und führte aus, die Höhenminderung und Spondylosis deformans im letzten und vorletzten
Lendenbandscheibenfach seien altersuntypisch, die übrigen Segmente unauffällig. Im Sinne der Konsensempfehlungen bestehe kein
belastungskonformes Schadensbild, weil sich der Schaden auf die unteren beiden Segmente beschränke, eine Begleitspondylose
nicht vorliege und mehrsegmentale „black discs“ nicht zu sichern seien. MRT-Aufnahmen wurden nicht veranlasst.
Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 12. August 2010 die Anerkennung einer BK nach Nr. 2108 und Nr. 2110 ab. Hiergegen erhob
der Kläger am 23. August 2010 Widerspruch unter anderem mit der Begründung, eine Begleitspondylose liege bei ihm vor, dies
gehe aus dem Entlassungsbericht über die durch den Rentenversicherer durchgeführte Rehabilitation vom 10. Februar 2009 hervor.
Die Beratungsärztin Dr. H. blieb in ihrer erneuten Stellungnahme vom 15. Oktober 2010 bei ihrer vorherigen Äußerung im Verfahren.
Die Beklagte holte sodann von dem Kläger eine ergänzende Auskunft vom 10. Januar 2011 über wirbelsäulenbelastende Tätigkeiten
während seines Berufslebens ein und ließ diese durch den Präventionsdienst im Hinblick darauf auswerten, ob eine besonders
intensive Belastung vorgelegen oder ein besonderes Gefährdungspotenzial durch hohe Belastungsspitzen bestanden hat. In seiner
Beurteilung vom 10. Februar 2011 teilte der Präventionsdienst durch die Mitarbeiter Dr. J., K. und L. mit, bezüglich der Schwingungsbelastung
als Kraftfahrer (Exposition für die BK Nr. 2110) errechne sich bei einer Worst-Case-Annahme bezüglich der Straßenverhältnisse
in Kasachstan und der Annahme, dass über einen Zeitraum von 14 Jahren mit jeweils 240 Expositionstagen eine Vibrationsbelastung
vorgelegen hat, eine Belastungsdosis von Dv von 1741 (m/s2)2. Damit sei in den 16 Dosisjahren in Kasachstan der Dosis-Richtwert
Dv von 1450 (m/s2)2 um 20% überschritten. In 10 Jahren seien etwa 75% dieses Dosisrichtwertes erreicht worden. Hinsichtlich
der Lendenwirbelsäulenbelastung durch das Heben und Tragen von Lasten (Exposition für die BK Nr. 2108) errechnete der Präventionsdienst
(L., Stellungnahmen vom 3. März 2011 und vom 17. März 2011) nach dem Mainz-Dortmunder-Dosismodell (MDD) für den Zeitraum vom
5/1992 bis 10/2008 eine berufliche Gesamtdosis in Höhe von 18,4 x 106 Nh.
Mit Widerspruchsbescheid vom 5. Juli 2011 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück. Ein Ursachenzusammenhang zwischen
der berufsbedingten Belastung und seinem Schaden an der Wirbelsäule sei nicht hinreichend wahrscheinlich. Art, Ausprägung
und Lokalisation des Krankheitsbildes entsprächen nicht der spezifischen Einwirkung.
Der Kläger hat am 4. August 2011 beim Sozialgericht Wiesbaden (Sozialgericht) Klage erhoben und geltend gemacht, die von ihm
ausgeübten erheblich wirbelsäulenbelastenden Tätigkeiten seien für seinen Schaden an der Wirbelsäule verantwortlich. Das Gericht
hat Befundberichte der behandelnden Ärzte Dr. F. vom 9. November 2011 und E. vom 21. November 2011 eingeholt und Beweis erhoben
durch Einholung eines fachorthopädischen Gutachtens des Orthopäden und Unfallchirurgen Dr. M. vom 13. Juni 2012. Der Sachverständige
hat bei dem Kläger radiologisch (Röntgen-Befund vom 12. Mai 2012) eine beginnende degenerative Bandscheibenerkrankung der
Halswirbelsäule (HWS) und eine mittelgradig ausgeprägte Bandscheibenerkrankung der Lendenwirbelsäule (LWS) mit endgradiger
Funktionseinschränkung ohne radikuläre Ausfallsymptomatik diagnostiziert. Eine „klinische“ Symptomatik sei nicht festzustellen,
so dass aus diesem Grund schon die Anerkennung einer BK Nr. 2108 nach den Konsensempfehlungen zur Zusammenhangsbegutachtung
der BK Nr. 2108 und Nr. 2110 („Medizinische Beurteilungskriterien zu bandscheibenbedingten Berufskrankheiten der Lendenwirbelsäule“,
Teil (I) und Teil (II), Bolm-Audorff, Franz, Grosser, Schröter, Seidler u. a., in: Trauma und Berufskrankheit 2005, S. 211
ff.; im Folgenden: Konsensempfehlungen) scheitere.
Mit Gerichtsbescheid vom 27. September 2012 hat das Sozialgericht die Klage auf der Grundlage des Gutachtens von Dr. M. abgewiesen.
Gegen den ihm am 8. Oktober 2012 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 8. November 2012 Berufung beim Hessischen
Landessozialgericht in Darmstadt eingelegt.
Der Senat hat auf Antrag des Klägers ein arbeitsmedizinisches Gutachten von Prof. Dr. N. vom 22. Mai 2014 nebst einer ergänzenden
Stellungnahme vom 11. September 2015 sowie unter Einbeziehung eines neurologisch-psychiatrischen Zusatzgutachtens von Dr.
O. vom 12. Februar 2014 und eines radiologischen Zusatzgutachtens von Dr. P. vom 2. Mai 2014 eingeholt. Der Radiologe hat
bezüglich LWK 4/5 eine drittgradige Chondrose (2008) und einen zweitgradigen Prolaps (2012), bezüglich LWK 5/SWK 1 eine drittgradige
Chondrose (2008) und einen zweitgradigen Prolaps (2012) festgestellt. Ein MRT hätte wegen des Herzschrittmachers nicht durchgeführt
und daher die Frage von „black disc“ nicht beantwortet werden können. Eine Begleitspondylose liege nicht vor. Zum Zeitpunkt
der Untersuchung (2014) seien die degenerativen Veränderungen an der LWS stärker als die an der HWS. Der neurologische Sachverständige
hat im Ergebnis ein lokales LWS-Syndrom mit mittelgradigen, belastungsabhängigen Beschwerden ohne relevante Funktionsausfälle
und einem chronischen Schmerzsyndrom festgestellt. Der Sachverständige Prof. Dr. N. nimmt auf Grund des Röntgenbefundes der
LWS vom 9. Juni 2005 (Befundbericht des Dr. F. vom 7. Juni 2010 im Verwaltungsverfahren) eine altersuntypische Chondrose mit
Bandscheibenverschmälerung bereits zu diesem Zeitpunkt an und geht auf Grund der Zunahme bewegungs- und belastungsabhängiger
Beschwerden des Klägers im Bereich der LWS von einer bandscheibenbedingten Erkrankung zum Zeitpunkt der Unterlassung der gefährdenden
Tätigkeit am 1. November 2008 im Form eines lokalen Lumbalsyndroms aus. Nach den Konsensempfehlungen komme die Annahme des
Kausalzusammenhangs des Gesundheitsschadens mit der beruflichen Belastung und die Anerkennung einer BK Nr. 2108 nach den Konstellationen
B3 und B2 in Betracht. Das Vorliegen der Konstellation B2 hänge aber davon ab, ob das 2. und/oder 3. Zusatzkriterium dieser
Konstellation erfüllt ist (besonders intensive Belastung bzw. besonderes Gefährdungspotential durch hohe Belastungsspitzen).
Dies sei von dem Präventionsdienst bisher nicht ermittelt worden. Zudem habe der Präventionsdienst bei seinen Ermittlungen
der Exposition im Sinne der BK Nr. 2108 nicht die Tätigkeit in Kasachstan zwischen 1975 und 1991 berücksichtigt, für die der
Kläger zumindest zwischen 1975 und 1988 Belastungen durch Heben und Tragen von Lasten über 25 kg angegeben habe. Der Präventionsdienst
hat daraufhin die Exposition des Klägers im Sinne der BK Nr. 2108 unter Einbeziehung der Wirbelsäulenbelastung durch Heben
und Tragen von Lasten in Kasachstan in den Jahren 1975 bis 1991 neu berechnet (ergänzende Stellungnahme BK 2108 vom 22. März
2016 mit dem Ergebnis, eine berufliche Gesamtdosis für die Zeit vom 1. Januar 1975 bis zum 31. Oktober 2008 liege in Höhe
von 25,9 MNh vor (104% des Orientierungswertes). Eine besonders intensive Belastung gemäß Definition sei nicht gegeben, ebenso
keine Spitzenbelastungen gemäß Definition. Für die Beurteilung der intensiven Belastung hat der Präventionsdienst auf die
jeweilige Jahresdosis (in den Jahren 1985 bis 1988 durch beidhändiges Heben von Baustoffen) verwiesen.
Der Sachverständige Prof. Dr. N. hat in seiner Stellungnahme vom 6. November 2019 zu der Neuberechnung eingewandt, die Prüfung
einer besonders intensiven Belastung durch den Präventionsdienst sei nicht nachvollziehbar, weil dafür nur der Vier-Jahreszeitraum
von 1985 bis 1988 herangezogen worden sei. Die Beklagte hat eine ergänzende Stellungnahme vom 5. Dezember 2019 vorgelegt zur
Beurteilung des 2. Zusatz-Kriteriums der B2 Konstellation (besonders intensive Belastung), in der die Jahresdosis für alle
Jahre von 1975 bis 2008 ausgewiesen sind, wobei außer für die Jahre 1985 bis 1988 jeweils 0,0 kNh angegeben sind. In einer
weiteren von der Beklagten vorgelegten Stellungnahme des Präventionsdienstes vom 4. März 2020 hat dieser darauf hingewiesen,
dass die Gesamtdosis (vorliegend 25,9 MNh) und die Belastungseinwirkungen bei den Fallkonstellationen B2 der Konsensempfehlung
unterschiedlich zu berechnen seien. Die Gesamtdosis berechne sich nach dem geänderten Orientierungswert nach „BSG Urteil B
2 U 4/06“, die Berechnungskriterien für die B2 Konstellationen (hier: besonders intensive Belastung) seien jedoch weiterhin
die nach den originalen MDD-Richtwerten, d. h. für eine Berücksichtigung der Fallkonstellationen B2 müsse bei Männern ein
Bandscheibendruckkraftwert von 3,2 kN sowie ein Tagesdosiswert von 5,5 kNh erreicht werden. Letzteres sei bei dem Kläger nur
im Beschäftigungsabschnitt vom 1. Juli 1985 bis 31. Dezember 1988 erfüllt.
Auf Aufforderung des Senats hat die Beklagte sodann Berechnungen des Präventionsdienstes zur Ermittlung der arbeitstechnischen
Voraussetzungen im Sinne der Kombinationsbelastung aus Expositionen im Sinne der BK Nr. 2108 und BK Nr. 2110 vorgelegt. Mit
Stellungnahme vom 27. Mai 2020 (mit Berechnungstabelle in der Anlage) hat der Präventionsdienst nach seinen Berechnungen für
den Zeitraum vom 1. Januar 1975 bis zum 30. April 1991 eine kumulierte Belastung mit einem Alpha-Wert von 1,571 festgestellt,
der über dem Alpha-Richtwert von 1,0 liegt, bei dessen Vorliegen ein erhöhtes Risiko für die LWS nicht auszuschließen ist,
dass durch eine Mischbelastung aus Heben, Tragen, extremer Rumpfbeugehaltung sowie Ganzkörper-Schwingungen verursacht wird.
An der Einschätzung des 2. Zusatzkriteriums gemäß der Konstellation B2 der Konsensempfehlungen vom 5. Dezember 2019 ändere
sich - so der Präventionsdienst - dadurch nichts. Die vorhandene Software der IFA lasse keine weiteren Berechnungen zu (Stellungnahme
vom 13. Juli 2020). In einer von der Beklagten vorgelegten unfallchirurgischen Stellungnahme der Beratungsärztin Dr. H. vom
9. November 2020 führt diese aus, medizinisch ergäben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass sich die Vibrationsbelastung im
Sinne der BK Nr. 2110 bei dem Kläger besonders ausgewirkt habe.
Auf Hinweis des Senats, dass sich nach der Berechnungstabelle in der Anlage zur Stellungnahme des Präventionsdienstes vom
27. Mai 2020 für einen 10-Jahres-Zeitraum ein Alphawert von über 1,0 als Kombinationsbelastung errechnen lasse, hat die Beklagte
vorgetragen, auch die DGUV (IFA) bestätige auf Anfrage, dass das 2. (und 3.) Zusatzkriterium), soweit bekannt, ausschließlich
im Rahmen der BK 2108-Ermittlung als Kriterium interpretiert werde. Für die Betrachtung der B2 Konstellation sei die Anwendung
der Original-MDD-Richtwerte erforderlich. Diese werde automatisch durch IFA-Anamnese-Software bei Bewertung einer B2 Konstellation
innerhalb einer BK 2108-Berechung berücksichtigt.
Der Senat hat u. a. zur Frage der Anwendbarkeit des 2. Zusatzkriteriums der Konstellation B2 der Konsensempfehlungen auf die
BK Nr. 2110 ergänzende Stellungnahmen des Sachverständigen Prof. Dr. N. vom 30. April 2021 eingeholt. Hinsichtlich des Inhalts
dieser Stellungnahmen wird auf die Gerichtsakten (Band III) verwiesen.
Der Kläger ist der Auffassung, bei der Beurteilung des Vorliegens des 2. Zusatzkriteriums der B2 Konstellation (besonders
intensive Belastung) seien als Richtwert für die Lebensdosis nicht 25 MNh zu fordern, sondern entsprechend der Rechtsprechung
des BSG nur die Hälfte, nämlich 12,5 MNh.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Wiesbaden vom 27. September 2012 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung ihres
Bescheides vom 12. August 2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. Juli 2011 zu verurteilen „auf eine Berufskrankheit
Nr. 2108, 2110 der Lendenwirbelsäule und deren Entschädigung, insbesondere in Form der Verletztenrente und ggf. der Übergangsleistungen“.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält den Kausalzusammenhang zwischen dem LWS-Schaden des Klägers und der berufsbedingten Belastung der Wirbelsäule nicht
für gegeben. Die Voraussetzungen der Konstellation B2 bzw. die dort genannten Zusatzkriterien seien nicht erfüllt.
Wegen weiterer Einzelheiten zum Sach- und Streitstand sowie zum Vorbringen der Beteiligten im Übrigen wird auf die Gerichtsakten
(Band I – II) sowie auf die Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen, die zum Verfahren beigezogen war.
Entscheidungsgründe
Der Senat konnte trotz Abwesenheit des Klägers und seiner Prozessbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung verhandeln
und entscheiden, beide waren ordnungsgemäß geladen und sind in der Ladung darauf hingewiesen worden, dass auch im Falle ihres
Ausbleibens verhandelt und entschieden werden kann (§§
110 Abs.
1 Satz 2,
126 Sozialgerichtsgesetz -
SGG).
Die Berufung ist zum Teil erfolgreich. Zur Überzeugung des Senats steht fest, dass bei dem Kläger die Voraussetzungen sowohl
der BK Nr. 2108 als auch der BK Nr. 2110 der Anlage 1 der
BKV vorliegen. Insoweit war der erstinstanzliche Gerichtsbescheid aufzugeben.
Soweit der Antrag des Klägers allgemein auf „Entschädigung, insbesondere in Form der Verletztenrente und ggf. der Übergangsleistungen“
gerichtet ist, ist die Klage bereits unzulässig und die Berufung unbegründet. Denn zum einen ist der Antrag insoweit weder
auf konkrete Leistungen gerichtet noch hat die Beklagte in ihren Bescheiden über entsprechende konkrete Leistungen entschieden.
Im Entscheidungszeitpunkt stand somit nicht fest, welche der in Frage kommenden Leistungen (Verletztengeld, Rente u.a.) im
konkreten Fall tatsächlich beansprucht werden können und für welchen Zeitraum sie ggf. zu erbringen sind. Über diese Leistungen
kann durch das Gericht auch nicht durch Grundurteil (§
130 Abs.
1 SGG) entschieden werden. Denn die in §
130 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) vorgesehene Möglichkeit zum Erlass eines Grundurteils ist auf Fälle beschränkt, in denen der Kläger eine oder mehrere ihrer
Art nach feststehende Geldleistungen begehrt, auf die ein Rechtsanspruch besteht. Nicht die Leistung als solche, sondern nur
ihre Höhe kann in diesem Fall vom Gericht offengelassen und der Berechnung durch den Sozialleistungsträger überlassen werden.
Schließlich hat die Verurteilung zur Gewährung einer „Entschädigung“ keinen vollstreckbaren Inhalt (vgl. BSG, Urteile vom 7. September 2004 - B 2 U 35/03 R - und vom 30. Januar 2007 - B 2 U 6/06 - jeweils juris; Urteile des erkennenden Senats vom 28. April 2015 - - und vom 11. September 2020 - - jeweils juris).
Der auf Feststellung der BK Nr. 2108 und BK Nr. 2110 gerichtete Antrag ist begründet.
Berufskrankheiten sind nach §
9 Abs.
1 S. 1 Sozialgesetzbuch Siebtes Buch - Gesetzliche Unfallversicherung -
SGB VII Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als Berufskrankheiten bezeichnet
und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach §§
2,
3 oder 6
SGB VII begründenden Tätigkeit erleiden. Nach §
9 Abs.1 Satz 1
SGB VII sind von dem Verordnungsgeber in der
BKV solche Krankheiten als Berufskrankheiten zu bezeichnen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere
Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grade
als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind.
In der Anlage 1 zur
BKV in der Fassung vom 12. Juni 2020 sind unter Nr. 2108 bandscheibenbedingte Erkrankungen der LWS durch langjähriges Heben oder
Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung bezeichnet, die zu chronischen oder
chronisch-rezidivierenden Beschwerden und Funktionseinschränkungen (der LWS) geführt haben. Unter Nr. 2110 sind bandscheibenbedingte
Erkrankungen der LWS durch langjährige, vorwiegend vertikale Einwirkung von Ganzkörperschwingungen im Sitzen erfasst, die
zu chronischen oder chronisch-rezidivierenden Beschwerden und Funktionseinschränkungen (der LWS) geführt haben.
Grundsätzlich sind die in der Berufskrankheitenliste aufgeführten Krankheiten getrennt zu betrachten, weil jede von ihnen
einen eigenen Versicherungsfall bildet. Kann indes wie im Fall der bandscheibenbedingten Erkrankung der LWS ein bestimmtes
Krankheitsbild durch verschiedene berufliche Einwirkungen verursacht werden, die jeweils für sich genommen der Gegenstand
einer eigenen BK sein können, so besteht bei entsprechender Exposition die Möglichkeit, dass die betreffende Krankheit die
Voraussetzungen zweier oder mehrerer BKen gleichzeitig erfüllt, die dann nebeneinander anzuerkennen sind und für die dann
aber eine einheitliche MdE festzusetzen ist (BSG, Urteil vom 27. Juni 2006 - B 2 U 9/05 R - juris).
Voraussetzung für die Feststellung jeder Erkrankung als Berufskrankheit ist zunächst, dass die versicherte Tätigkeit, die
schädigenden Einwirkungen sowie die Erkrankung im Sinne des Vollbeweises nachgewiesen sind. Eine absolute Sicherheit ist bei
der Feststellung des Sachverhalts dabei nicht zu erzielen. Erforderlich ist aber eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit,
wonach kein vernünftiger Mensch mehr am Vorliegen vorgenannter Tatbestandsmerkmale zweifelt (BSGE 6, 144; Meyer-Ladewig,
SGG, 9. Auflage, §
118 Rdnr. 5 m.w.N.). Der Grad der Wahrscheinlichkeit muss so hoch sein, dass alle Umstände des Einzelfalles nach vernünftiger
Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche
Überzeugung hiervon zu begründen (BSGE 45, 285, 287; 61, 127, 128).
Zur Anerkennung einer Berufskrankheit muss zudem ein doppelter ursächlicher Zusammenhang bejaht werden. Die gesundheitsgefährdende
schädigende Einwirkung muss ursächlich auf die versicherte Tätigkeit zurückzuführen sein (sog. Einwirkungskausalität) und
diese Einwirkung muss die als Berufskrankheit zur Anerkennung gestellte Krankheit verursacht haben (haftungsbegründende Kausalität).
Als Beweismaßstab genügt für die ursächlichen Zusammenhänge statt des Vollbeweises die hinreichende Wahrscheinlichkeit, d.
h. bei vernünftiger Abwägung aller für und gegen den Zusammenhang sprechenden Umstände müssen die für den Zusammenhang sprechenden
Erwägungen so stark überwiegen, dass die dagegensprechenden billigerweise für die Bildung und Rechtfertigung der richterlichen
Überzeugung außer Betracht bleiben können (BSG in SozR Nr. 20 zu § 542
RVO a. F.). Der Ursachenzusammenhang ist jedoch nicht schon dann wahrscheinlich, wenn er nicht auszuschließen oder nur möglich
ist (BSGE 60, 58, 59).
Die für die Anerkennung der BK Nr. 2108 und Nr. 2110 Anlage 1 zur
BKV jeweils geforderten besonderen Einwirkungen i. S. des §
9 Abs.
1 Satz 2
SGB VII, die sog. arbeitstechnischen Voraussetzungen, liegen hier vor.
Während seiner Tätigkeit als LKW-Fahrer in Kasachstan in den Jahren 1975 bis 1991, die nach den §§ 2, 13 Bundesvertriebenengesetz (BVFG) i. V. m. § 5 Fremdrentengesetz (FRG) als Versicherungsschutz begründende Beschäftigung zu berücksichtigen ist, war der Kläger nach den Berechnungen des Präventionsdienstes
(Stellungnahme vom 10. Februar 2011 im Verwaltungsverfahren) langjährig und wiederholt vorwiegend vertikalen Ganzkörperschwingungen
in Sitzhaltung ausgesetzt, die mit einer Belastungsdosis Dv von 1741 (m/s2)2 den Dosis-Richtwert Dv von 1450 (m/s2)2 überschreiten,
bei dem angesichts der Expositionsdauer ein erhöhtes Risiko für die LWS anzunehmen ist (vgl. Merkblatt des BMGS vom 1. Mai
2005 zur BK 2110 in: Mehrtens/Brandenburg, Die
Berufskrankheitenverordnung, Stand März 2021, M 2110, S. 9).
Während der den Versicherungsschutz begründenden Tätigkeiten in seinem gesamten Berufsleben vom 1. Januar 1975 bis zum 31.
Oktober 2008 war der Kläger nach den Berechnungen des Präventionsdienstes nach dem dafür anzuwendenden sog. Mainz-Dortmunder-Dosismodell
- MDD - langjährig schwerem Heben von Lasten ausgesetzt mit einer Gesamtdosis von 25,9 MNh (Stellungnahme vom 22. März 2016
im Berufungsverfahren). Der Richtwert von 25 MNh, bei dem nach aktuellem Stand ein erhöhtes Risiko für eine bandscheibenbedingte
Erkrankung der LWS anzunehmen ist (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Auflage, S. 525
ff.), ist damit überschritten. Der hälftige Orientierungswert von 12,5 MNh, bei dem nach der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 30. Oktober 2007 - B 2 U 4/06 R - juris) das Vorliegen einer BK bereits mangels Vorliegens der arbeitstechnischen Voraussetzungen ausgeschlossen werden kann,
ist bei weitem überschritten.
Auch die Listenerkrankung ist so, wie sie in der Neufassung der Anlage 1 zur
BKV sowohl zur Nr. 2108 als auch zur Nr. 2110 gefordert wird, im Vollbeweis gesichert. Bei dem Kläger liegt eine bandscheibendingte
Erkrankung der beiden unteren LWS-Segmente L4/5 und L5/S1 vor. Für diese Feststellung stützt sich der Senat auf die Ausführungen
des Sachverständigen Prof. Dr. N. in dessen Gutachten vom 22. Mai 2014 und das radiologische Zusatzgutachten von Dr. P. vom
2. Mai 2014. Demnach liegt bei dem Kläger radiologisch an den beiden unteren LWS-Segmenten jeweils eine drittgradige Chondrose
(Erstdiagnose: 1. September 2008) sowie jeweils ein Bandscheibenprolaps (Erstdiagnose: 23. Juli 2012) vor und damit entsprechend
den Konsensempfehlungen (s. dort S. 214 Übersicht 1 und S. 215 Übersicht 6) zum jeweils festgestellten Zeitpunkt eine altersuntypische
Veränderung. Klinisch werden in der Beschreibung der Listenerkrankungen zu der BK Nr. 2108 und BK Nr. 2110 zudem chronische
oder chronisch-rezidivierende Beschwerden und Funktionseinschränkungen gefordert. Die Beschreibungen nehmen in der Neufassung
damit die Beschwerdesymptomatik auf, die in dem Merkblatt zu der BK Nr. 2108 (Bek. des BMAS vom 1. September 2006; s. in:
Mehrtens/Brandenburg, a. a. O., M 2108 S. 4) und in den Konsensempfehlungen (s. dort S. 215) für die Annahme einer bandscheibenbedingten
Erkrankung gefordert werden. Prof. Dr. N. hat für den Senat nachvollziehbar anhand seiner Untersuchungsergebnisse, der Auswertung
der Akten und unter Auseinandersetzung mit den Vorgutachten von Dr. M. dargelegt, dass bei dem Kläger für den Zeitpunkt der
Berufsaufgabe sowie zum Zeitpunkt der Untersuchung des Sachverständigen eine korrelierende klinische Symptomatik in Form eines
lokalen Lumbalsyndroms mit zunehmenden Beschwerden zu konstatieren ist. Er weist darauf hin, dass nach Aktenlage Beschwerden
des Klägers an der unteren LWS schon Ende der 80er Jahre festgestellt und behandelt worden sind. Im Übrigen habe - so der
Sachverständige - der behandelnde Orthopäde Dr. F. als Ergebnis seiner Untersuchung am 9. Juni 2005 über einen Segmentbefund
mit Federungsschmerz L4/5 und L5/S1 sowie funktionell eine Entfaltungsstörung der LWS berichtet, was dafür spreche, dass schon
zu diesem Zeitpunkt ein lokales Lumbalsyndrom vorgelegen hat. Die entgegenstehende Annahme des Sachverständigen Dr. M., eine
bandscheibenbedingte Erkrankung liege nicht vor, da die klinische Symptomatik fehle, hat Prof. Dr. N. für den Senat damit
überzeugend widerlegt.
Die bandscheibenbedingte LWS-Erkrankung des Klägers ist nach Auffassung des Senats auch hinreichend wahrscheinlich auf die
physikalischen Einwirkungen während seines Berufslebens zurückzuführen.
Die Kausalitätsfeststellungen zwischen den einzelnen Gliedern des Versicherungsfalles basieren auf der im gesetzlichen Unfallversicherungsrecht
geltenden Theorie der wesentlichen Bedingung. Danach geht es auf einer ersten Stufe der Kausalitätsprüfung um die Frage, ob
ein Zusammenhang im naturwissenschaftlichen Sinne vorliegt, d. h. - so die neueste Rechtsprechung des Bundessozialgerichts
- ob eine objektive Verursachung zu bejahen ist (BSG, Urteil vom 24. Juli 2012 - B 2 U 9/11 R - juris). Beweisrechtlich ist zudem zu beachten, dass der möglicherweise aus mehreren Schritten bestehende Ursachenzusammenhang
positiv festgestellt werden muss (BSG, Urteil vom 9. Mai 2006 - B 2 U 1/05 R - juris) und dass die Anknüpfungstatsachen der Kausalkette im Vollbeweis vorliegen müssen (BSG, Beschluss vom 23. September 1997 - 2 BU 194/97 - Deppermann-Wöbbeking in: Thomann (Hrsg.), Personenschäden und Unfallverletzungen, Referenz Verlag Frankfurt 2015, Seite
630). In einer zweiten Prüfungsstufe ist sodann durch Wertung die Unterscheidung zwischen solchen Ursachen notwendig, die
wesentlich sind, weil sie rechtlich für den Erfolg verantwortlich gemacht werden, und den anderen, für den Erfolg rechtlich
unerheblichen Ursachen (BSG, Urteil vom 9. Mai 2006, a. a. O.; BSG, Urteil vom 24. Juli 2012 - a. a. O.).
Als wissenschaftliche Grundlage für die Beurteilung des Ursachenzusammenhangs bei der BK Nr. 2108 und der BK Nr. 2110 legt
der Senat nach seiner ständigen Rechtsprechung (vgl. u. a. Urteile des erkennenden Senats vom 18. August 2009 - - vom 24.
Januar 2017 - - vom 25. April 2017 - L 3 U 252/15 - vom 28. November 2017 - L 3 U 1/16 - und vom 30. Juni 2020 - L 3 U 141/14 - jeweils juris) die oben erwähnten Konsensempfehlungen zugrunde, in denen die für einen Zusammenhang sprechende Kriterien
aus biomechanischen Plausibilitätsüberlegungen und aus der Auswertung der verfügbaren epidemiologischen Evidenz zusammengestellt
sind sowie typische Fallkonstellationen definiert und die Einschätzung der Experten zur Beurteilung des Ursachenzusammenhangs
entsprechend der jeweiligen Befundkonstellation wiedergegeben sind. Die Konsensempfehlungen bilden nach der aktuellen Rechtsprechung
des Bundessozialgerichts (s. dazu zuletzt Urteil vom 23. April 2015 - B 2 U 20/14 R - juris) weiterhin den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand ab.
Die Grundvoraussetzungen für die Anerkennung eines Ursachenzusammenhangs nach den Konsensempfehlungen (a. a. O., S. 216) wie
ein altersuntypischer Schaden und eine plausible zeitliche Korrelation zu dessen Entwicklung sind hier gegeben. Nach den überzeugenden
Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. N. liegt seit dem 9. Juni 2005 (Befund des Orthopäden Dr. F. zu entsprechenden
Röntgenbildern der LWS) eine altersuntypische Chondrose mit Bandscheibenverschmälerung vor. Diesem altersuntypischen Schaden
ist wie oben ausgeführt eine ausreichende berufliche Belastung vorausgegangen.
Vorliegend ist nach Auffassung des Senats eine der in den Konsensempfehlungen definierten B-Konstellationen gegeben, bei denen
der Zusammenhang von den Experten als wahrscheinlich beurteilt worden ist.
Für sämtliche B-Konstellationen wird nach den Konsensempfehlungen vorausgesetzt, dass die bandscheibenbedingte Erkrankung
nach ihrer Lokalisation die Segmente L5/S1 und/oder L4/L5 betrifft und eine Ausprägung als Chondrose Grad II oder höher und/oder
eines Vorfalles hat. Hier ist, wie ausgeführt, ein entsprechender bisegmentaler Bandscheibenschaden der unteren LWS-Segmente
gesichert.
Eine Anerkennung dieses LWS-Schadens unter der Konstellation B1 der Konsensempfehlungen scheidet dabei aus, weil es am Vorliegen
einer Begleitspondylose fehlt, die als ein maßgebliches Positivkriterium für die Annahme des Kausalzusammenhangs zu sehen
ist (Konsensempfehlungen, a. a. O., S. 217). Als Begleitspondylose wird in den Konsensempfehlungen eine Spondylose definiert,
die entweder in dem nicht von Chondrose oder Vorfall betroffenen Segment vorliegt oder zwar in dem von Chondrose oder Vorfall
betroffenen Segment aufgetreten ist, aber nachgewiesenermaßen vor dem Eintritt der bandscheibenbedingten Erkrankung (Konsensempfehlungen,
a. a. O., S. 216). Nach den übereinstimmenden radiologischen Befunden u. a. von Dr. P. liegt eine solche Begleitspondylose
hier nicht vor.
Die Bandscheibenerkrankung des Klägers in den beiden unteren Segmenten erfüllt indes die Voraussetzungen der Konstellation
B2. Bei dieser Konstellation fehlt die Begleitspondylose als maßgebliches Positivkriterium für die Annahme des Zusammenhangs,
und dieser wird nur dann als wahrscheinlich angesehen, wenn stattdessen eines der drei in der Konstellation genannten Zusatzkriterien
erfüllt ist. Der Sachverständige Prof. Dr. N. hat diese Konstellation B2 nach den Konsensempfehlungen aus medizinischer Sicht
als möglich angesehen, da bei dem Kläger zum Zeitpunkt der Unterlassung der gefährdenden Tätigkeit am 1. November 2008 kein
Bandscheibenschaden an der Halswirbelsäule (HWS) vorgelegen hat und keine wesentlichen außerberuflich bedingten konkurrierenden
Ursachenfaktoren vorliegen.
Das 1. Zusatzkriterium der Konstellation B2 („Höhenminderung und/oder Prolaps an mehreren Bandscheiben - bei monosegmentaler/m
Chondrose/Vorfall in L5/S1 oder L4/L5 „black disc“ im Magnetresonanztomogramm in mindestens 2 angrenzenden Segmenten“) ist
hier nicht nachgewiesen. Prof. Dr. N. hat das Vorliegen dieses Kriteriums gar nicht diskutiert. Mit der Beratungsärztin Dr.
H. in ihrer Stellungnahme vom 15. November 2010 ist der Senat nach seiner ständigen Rechtsprechung der Auffassung, dass der
Begriff „mehrere“ im Sinne dieses Zusatzkriteriums die Erkrankung von mindestens drei angrenzenden Segmenten, mindestens in
Form einer black disc erfordert (vgl. zur Begründung u. a. Urteile des erkennenden Senats vom 27. März 2012 - - vom 22. November
2016 - - jeweils juris und vom 30. Juni 2020 - L 3 U 141/14). Vorliegend ist indes nur ein bisegmentaler Bandscheibenschaden an den beiden unteren LWS-Segmenten gesichert. Eine degenerative
Erkrankung im Sinne einer black disc im angrenzenden Segment lässt sich nicht nachweisen, da das dafür erforderliche MRT wegen
des Herzschrittmachers des Klägers nicht durchgeführt werden kann.
Die Annahme der Konstellation B2 hat der Sachverständige Prof. Dr. N. von weiteren Berechnungen des Präventionsdienstes zu
dem Vorliegen (u.a.) des 2. Zusatzkriteriums dieser Konstellation („Besonders intensive Belastung; Anhaltspunkt: Erreichen
des Richtwertes für die Lebensdosis in weniger als 10 Jahren) abhängig gemacht. Auf der Grundlage dieser im Berufungsverfahren
erfolgten Berechnungen des Präventionsdienstes, die sich an den Konsensempfehlungen, insbesondere an den dort dargelegten
Belastungsrichtwerten (Konsensempfehlungen Teil II S. 322 – 324) orientieren und deren Parameter für den Senat nachvollziehbar
sind, lässt sich nach Auffassung des Senats vorliegend eine besonders intensive Belastung im Sinne des 2. Zusatzkriteriums
feststellen.
Diese besonders intensive Belastung erfüllt der Kläger indes nicht allein durch seine berufliche Exposition im Sinne der
BK Nr. 2108. Den Richtwert für die Lebensdosis durch langjähriges schweres Heben und Tragen von Lasten, bei dem nach aktuellem
Stand ein erhöhtes Risiko für eine bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS anzunehmen ist, erreicht er nach den Berechnungen
des Präventionsdienstes nicht in weniger als 10 Jahren. Ebenso wie die Beklagte bzw. der Präventionsdienst legt der Senat
dabei als Richtwert für die Mindest-Lebensdosis im Sinne des 2. Zusatzkriteriums der Konstellation B2 den Richtwert nach dem
Original-MDD für Männer von 25 MNh zu Grunde. Dieser Wert ist auch unter Berücksichtigung des Urteils des BSG vom 30. Oktober 2007 (B 2 U 4/06 R) weiterhin anzuwenden. Das Bundessozialgericht hat in dieser Entscheidung das Unterschreiten des halbierten MDD-Orientierungswertes,
also ein Unterschreiten von 12,5 MNh, als „Abschneidekriterium“ festgelegt, das dazu führt, dass ohne medizinische Ermittlungen
bereits alleine wegen der Nichterfüllung der arbeitstechnischen Voraussetzungen eine BKNr. 2108 zu verneinen ist. Dieser von
dem BSG entwickelte Mindestbelastungswert als Maßstab einer Untergrenze für die Notwendigkeit der Aufnahme medizinischer Ermittlungen
lässt sich nicht auf das spezielle Beurteilungskriterium der „besonders intensiven Belastung“ übertragen, welches auf dem
in den Konsensempfehlungen erzielten (medizinischen) Konsens der Experten beruht (s. dazu im Einzelnen Urteil des erkennenden
Senats vom 25. April 2017 - L 3 U 252/15 - juris; Schönberger/Mehrtens/Valentin, a. a. O., S. 536, S. 538; Urteil des 9. Senats des HLSG vom 23. Januar 2017 - -
juris; Kranig „Die Krux mit dem Kreuz - Anmerkungen zu den Urteilen des BSG vom 23. April 2015 zur Berufskrankheit Nr. 2108“ in: SGb 2016, 504-510; Mehrtens/Brandenburg, a. a. O.). Das BSG hat in seiner Entscheidung vom 23. April 2015 (B 2 U 10/14 R - juris) zwar die von dem LSG Sachsen (Urteil vom 28. Januar 2014 - L 6 U 111/11 - juris) auch im Hinblick auf das 2. Zusatzkriterium der B2 Konstellation vorgenommene Halbierung des MDD-Orientierungswertes
auf 12,5 MNh nicht beanstandet. Es hat dabei aber auf die diesbezüglich unterschiedlichen Meinungen in Rechtsprechung und
Literatur hingewiesen und ausgeführt, dass nicht erkennbar sei, dass der vom LSG Sachsen zugrunde gelegte wissenschaftliche
Erfahrungssatz hinsichtlich der „besonders intensiven Belastung“ offenkundig falsch sei oder in der Wissenschaft allgemein
angegriffen werde. Es bestehe zwar - so das BSG - aufgrund des durchaus kontroversen Standes der wissenschaftlichen Erkenntnisse im konkreten Anwendungsfall der BK Nr. 2108
die Gefahr, dass Tatsachengerichte zur Feststellung unterschiedlicher Erfahrungssätze gelangen könnten, dies müsse dann jedoch
jeweils revisionsrechtlich akzeptiert werden.
Die besonders intensive Belastung ist hier auch nicht allein durch die Exposition im Sinne der BK Nr. 2110 erfüllt. Dabei
geht der Senat mit dem Sachverständigen Prof. Dr. N., der an den Konsensempfehlungen als Autor mitgewirkt hat, davon aus,
dass das 2. Zusatzkriterium der Konstellation B2 auch auf die Berufskrankheit 2110 angewendet werden muss. Wie der Sachverständige
in seiner Stellungnahme vom 30. April 2021 zutreffend ausführt, beziehen sich die Beurteilungskriterien in den Konsensempfehlungen
auf bandscheibenbedingte Berufskrankheiten der LWS, wozu sowohl die BK Nr. 2108 als auch die BK Nr. 2110 gehören. An mehreren
Stellen in den Konsensempfehlungen wird die BK Nr. 2110 erwähnt (vgl. u. a. Teil (I) „Zusammenfassung“ S. 213 und Teil (II)
„Belastungsrichtwerte für die BK 2110“ S. 324). Anhaltspunkt für die besonders intensive Belastung bei Beurteilung des 2.
Zusatzkriteriums im Rahmen der BK Nr. 2110 ist das Erreichen des Richtwertes an Ganzkörperschwingungsbelastung, bei dem angesichts
der Expositionsdauer ein erhöhtes Risiko für die LWS anzunehmen ist, in weniger als 10 Jahren. Nach den Berechnungen des Präventionsdienstes
von Februar 2011 im Verwaltungsverfahren ist der Dosisrichtwert von Dv 1450 (m/s2)2 für eine solche Schwingungsbelastung in
den 16 Dosisjahren in Kasachstan zwar um 20% überschritten, in 10 Jahren wurden aber nur etwa 75% dieses Dosisrichtwertes
erreicht.
Der Kläger hat nach Auffassung des Senats indes den Alpha-Richtwert von 1,0 für die Lebensdosis in weniger als 10 Jahren erreicht,
bei dem nach den Darlegungen des Präventionsdienstes (Anlage zur ergänzenden Stellungnahme des Präventionsdienstes vom 27.
Mai 2020) bei einer Mischbelastung aus Heben und Tragen oder extremer Rumpfbeugehaltung sowie Ganzkörper-Schwingungen ein
erhöhtes Risiko für die LWS nicht auszuschließen ist. Auch dieser Belastungsrichtwert bei einer Kombinationsbelastung der
BK Nr. 2108 und BK Nr. 2110 ist nach Auffassung des Senats für die Beurteilung einer besonders intensiven Belastung im Sinne
des 2. Zusatzkriteriums maßgeblich, denn die Einwirkungen durch die vertikalen Ganzkörperschwingungen und durch Tätigkeiten
mit schwerem Heben und Tragen sind zusammen zu betrachten. Nach aktuellem wissenschaftlichen Erkenntnisstand sind bei der
Festlegung von Belastungsgrenzwerten, die im Verlauf der versicherten Berufstätigkeit mindestens erreicht worden sein müssen,
damit ein rechtlich relevanter Ursachenzusammenhang mit der späteren Erkrankung angenommen werden kann, synergetische und
additive Wirkungen zu berücksichtigen, die sich beim Zusammentreffen mehrerer schädlicher Einwirkungen ergeben. Nach derzeitigem
Stand der arbeitsmedizinischen Erkenntnisse ist es nicht möglich, bei einer bandscheibenbedingten Erkrankung der LWS die unterschiedlichen
Einwirkungen im Sinne der BK Nr. 2108 und BK Nr. 2110 hinsichtlich ihres Beitrags zur Entstehung der Krankheit sowie den Auswirkungen
auf die Erwerbsfähigkeit des Versicherten voneinander zu trennen (BSG, Urteil vom 27. Juni 2006 - B 2 U 9/05 R - juris; Brandenburg, BG 1993, 791, 794; Schönberger/Mehrtens/Valentin, a. a. O., S. 545; Merkblatt zu der BK Nr. 2108 in:
Mehrtens/Brandenburg, a. a. O., M 2108 - S. 11; Merkblatt des BMGS v. 1. Mai 2005 in: Mehrtens/Brandenburg, a. a. O., M 2110
S. 2).
Für den Zeitraum vom 1. Januar 1975 bis 30. April 1991 war der Kläger sowohl Belastungen durch vertikale Ganzkörperschwingungen
als auch Belastungen durch Tätigkeiten mit schwerem Heben und Tragen von Lasten ausgesetzt. Nach der von dem Senat von dem
Präventionsdienst angeforderten Berechnung der Kombinationsbelastung für die BK Nr. 2108 und BK Nr. 2110 (s. Berechnungstabelle
als Anlage zur Stellungnahme vom 27. Mai 2020) ergibt sich für den gesamten Zeitraum von ca. 15 Jahren und vier Monaten ein
kumulierter Belastungsgrad mit einem Alphawert insgesamt von 1,571, der über dem Alpha-Richtwert von 1,0 liegt, bei dem ein
erhöhtes Risiko für die LWS nicht auszuschließen ist, das durch eine Mischbelastung verursacht wird. Die betreffende Tabelle
ermöglicht durch die dort aufgeführten Daten bzw. im Einzelnen errechneten Belastungsgrade auch die Ermittlung der Kombinationsbelastung
für einen 10-Jahreszeitraum. Der Senat ist bei vorhandenem Datenmaterial nicht daran gehindert, diese ihm möglichen Berechnungen
vorzunehmen. Die Tatsache, dass nach den Angaben des Präventionsdienstes die vorhandene Software der IFA keine weiteren Berechnungen
zulässt, darf der Ermittlung auf andere Art und Weise nicht entgegenstehen. Nach der Berechnungstabelle vom 27. Mai 2020 lag
eine besonders erhebliche Exposition sowohl durch Heben und Tragen als auch durch Schwingungen in dem Zeitraum von 3 ½ Jahren
vom 1. Juli 1985 bis zum 31. Dezember 1988 vor. Allein für diesen Zeitraum ermittelt sich ein Belastungsgrad von 0,557 (=0,499+0,058).
In dem Zeitraum vom 1. Januar 1979 bis zum 30. Juni 1985 (6,5 Jahre) ergibt sich nach den Werten in der betreffenden Tabelle
ein Belastungsgrad von 0,469 (= 0,758 x 6,50 : 10,5). Insgesamt ist damit in einem 10-Jahreszeitraum vom 1. Januar 1979 bis
zum 31. Dezember 1988 ein Belastungsgrad von 1,026 (= 0,557+0,469) festzustellen und damit ein Wert, der über dem Alpha-Richtwert
von 1,0 liegt und eine besonders intensive Belastung im Sinne des 2. Zusatzkriteriums der Konstellation B2 indiziert.
Der Senat weist im Übrigen darauf hin, dass selbst dann, wenn man, anders als der erkennende Senat, das 2. Zusatzkriterium
der Konstellation B2 nicht als erfüllt ansehen würde, im vorliegenden Fall der ursächliche Zusammenhang zwischen beruflicher
Belastung und Erkrankung als hinreichend wahrscheinlich zu bewerten wäre. Prof. Dr. N. hat in seinem Gutachten schon darauf
hingewiesen, dass in diesem Fall die Konstellation B3 der Konsensempfehlungen in Betracht zu ziehen ist. Bei dieser Konstellation
(„wie Konstellation B2, aber keins der unter B2 genannten Zusatzkriterien erfüllt“) bestand unter den Autoren kein Konsens
hinsichtlich der Beurteilung des Ursachenzusammenhangs. Dies ist aber nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG, Urteil vom 23. April 2015 - B 2 U 6/13 R - juris Rn. 26) nicht so zu deuten, dass damit eine Anerkennung des Verursachungszusammenhanges im Einzelfall unmöglich wäre.
Vielmehr ist im Rahmen einer Einzelfallprüfung abzuwägen, ob die Erkrankung ohne die in der Konstellation B2 genannten Zusatzkriterien
durch die berufliche Exposition verursacht werden konnte. Im konkreten Fall lässt sich ein deutliches Überwiegen der Indizien
feststellen, die für den beruflichen Zusammenhang sprechen (vgl. auch Urteile des erkennenden Senats vom 22. November 2016
und vom 30. Juni 2020, jeweils a. a. O.). Dabei imponiert bei Fehlen außerberuflich bedingter konkurrierender Ursachenfaktoren
insbesondere die beruflich bedingte Belastung der LWS während des Arbeitslebens des Klägers. Allein durch schweres Heben im
Sinne der BK Nr. 2108 liegt mit einer Gesamtbelastungsdosis im gesamten Berufsleben des Klägers von 25,9 MNh eine mehr als
doppelt so hohe Exposition vor, wie sie das BSG voraussetzt, um eine berufliche Verursachung zu diskutieren. Zum anderen ist die LWS des Klägers eben nicht nur durch dieses
schwere Heben belastet worden, sondern auch durch vertikale Schwingungen im Sinne der BK Nr. 2110. Auch bei dieser Exposition
überschreitet er mit der ermittelten Gesamtdosis wie ausgeführt den Dosis-Richtwert, bei dem angesichts der Expositionsdauer
ein erhöhtes Risiko für die LWS anzunehmen ist. Schließlich gilt dies nach den Berechnungen des Präventionsdienstes auch für
die Kombinationsbelastung aus schwerem Heben und Ganzkörperschwingungen während Berufsjahre in Kasachstan, die deutlich über
dem Alpha-Richtwert liegt, bei dem ein erhöhtes Risiko für die LWS anzunehmen ist. Diese extreme berufliche Belastung für
die LWS wird durchaus durch die medizinischen Befunde gestützt, insbesondere auch durch die frühen Befunde nach 10 bis 15
Jahren Berufstätigkeit in Kasachstan bzw. der früheren UdSSR. Prof. Dr. N. hat in seinem Gutachten zutreffend ausgeführt,
dass der Kläger seit Ende der 80er Jahren, d.h. in einem Alter von unter 40 Lebensjahren, schon Beschwerden im Bereich der
unteren LWS hatte, und auf den Bericht aus der neurologischen Abteilung des Reha-Zentrums Q. in der UdSSR hingewiesen. Dort
wurde der Kläger vom 12. Dezember 1989 bis zum 12. Januar 1990 behandelt und eine Lumbal-Osteochondrose mit ausgeprägtem Schmerzsyndrom
und „vermindertem Rückblutkreislauf“ diagnostiziert. Bei der körperlichen Untersuchung fand sich eine Hypästhesie L5/S1; Röntgenologisch
wurde eine Osteochondrose mit mäßigem Abbau der Zwischenwirbelscheibe L5/S1 diagnostiziert. Schließlich hat die weitere erhebliche
Wirbelsäulenbelastung durch die Tätigkeit nach der Einreise in die Bundesrepublik zu einer frühzeitigen Berufsaufgabe des
Klägers im Jahr 2008 im Alter von 56 Lebensjahren geführt.
Die Revision war nicht zuzulassen, da keine Zulassungsgründe nach §
160 Abs.
2 SGG vorliegen. Insbesondere ist der Zulassungsgrund nach §
160 Abs.
2 Nr.
1 (grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache) nicht gegeben. Zwar ist die Rechtsfrage, wann das 2. Zusatzkriterium der Konstellation
B2 vorliegt, über den Einzelfall hinaus von Bedeutung. Diese klärungsbedürftige Rechtsfrage ist indes für den hier konkret
zur Entscheidung anstehenden Fall nicht von Relevanz (vgl. zur Notwendigkeit der Entscheidungserheblichkeit Leitherer in:
Meyer-Ladewig,
SGG, §
160 Rn. 9). Wie ausgeführt, ist der Kausalzusammenhang zwischen beruflicher Belastung und Erkrankung in diesem besonderen Einzelfall
auch dann anzunehmen, wenn man - andere als der erkennende Senat - davon ausgeht, dass das 2. Zusatzkriterium der Konstellation
B2 der Konsensempfehlungen nicht vorliegt.