Tatbestand
Der Kläger begehrt nach erklärtem Verzicht die "Annullierung" des bei ihm festgestellten Grades der Behinderung (GdB).
Der im Jahr 1983 geborene Kläger beantragte am 22.09.2009 gegenüber dem Kreis Borken erstmals die Feststellung eines GdB.
Er gab insbesondere an, dass er im Alter von 14 Jahren an epileptischen Anfällen erkrankt sei. Da diese nicht therapierbar
gewesen seien, habe er sich im Jahr 2000 einem epilepsiechirurgischen Eingriff unterzogen, der zu Anfallsfreiheit, aber u.a.
auch zu einer erheblichen Konzentrationsschwäche geführt habe. Der Kläger legte Entlassungs- und Befundberichte verschiedener
Kliniken vor, in denen er sich in den Jahren 2000 bis 2008 aufgehalten bzw. vorgestellt hatte. Der Kreis Borken forderte Befundberichte
der behandelnden Ärzte und einen aktuellen Entlassungsbericht des W-Hospitals Rhede vom 05.10.2009 an, der folgende Diagnosen
enthielt:
- paranoide Schizophrenie,
- lokalisationsbezogene (fokale) (partielle) symptomatische Epilepsie und epileptische Syndrome mit einfachen fokalen Anfällen,
- Zustand nach erweiterter Läsionektomie fronto-dorsal und fronto-lateral.
Gestützt auf eine gutachtliche Stellungnahme des ärztlichen Dienstes, stellte der Kreis Borken mit Bescheid vom 20.11.2009
bei dem Kläger für die Zeit ab dem 22.09.2009 einen GdB von 70 fest und berücksichtigte folgende Behinderungen:
1. Epilepsie, Hirnoperation 2000, tuberöse Sklerose, psychische Behinderung (Einzel-GdB 70),
2. Asthma bronchiale (Einzel-GdB 10).
Am 30.11.2009 beantragte der Kläger die rückwirkende Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft ab dem Jahr 1998, woraufhin
ihm der Kreis Borken am 03.12.2009 eine "Bescheinigung" ausstellte, mit der er das Vorliegen eines GdB von 70 ab dem 01.05.1998
nachweisen konnte.
Seit dem 11.08.2016 stand der Kläger unter der Betreuung seiner Mutter (Beschluss des Amtsgerichts [AG] Borken vom 11.08.2016,
23 XVII 124/16). Der Aufgabenkreis umfasste Aufenthaltsbestimmung, Gesundheitsfürsorge und Vermögensangelegenheiten.
Am 18.08.2016 stellte die Betreuerin für den Kläger einen Änderungsantrag.
Der Kreis Borken forderte erneut Befundberichte der behandelnden Ärzte sowie Entlassungsberichte des Universitätsklinikums
Münster und des W-Hospitals Rhede an, in dem sich der Kläger zuletzt in der Zeit vom 03. bis 16.07.2016 in stationärer Behandlung
befunden und wo nunmehr die Diagnosen
- organische schizophrenieforme Störung,
- fokale Epilepsie bei Dysplasie Typ IIb
gestellt wurden.
Gestützt auf eine gutachtliche Stellungnahme des ärztlichen Dienstes, stellte der Kreis Borken mit Bescheid vom 07.11.2016
unter Aufhebung des Bescheides vom 20.11.2009 daraufhin ab dem 18.08.2016 bei dem Kläger einen GdB von 80 fest, wobei er (weiterhin)
folgende Behinderungen berücksichtigte:
1. Epilepsie, Hirnoperation, tuberöse Sklerose, psychische Behinderung (Einzel-GdB 80),
2. Asthma bronchiale (Einzel-GdB 10).
Nach einem entsprechenden Antrag des Klägers hob das AG Borken mit Beschluss vom 02.01.2019, 23 XVII 124/16 die Betreuung
des Klägers auf. In seiner Begründung stützte sich das Gericht auf ein Gutachten des Sachverständigen Dr. A vom 13.12.2018,
in dem dieser zu dem Ergebnis gekommen war, dass der Kläger in der Lage sei, einen freien Willen zu bilden.
Am 01.04.2019 verzog der Kläger nach Münster.
Mit am 08.04.2019 bei dem Kreis Borken eingegangenem Schreiben vom 29.03.2019 erklärte der Kläger seinen Verzicht auf den
Schwerbehindertenausweis und beantragte, die Schwerbehinderung zu "annullieren". Er wies darauf hin, dass er bereits bei einer
persönlichen Vorsprache am 03.05.2016 und unter dem 02.01.2016 schriftlich mitgeteilt habe, dass er seinen Schwerbehindertenausweis
zurückgeben und auf die Anerkennung als schwerbehinderter Mensch verzichten wolle. Er erbitte eine Bestätigung der Annullierung
seiner Schwerbehinderung bzw. seines Schwerbehindertenausweises und eine Bestätigung, dass in der Zeit vom 03.05.2016 bis
17.08.2016 eine Schwerbehinderung nicht bestanden habe. Der Kläger legte Kopien seines Schreibens vom 02.01.2016 und eines
aufgrund seiner Vorsprache am 03.05.2016 gefertigten Vermerks vor.
Der Kreis Borken stellte daraufhin mit Bescheid vom 25.04.2019 fest, dass der GdB des Klägers weniger als 20 betrage. Es sei
eine Änderung der Verhältnisse i.S.d. § 48 Abs. 1 SGB X eingetreten, da der Kläger auf seine Anerkennung als schwerbehinderter Mensch verzichten wolle.
Am 26.04.2019 erhob der Kläger Widerspruch. Er begehre die Feststellung eines GdB von 0.
Mit Widerspruchsbescheid vom 06.05.2019 wies die Bezirksregierung Münster den Widerspruch des Klägers zurück. Die Formulierung
"weniger als 20" sei durch die rechtlichen Vorgaben bedingt, habe aber keinen anderen Inhalt als die von ihm begehrte Feststellung.
Seine Beeinträchtigungen seien mit einem GdB von 0 antragsgemäß bewertet.
Am 29.05.2019 hat der Kläger beim Sozialgericht (SG) Münster gegen den Kreis Borken Klage erhoben. Das SG hat eine gegen die Beklagte gerichtete Klage eingetragen.
Der Kläger hat vorgetragen, der Kreis Borken habe ihm bereits während seiner Vorsprache am 03.05.2016 bestätigt, dass seine
Schwerbehinderung annulliert und der GdB auf 0 zurückgesetzt worden seien. Aus dem Bescheid vom 07.11.2016 sei jedoch hervorgegangen,
dass für den Zeitraum 22.09.2009 bis 17.08.2016 ein GdB von 70 bestanden habe. Er begehre weiterhin die Feststellung eines
GdB von 0 und die Annullierung seines Schwerbehindertenausweises für den Zeitraum 03.05.2016 bis 17.08.2016. Seine Eltern
hätten die Feststellungen gegen seinen Willen beantragt. Auch seien seine psychischen Krankheiten weder real existent gewesen
noch existierten sie realiter. Er bitte auch um Prüfung, ob sein Schwerbehindertenausweis für die Zeit ab dem 22.09.2009 zu
revidieren sei.
Der Kläger hat schriftsätzlich sinngemäß beantragt,
die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 25.04.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06.05.2019 zu verurteilen,
für die Zeit ab dem 03.05.2016 einen GdB von 0 festzustellen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte ist der Ansicht gewesen, der Kläger habe keinen Anspruch auf die Feststellung eines GdB von 0. Eine Feststellung
erfolge erst ab einem GdB von 20. Der Kläger habe aber die Möglichkeit, seinen Schwerbehindertenausweis zurückzusenden und
vermerken zu lassen, dass er auf die Feststellung einer Behinderung verzichtet habe.
In einem Termin am 13.12.2019 hat das SG die Angelegenheit mit den Beteiligten erörtert. Mit Schreiben vom 10.01.2020 hat das SG die Beteiligten zur Entscheidung durch Gerichtsbescheid angehört und darauf hingewiesen, dass die Klage keine Aussicht auf
Erfolg habe. Es bestehe kein Rechtsschutzbedürfnis für die Feststellung eines GdB von 0. Sofern der Kläger sich auch gegen
GdB-Feststellungen für frühere Zeiträume wende, seien diese bestandskräftig geworden.
Mit dem Kläger am 13.05.2020 zugestellten Gerichtsbescheid vom 11.05.2020 hat das SG die Klage abgewiesen. Diese sei unzulässig. Für die Feststellung eines GdB von 0 bestehe kein Rechtsschutzbedürfnis, weil
er daraus keinen rechtlichen oder tatsächlichen Vorteil erlange. Die Feststellung eines GdB von unter 20 komme der Feststellung
eines GdB von 0 gleich. Nach § 152 Abs. 1 Satz 6 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch - Rehabilitation und Teilhabe von Menschen
mit Behinderungen - (
SGB IX) sei eine Feststellung eines GdB nur zu treffen, wenn ein GdB von wenigstens 20 vorliege. Dem Begehren des Klägers sei mit
der getroffenen Feststellung vollumfänglich entsprochen worden. Sofern die Klage gegen die Feststellung eines GdB von 80 im
Jahr 2016 gerichtet sei, sei sie unzulässig. Der Bescheid vom 07.11.2016 sei bestandskräftig.
Am 15.06.2020 (Montag) hat der Kläger Berufung eingelegt.
Zur Begründung führt er aus, die GdB-Feststellung im Jahr 2009 sei auf Druck seiner Eltern veranlasst worden. Seinem Begehren
entspräche die Bestätigung, dass er keine amtlich festgestellte Schwerbehinderung habe bzw. dass sein GdB weniger als 20 betrage,
was mit einem GdB von 0 vergleichbar sei. Darüber hinaus bevorzuge er allerdings unter Umständen die rückwirkende Annullierung,
rückwirkende Ungültigkeitserklärung bzw. rückwirkende Nichtigkeitserklärung der ausgestellten Schwerbehindertenausweise mindestens
für den Zeitraum 01.05.1998 bis 25.04.2019.
Der Kläger beantragt schriftsätzlich sinngemäß,
den Gerichtsbescheid des SG Münster vom 11.05.2020 zu ändern und die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheides
des Kreises Borken vom 25.04.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06.05.2019 zu verpflichten, für die Zeit ab
dem 01.05.1998 einen GdB von 0 festzustellen.
Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält den Gerichtsbescheid für zutreffend.
Auf den Hinweis des Senats, dass die Regelung des Bescheides vom 25.04.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
06.05.2019 weder sachlich zutreffen noch dem Begehren des Klägers entsprechen dürfte und eine Antragsrücknahme durch den Kläger
in Betracht komme, hat die Beklagte mit Schriftsatz vom 09.10.2020 den Bescheid des Kreises Borken vom 20.11.2009 für den
Zeitraum 03.05.2016 bis 17.08.2016 aufgehoben, den Bescheid des Kreises Borken vom 07.11.2016 vollständig aufgehoben und den
Bescheid des Kreises Borken vom 25.04.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06.05.2019 vollständig aufgehoben.
Der Kläger hat zu der Anfrage des Senats, ob das Verfahren für ihn damit erledigt sei, inhaltlich nicht Stellung genommen,
aber darum gebeten, die Rückdatierung seiner Schwerbehinderung auf den 01.05.1998 zu annullieren bzw. aufzuheben.
Im Termin zur mündlichen Verhandlung, zu dem die Beteiligten ordnungsgemäß geladen worden sind (Zustellung beim Kläger am
22.04.2021, Zustellung bei der Beklagten am 23.04.2021), ist weder der Kläger noch die Beklagte erschienen oder vertreten
gewesen.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird ergänzend auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakten
und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.
Auch im Übrigen, d.h. für die Zeit ab dem 03.05.2016, ist die Klage (während des Berufungsverfahrens) unzulässig (geworden).
Denn (jedenfalls) mit der Aufhebung des Bescheides des Kreises Borken vom 20.11.2009 für den Zeitraum 03.05.2016 bis 17.08.2016,
des Bescheides des Kreises Borken vom 07.11.2016 und des Bescheides des Kreises Borken vom 25.04.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 06.05.2019 in dem Schriftsatz der Beklagten vom 09.10.2020 ist der Kläger klaglos gestellt und - wie das SG in seinem Gerichtsbescheid inhaltlich zu Recht ausgeführt hat - das Rechtsschutzbedürfnis damit entfallen.
Mit der Entscheidung der Beklagten wurde dem die Zeit ab dem 03.05.2016 betreffenden Begehren des Klägers vollständig entsprochen,
weil hierdurch die Feststellung eines GdB gegenüber dem Kläger für diesen Zeitraum vollständig beseitigt wurde.
Die Entscheidung der Beklagten ist auch wirksam. Sofern sie in ihrem Schriftsatz vom 09.10.2020 über Zeiten vor dem 01.04.2019
und damit über solche entschieden hat, für die sie (möglicherweise) nicht zuständig war (vgl. zu Einzelheiten BSG, Urteil vom 30.09.2009, B 9 SB 4/08 R Rn. 13; BSG, Urteil vom 05.07.2007, B 9/9a 2/06 R und B 9/9a 2/07 R; Wehrhahn, jurisPR-SozR 6/2008 Anm. 3), führt dies jedenfalls nicht
zur Nichtigkeit (vgl. § 40 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - [SGB X]) und damit Unwirksamkeit ihrer Entscheidung. Denn nach § 40 Abs. 3 Nr. 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt nicht schon deshalb nichtig, weil Vorschriften über die örtliche Zuständigkeit nicht eingehalten worden
sind.