Vorläufige Leistungen nach Maßgabe des Leistungskatalogs des SGB V
Begründung einer Versicherungspflicht
Keine Bildung zweier verschiedener 5-Jahres-Zeiträume
Gründe
Die zulässige Beschwerde der Antragsgegnerin ist unbegründet.
Zu Recht hat das SG die Antragsgegnerin im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet, dem Antragsteller ab sofort die Leistungen nach
Maßgabe des Leistungskataloges des
SGB V und der dort aufgeführten einzelnen gesetzlichen Vorschriften zu gewähren.
Nach §
86b Abs.
2 S. 2
SGG sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig,
wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint.
Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt einen Anordnungsanspruch, der sich auf das materielle Recht bezieht, und einen
Anordnungsgrund (§
86b Abs.
2 S. 4
SGG iVm §
920 ZPO) voraus (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 13. Aufl., 2020, §
86b Rn 27 ff.). In der Regelungsanordnung nach §
86b Abs.
2 S. 2
SGG ist Anordnungsgrund die Notwendigkeit zur Abwendung wesentlicher Nachteile (Abs. 2 S. 2). Vermieden werden soll, dass der
Antragsteller vor vollendete Tatsachen gestellt wird, bevor er wirksamen Rechtsschutz im Hauptsacheverfahren erlangen kann
(vgl. Keller aaO Rn 27a a.E.). Das Abwarten einer Entscheidung in der Hauptsache darf nicht mit wesentlichen Nachteilen verbunden
sein; d.h. es muss eine dringliche Notlage vorliegen, die eine sofortige Entscheidung erfordert (Hessisches LSG, Beschluss
vom 22.06.2011, Az.: L 7 AS 700/10 B ER Rn 20). Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens offen, weil etwa eine vollständige Klärung der Sach- und Rechtslage
im Eilverfahren nicht möglich ist, ist im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden unter Berücksichtigung insbesondere der
grundrechtlichen Belange des Antragstellers. Maßgebend für die Beurteilung der Anordnungsvoraussetzungen sind regelmäßig die
Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (vgl. Keller aaO. § 86b Rn 27 ff.).
1.
Nach summarischer Prüfung ist zumindest offen, ob der Antragsteller in der Krankenversicherung der Rentner (KVdR) ist und
somit einen Anordnungsanspruch hat. Er war zwar zunächst als Rechtsanwalt vom 1.10.1989 bis 30.9.1996 und anschließend als
Bezieher einer Erwerbsunfähigkeitsrente privat krankenversichert. Dennoch könnte seit dem 1.8.2017 eine Versicherungspflicht
in der KVdR bestehen.
a) Nach §
5 Abs.
1 Nr.
11 SGB V sind versicherungspflichtig Personen, die die Voraussetzungen für den Anspruch auf eine Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung
erfüllen und diese Rente beantragt haben, wenn sie seit der erstmaligen Aufnahme einer Erwerbstätigkeit bis zur Stellung des
Rentenantrags mindestens neun Zehntel der zweiten Hälfte des Zeitraums Mitglied oder nach § 10 versichert waren. Gemäß dem
mit Wirkung zum 1.8.2017 eingefügten §
5 Abs.
2 S. 3
SGB V wird auf die nach Absatz 1 Nummer
11 erforderliche Mitgliedszeit für jedes Kind, Stiefkind oder Pflegekind (§
56 Absatz
2 Nummer
2 des
Ersten Buches) eine Zeit von drei Jahren angerechnet. Seit 11.5.2019 gilt nach §
5 Abs.
2 S. 4
SGB V, dass eine Anrechnung nicht erfolgt für
ein Adoptivkind, wenn das Kind zum Zeitpunkt des Wirksamwerdens der Adoption bereits die in § 10 Absatz 2 vorgesehenen Altersgrenzen
erreicht hat, oder
ein Stiefkind, wenn das Kind zum Zeitpunkt der Eheschließung mit dem Elternteil des Kindes bereits die in § 10 Absatz 2 vorgesehenen
Altersgrenzen erreicht hat oder wenn das Kind vor Erreichen dieser Altersgrenzen nicht in den gemeinsamen Haushalt mit dem
Mitglied aufgenommen wurde.
Das SG hat zutreffend ausgeführt, dass der Antragsteller aufgrund der Gesetzesänderung zum 1.8.2017 wegen der Anrechnung von 9 Jahren
für den Sohn A., die Stieftochter J. sowie das Pflegekind M. (die beiden Mädchen wurden am 31.7.1996 in den Haushalt des Antragstellers
aufgenommen) die Vorversicherungszeit nach §
5 Abs.
1 Nummer
11, Abs.
2 Satz 3
SGB V erfüllt hat; es hat sogar die Voraussetzungen des §
5 Abs.
2 Satz 4
SGB V bejaht. Der Senat verweist insoweit auf die Ausführungen im angefochtenen Beschluss (§
142 Abs.
2 Satz 3
SGG). Von der Antragsgegnerin wird auch ausdrücklich bestätigt, dass die Vorversicherungszeit erfüllt ist. Sie hat auch keine
Bedenken gegen die Anwendbarkeit des §
5 Abs.
2 Satz 3
SGB V auf Bestandsrentner wie dem Antragsteller geäußert.
b)
Ob der Antragsteller gemäß §
6 Abs.
3a SGB V versicherungsfrei ist, wie dies die Antragsgegnerin meint, ist aus Sicht des Senats zumindest offen.
aa)
Nach Satz 1 dieser Vorschrift sind Personen, die nach Vollendung des 55. Lebensjahres versicherungspflichtig werden, versicherungsfrei,
wenn sie in den letzten 5 Jahren vor Eintritt der Versicherungspflicht nicht gesetzlich versichert waren. Diese Voraussetzungen
sind hier erfüllt, da der am 14.10.1950 geborene Antragsteller nach Vollendung des 55. Lebensjahres am 1.8.2017 versicherungspflichtig
nach §
5 Abs.
1 Nummer
11, Abs.
2 Satz 3
SGB V wurde und in den letzten 5 Jahren davor nicht gesetzlich versichert war.
bb)
Weitere Voraussetzung ist jedoch gemäß §
6 Abs.
3a Satz 2
SGB V, dass der Antragsteller mindestens die Hälfte dieser Zeit versicherungsfrei, von der Versicherungspflicht befreit oder nach
§
5 Abs.
5 SGB V nicht versicherungspflichtig war.
Diese Voraussetzungen liegen bezogen auf den 5-Jahres-Zeitraum vor dem 1.8.2017, dem Eintritt der Versicherungspflicht, nicht
vor. In diesem Zeitraum war der Antragsteller weder versicherungsfrei nach §
6 SGB V, da er nicht zu dem dort aufgeführten Personenkreis gehörte. Er war auch nicht nach §
8 SGB V von der Versicherungspflicht befreit. Ebenso war er in diesem Zeitraum nicht gemäß §
5 Abs.
5 SGB V als hauptberuflich selbstständig Erwerbstätiger nicht versicherungspflichtig. Der Antragsteller war vielmehr in den letzten
5 Jahren vor Eintritt der Versicherungspflicht am 1.8.2017 nicht gesetzlich krankenversichert, weil er zwar seit 1.10.1996
eine Erwerbsunfähigkeitsrente bezieht, bis zum 1.8.2017 die Vorversicherungszeit für die Aufnahme in die KVdR jedoch nicht
erfüllt hatte.
In dem Gemeinsamen Rundschreiben des GKV-Spitzenverbandes und der Deutsche Rentenversicherung Bund vom 24.10.2019 wird dagegen
die Auffassung vertreten, dass bei Personen, die vor dem 1.8.2017 aus dem Erwerbsleben ausgeschieden seien, zwei 5-Jahres-Zeiträume
gölten: Der für die Prüfung nach §
6 Abs.
3a Satz 1
SGB V relevante 5-Jahres-Zeitraum gehe ebenfalls dem 1.8.2017 unmittelbar voraus. Für die Prüfung nach §
6 Abs.
3a Satz 2
SGB V sei jedoch ein gesonderter 5-Jahres-Zeitraum zu bilden, der dem Zeitpunkt des Ausscheidens aus dem Erwerbsleben unmittelbar
vorausgehe (A I 3.3.4.5 Seite 33, A II 2 Seite 51ff. des Rundschreibens).
Der Senat hat Zweifel, ob diese Auffassung zutreffend ist. Die in §
6 Abs.
3a Satz 2
SGB V genannte „Hälfte dieser Zeit“ bezieht sich dem Wortlaut und Systematik nach auf die in Satz 1 genannten „in den letzten 5 Jahren vor Eintritt der Versicherungspflicht“. Die Bildung zweier verschiedener 5-Jahres-Räume dürfte im Gesetz keine Stütze finden.
cc)
Nach §
6 Abs.
3a Satz 3
SGB V stehen der Voraussetzung nach Satz 2 die Ehe oder die Lebenspartnerschaft mit einer in Satz 2 genannten Person gleich. Aber
auch in der Person der Ehefrau des Antragstellers liegen die Voraussetzungen des Satzes 2 nicht vor, da sie in den 5 Jahren
vor dem 1.8.2017 berufstätig und gesetzlich krankenversichert war. Dies gilt im Übrigen auch für die Zeit davor.
c)
Es mag sein, dass die Begründung einer Versicherungspflicht nach §
5 Abs.
1 Nr.
11 SGB V für zuvor nicht gesetzlich versicherte Bestandsrentner und insbesondere die Anwendung des §
5 Abs.
2 Satz 3
SGB V auf Bestandsrentner vom Gesetzgeber nicht gewollt war. Ein möglicher entgegenstehender Wille hat jedoch nicht Ausdruck im
Wortlaut des Gesetzes gefunden (vergleiche Vossen in Krauskopf, Soziale Krankenversicherung, Pflegeversicherung Werkstand:
109. EL Januar 2021,
SGB V §
5 Rn. 80ff.; Felix in Schlegel/Voelzke, jurisPK-
SGB V, 4. Aufl., §
5 SGB V [Stand: 16.9.2020] Rn. 105ff.; Peters in Kasseler Kommentar Sozialversicherungsrecht, Werkstand: 112. El September 2020,
SGB V §
5 Rn. 148d). Jedenfalls im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes ist bei summarischer Prüfung offen, ob ein Anordnungsanspruch
besteht.
2.
Wenn der Ausgang des Verfahrens offen ist, ist eine Folgenabwägung durchzuführen. Diese geht zugunsten des Antragstellers
aus. Ihm würden ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare Beeinträchtigungen drohen. Der Antragsteller
ist seit 2016 nicht krankenversichert, nachdem ihm seine private Krankenversicherung wegen Abrechnungsbetruges gekündigt hatte.
Er ist seit vielen Jahren schwer krank (Pflegegrad 4) und leidet an einer Wundheilungsstörung am Amputationsstumpf am linken
Vorderfuß mit der Notwendigkeit einer stationären Behandlung. Die dringend notwendigen Operationen würden ca. 25.000 € kosten.
Es ist auch glaubhaft, dass der Antragsteller die medizinisch notwendige Behandlung nicht aus eigenen Mitteln bezahlen kann.
Seine Vermögenswerte sind bis in eine Höhe von 180.000 € von der Staatsanwaltschaft seit Jahren gepfändet und unterliegen
der Einziehung. Seine Renten unterliegen der Pfändung oder es wird gegen diese aufgerechnet. Ebenso hat der Antragsteller
glaubhaft gemacht, dass er sich bislang erfolglos um eine private Krankenversicherung bemüht hat, da die privaten Krankenversicherungen
-zuletzt Europa Versicherung- die Aufnahme von der Nachzahlung von Beiträgen in Höhe von 50.000 € abhängig machen. Bei dieser
Sachlage ist es dem Antragsteller nicht zuzumuten, den Ausgang des Klageverfahrens abzuwarten.
3.
Entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin ist der Beschluss des SG auch umsetzbar. Die Antragsgegnerin meint, sie könne keine Leistungen nach dem
SGB V für den Antragsteller erbringen, da eine Mitgliedschaft in dem angefochtenen Beschluss eben nicht festgestellt worden sei;
vielmehr habe das SG den diesbezüglichen Antrag sogar zurückgewiesen.
Die Antragsgegnerin verkennt, dass im Streit über die Versicherungspflicht vorläufiger Rechtsschutz dadurch gewährt werden
kann, dass die Krankenkasse zur vorläufigen Erbringung krankenversicherungsrechtlicher Leistungen nach dem
SGB V verpflichtet wird, ohne dass zugleich auch das Bestehen von Versicherungspflicht festgestellt wird (vergleiche LSG Berlin-Brandenburg,
Beschlüsse vom 6.2.2014 - L 9 KR 28/14 ER - juris Rn. 18; vom 13.2.2015 – L 1 KR 2/15 B ER - juris Rn. 2; vom 11.5.2015 – L 9 KR 103/15 B ER - juris Rn. 3ff.; s. auch LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 24.6.2020 – L 11 KR 159/20 B ER - juris Rn. 11,15, 26).
Im Hinblick auf die Bitte um einen richterlichen Hinweis, wie die einstweilige Anordnung des SG seitens der Antragsgegnerin umgesetzt werden könne, sieht sich der Senat veranlasst, den Tenor der angefochtenen Entscheidung
dahingehend zu präzisieren, dass die Antragsgegnerin verpflichtet wird, dem Antragsteller unverzüglich eine Krankenversicherungskarte
auszuhändigen (vergleiche LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 23.12.2010 - L 1 KR 368/10 B ER, L 1 KR 370/10 B PKH).
Die Beschwerde ist somit zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus der entsprechenden Anwendung des §
193 SGG.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§
177 SGG).