Arbeitslosengeld II - Mehrbedarf - unabweisbarer laufender besonderer Bedarf - Fahrtkosten eines chronisch Kranken zu ärztlichen
und therapeutischen Behandlungen - Unabweisbarkeit - erhebliche Abweichung vom durchschnittlichen Bedarf - Bedarfsdeckung
durch Leistungen der GKV
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist die Bewilligung von weiteren Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) wegen eines Mehrbedarfs nach § 21 Abs. 6 Satz 1 SGB II für Fahrtkosten zur Wahrnehmung von ärztlichen und therapeutischen Behandlungen streitig.
Der 1976 geborene alleinstehende Kläger bezog vom Beklagten seit 2009 SGB II-Leistungen. Für die erste Jahreshälfte 2012 bewilligte der Beklagte mit Bescheid vom 7. Dezember 2011 monatlich 674 € (374
€ Regelbedarf, 300 € Kosten der Unterkunft und Heizung [KdUH]). Für die zweite Jahreshälfte 2012 wurden mit Bescheid vom 11.
Juni 2012 Leistungen in derselben Höhe gewährt. Mit Bescheid vom 11. Dezember 2012 bewilligte der Beklagte monatliche Gesamtleistungen
iHv 682 € für die erste Jahreshälfte 2013 (382 € Regelbedarf, 300 € KdUH).
Mit Schreiben vom 4. März 2013 machte der Kläger beim Beklagten – rückwirkend ab 9. Februar 2010 – zusätzliche Leistungen
geltend: Die bewilligten Leistungen reichten nicht aus, um seine besonderen durch die schwere chronische Erkrankung verursachten
Kosten zu decken. Er legte dazu eine von der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) bestätigte Bescheinigung zur Feststellung
einer schweren chronischen Krankheit iSv §
62 SGB V vor, in der der Hausarzt Dr. F. unter dem 13. Februar 2009 (wegen der Dauerdiagnosen: M 51.2, F 32.9, M 54.19, F 45.9) bestätigte,
es sei eine kontinuierliche medizinische Versorgung erforderlich und ein Ende der Behandlung sei nicht absehbar. Der Kläger
erklärte, er habe einen Grad der Behinderung (GdB) von 30 und besuche regelmäßig folgende Ärzte und Therapeuten:
M1, Fachärztin für Innere Medizin, B-Dorf in K1. (Hin- und Rückfahrt: 36 km),
Dr. R., Facharzt für Anästhesiologie, Schmerztherapie, K. Straße, in K2, (Hin- und Rückfahrt: 62 km),
Dr. S1, Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie, R-Straße in K2. (20 km)
Dipl. med. T., Facharzt für Orthopädie, M-Straße in D. (46 km)
Dipl.-Psych. S2, Psychologische Psychotherapeutin, S. Str., in K. (20 km)
Physiotherapie M2, R-Straße, K2 (20 km).
Dem Schreiben beigefügt waren Bestätigungen der behandelnden Therapeuten über Behandlungstage in den Jahren von 2010 bis 2012.
Wegen der einzelnen Termine wird auf Bl. 327 ff. der Verwaltungsakte (VA) Bezug genommen.
Mit Bescheid vom 6. März 2013 lehnte der Beklagte den Antrag ab. Ein atypischer besonderer Bedarf iSv § 21 Abs. 6 SGB II könne erst angenommen werden, wenn ein erheblich überdurchschnittlicher Bedarf bestehe. Vorrangig seien Bedarfe aus den zur
Verfügung stehenden Mitteln zu decken. Dies sei zu erwarten, solange besondere Kosten insgesamt 10% des maßgeblichen Regelbedarfs
nicht überstiegen. Es sei zu berücksichtigen, dass im Regelbedarf ein Betrag „von gut 16 €“ für Fahrtkosten „eingepflegt“
sei. Dagegen legte der Kläger mit Schreiben vom 21. März 2013 Widerspruch ein. Es gehe um regelmäßig wiederkehrende und unabweisbare
besondere Bedarfe. Der Umfang der erforderlichen medizinischen Versorgung sei atypisch und nicht im Regelsatz enthalten.
Im Rahmen des Weiterbewilligungsantrags für die zweite Jahreshälfte 2013 machte der Kläger mit Schreiben vom 4. Juni 2013,
das bei dem Beklagten am 20. Juni 2013 einging, erneut Mehrbedarfsleistungen für Arzt- und Therapeutenbesuche geltend und
legte weitere Belege über seine Behandlungstermine vor. Insoweit wird auf Bl. 342 ff. VA verwiesen. Er gab zudem an, er habe
am 11. April 2013 bei der Deutschen Rentenversicherung Mitteldeutschland (DRV) einen Rentenantrag wegen verminderter Erwerbsfähigkeit
gestellt.
Für die zweite Jahreshälfte 2013 bewilligte der Beklagte mit Bescheid vom 21. Juni 2013 monatliche Leistungen von 717 € (382
€ Regelbedarf, 335 € KdUH). Den Antrag auf Mehrbedarfsleistungen lehnte der Beklagte mit Bescheid vom selben Tag ab. Eine
Übernahme von Fahrtkosten sei im Rahmen des § 21 Abs. 6 SGB II nicht möglich. Möglicherweise erstatte die GKV die Kosten.
Mit Widerspruchsbescheid vom 25. Juli 2013 wies der Beklagte die Widersprüche gegen die Bescheide vom 6. März und 21. Juni
2013 zurück. Unter Auflistung der belegten Behandlungstermine führte er aus, eine gesonderte Gewährung von Fahrtkosten für
Arztbesuche sei nicht möglich. Im Regelbedarf seien Beträge für die Gesundheitspflege und Mobilität eingestellt. Soweit der
Kläger vortrage, dass diese Beträge nicht ausreichten, greife er letztlich die Höhe des Regelbedarfs an. Indes habe das Bundesverfassungsgericht
(BVerfG) im Urteil vom 9. Februar 2010 (Az. 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09, juris) entschieden, dass der Regelbedarf für Alleinstehende nicht als zu gering anzusehen sei. Vorrangig seien zudem Leistungen
der GKV, die der Kläger im Rahmen seiner Selbsthilfeverpflichtung geltend machen müsse. Diese übernehme gemäß §
60 Abs.
3 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Krankenversicherung (
SGB V) Fahrtkosten zur ambulanten Behandlung bei zwingender medizinischer Notwendigkeit und auf entsprechende Verordnung. Im Übrigen
könne ein Anspruch gemäß § 40 Abs. Satz 2 SGB II rückwirkend längstens für die Zeit ab dem 1. Januar 2012 geltend gemacht werden.
Am 22. August 2013 hat der Kläger Klage beim Sozialgericht Dessau-Roßlau (SG) erhoben und Mehrbedarfsleistungen zunächst für den Zeitraum vom 2. Januar 2008 bis zum 28. Juni 2013 geltend gemacht. Zur
Begründung hat er ausgeführt, er sei chronisch krank und benötige regelmäßig in kurzer Abfolge orthopädische sowie psycho-
und physiotherapeutische Behandlungen. Da er auf dem Land wohne, entstünden erhebliche Fahrtkosten, die im Wege einer Härtefallregelung
zu berücksichtigen seien, da ohne zusätzliche Leistungen sein Lebensunterhalt gefährdet sei. Mit Schriftsatz vom 3. April
2014 hat er seinen Antrag präzisiert und weitere Leistungen iHv 977,20 € für den Zeitraum vom 9. Februar 2010 bis zum 4. März
2013 geltend gemacht.
Das SG hat die Klage mit Urteil vom 10. März 2016, das dem Kläger am 18. März 2016 zugestellt worden ist, abgewiesen: Er habe keinen
Anspruch auf Gewährung von weiteren SGB II-Leistungen für die entstandenen Fahrtkosten. Dies sei für Zeiten vor dem 1. Januar 2012 schon deshalb ausgeschlossen, weil
nach den § 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II im Überprüfungsverfahren § 44 Abs. 4 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) mit der Maßgabe gelte, dass anstelle des Zeitraums von vier Jahren einer von einem Jahr trete. Die Mehrbedarfstatbestände
des § 21 SGB II sähen eine Erstattung von Fahrtkosten für Arztbesuche bei einer chronischen Erkrankung nicht vor. Leistungen für Krankenbehandlungen
seien durch die Mitgliedschaft in der GKV abgedeckt und könnten nur innerhalb dieses Leistungssystems geltend gemacht werden.
§
60 SGB V sehe in bestimmten Fällen die Übernahme von Fahrtkosten vor. Darüber hinausgehende bzw. davon nicht erfasste Fahrtkosten
müssten Leistungsberechtigte aus eigenen Mitteln bestreiten. Denn im Regelbedarf seien Beträge sowohl für die Gesundheitspflege
als auch für den Verkehr enthalten.
Dagegen hat der Kläger am 15. April 2016 Berufung eingelegt und zur Begründung vorgetragen, die geltend gemachten Fahrtkosten
seien vom Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung nicht erfasst. Maßgeblich sei, dass er aufgrund des Bezugs
von SGB II-Leistungen nicht in der Lage sei, die Fahrtkosten zu den Behandlungen selbst zu finanzieren.
Nach Durchführung eines Erörterungstermins am 20. Juli 2017 hat die Berichterstatterin von den behandelnden Ärzten und Therapeuten
Befundberichte eingeholt und dabei um Angabe der Behandlungstermine im Jahr 2013 gebeten:
In ihrem Befundbericht hat die behandelnde Fachärztin für Neurologie/Psychiatrie Dr. S1 die Diagnosen Angstdepression, sensomotorisches
lumbales Radikulärsyndrom, Bandscheibenvorfälle L4/5 und L5/S1 und somatisiertes Schmerzsyndrom genannt.
Der Facharzt für Orthopädie, Akupunktur und Chirotherapie Dipl. med. T. hat die Diagnosen Oberes Thorakalsyndrom rechts bei
muskulärer Dysbalance, segmentale Funktionsstörung, lumbales Pseudoradikulärsyndrom links bei Wirbelsäulendegeneration und
muskulären Dysbalancen sowie depressive Episode angegeben.
Dr. R., (jetzt) Chefarzt der Klinik für Anästhesiologie, Schmerz- und Palliativmedizin des Klinikum S., hat ergänzend ein
Chronisches Schmerzsyndrom Stadium III nach Gerbershagen mit somatischen und psychischen Faktoren bei bekannten multisegmentalen
degenerativen Wirbelsäulenveränderungen mit Spinalkanalstenose C4-6, Osteochondrose und lumbale Bandscheibenvorfälle, muskuläre
Dysbalancen, eine somatoforme Schmerzstörung und eine chronisch depressive Verstimmung diagnostiziert.
Die psychologische Psychotherapeutin S2 hat die Diagnosen anhaltende somatoforme Schmerzstörung und leichte depressive Episode
genannt.
Wegen der aufgeführten Behandlungstermine im Jahr 2013, der verordneten Therapien und der Medikation wird auf die Befundberichte
(Bl. 113 ff. GA) verwiesen.
Mit Bescheid vom 29. August 2017 und Widerspruchsbescheid vom 16. Februar 2018 hat die GKV den Antrag auf Erstattung von Fahrkosten
im Zeitraum von 2008 bis März 2013 abgelehnt. Ein Anspruch für die Zeit bis zum 31. Dezember 2012 sei verjährt. Für die Zeit
ab Januar 2013 lägen die Voraussetzungen nach §
60 Abs.
1 SGB V iVm mit den vom Gemeinsamen Bundesausschuss erlassenen Krankentransportrichtlinien nicht vor. Der Kläger hat zu diesem Sachverhalt
vorgetragen, es sei ihm nicht zuzumuten, klageweise gegen die GKV vorzugehen.
Im Juni 2018 hat der Beklagte mitgeteilt, dem Kläger sei mit Bescheid der DRV vom 30. Oktober 2013 Rente wegen voller Erwerbsminderung
ab dem 1. November 2013 zunächst befristet bis zum 31.Oktober 2015 bewilligt worden. Der Beklagte habe daraufhin die SGB II-Leistungen mit Wirkung ab dem 1. Dezember 2013 aufgehoben. Denn die DRV habe festgestellt, dass der Kläger erwerbsunfähig
sei, weil er nicht mindestens drei Stunden täglich unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes arbeiten
könne (§ 8 Abs. 1 SGB II). Mangels Erwerbsfähigkeit iSv § 7 Abs. 1 Nr. 2 SGB II habe er keinen Anspruch auf SGB II-Leistungen mehr. Der Rentenbezug sei bis 2017 verlängert worden. Aus dem beigefügten Rentenbescheid ergibt sich als Grund
für die zeitliche Begrenzung, dass nach den Befunden nicht unwahrscheinlich sei, dass die volle Erwerbsminderung behoben werden
könne. Zur Höhe der geltend gemachten Fahrtkosten hat der Beklagte beanstandet, dass der Kläger teilweise Ärzte in weiter
Entfernung (D, B) aufgesucht habe. Im Übrigen hätte er die Kosten durch Nutzung des ÖPNV mit der sog. Spar-Monatskarte, die
die Preise u.a. für SGB II-Leistungsbezieher ermäßige, reduzieren können.
Der Kläger hat auf sein Recht der freien Arztwahl verwiesen und erklärt, er habe keine Behandlung in unangemessen weiter Entfernung
in Anspruch genommen. In seinem kleinen Wohnort F. gebe es nicht einmal einen Allgemeinmediziner. F liege ca. 8 km von K2
entfernt und sei kaum an den ÖPNV angeschlossen.
Der Kläger beantragt nach seinem schriftlichen Vorbringen sinngemäß,
das Urteil des Sozialgerichts Dessau-Roßlau vom 10. März 2016 aufzuheben und den Beklagten unter Änderung seiner Bescheide
zu verpflichten, ihm für den Zeitraum vom 1. Februar 2012 bis zum 30. Oktober 2013 weitere Leistungen in gesetzlicher Höhe
als Mehrbedarf gemäß § 21 Abs. 6 SGB II zu gewähren.
Der Beklagte beantragt nach seinem schriftlichen Vorbringen,
die Berufung zurückzuweisen.
Er meint, die Aufwendungen des Klägers für Fahrten zu Therapeuten wichen nicht erheblich von einem üblichen Bedarf ab. Die
Fahrtkosten beliefen sich auf durchschnittlich 26 € monatlich. Im Jahr 2013 sei im Regelbedarf von 382 € für Verkehr (Abteilung
07) ein Betrag von 24,05 € enthalten gewesen. Die Aufwendungen des Klägers lägen nur geringfügig darüber (1,95 € pro Monat).
Im Übrigen sei das System der GKV ein umfassendes und vorrangiges Schutz- und Fürsorgesystem gegen das Risiko von Krankheit.
Es erfülle den verfassungsmäßigen Auftrag, eine ausreichende medizinische Versorgung zu gewährleisten. Diese Versorgung sei
daher nicht Bestandteil der SGB II-Leistungen, deren Zweck es im Wesentlichen sei, das Risiko wirtschaftlicher Not aufgrund von unzureichendem Erwerbseinkommen
abzudecken. Das Nebeneinander der beiden Schutzsysteme schließe es aus, Krankheitskosten durch SGB II-Leistungen zu finanzieren. Daher könnten gesundheitsspezifische Bedarfe schon vom Grundsatz her keine besondere, atypische
Bedarfslage iSv § 21 Abs. 6 SGB II auslösen.
Im Erörterungstermin am 22. Oktober 2019 hat der Beklagte ausgeführt, weitere SGB II-Leistungen könnten wegen des Bezugs von Erwerbsunfähigkeitsrente und des Ausscheidens aus dem SGB II-Leistungsbezug längstens bis Oktober 2013 gewährt werden. Zudem sei fraglich, ob die aufgewandten Fahrtkosten tatsächlich
erforderlich und unabweisbar gewesen seien. Die vom Wohnort des Klägers nächstgelegene Physiotherapiepraxis befinde sich im
ca. 3,5 km entfernt liegenden W. Es sei nicht erforderlich, 10 km nach K2 zu fahren. Die Beteiligten haben auf die Durchführung
einer mündlichen Verhandlung verzichtet und sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden
erklärt.
Nach den Ermittlungen der Berichterstatterin (Telefonvermerk vom 17. Dezember 2019) bestand im streitgegenständlichen Zeitraum
in einer Entfernung von 3,7 km eine Physiotherapiepraxis in der R-Straße in W., in der die dem Kläger verordneten Therapien
hätten durchgeführt werden können.
Mit Schriftsatz vom 29. Juni 2020 hat der Kläger den streitgegenständlichen Zeitraum auf die Zeit vom 1. Februar 2012 bis
zum 30. Oktober 2013 begrenzt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach-und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsvorgänge
des Beklagten ergänzend Bezug genommen. Diese sind Gegenstand der Beratung des Senats gewesen.
Entscheidungsgründe
Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten hierzu ihr Einverständnis gegeben haben (§§
153 Abs.
1,
124 Abs.
2 Sozialgerichtsgesetz [SGG]).
Die Berufung ist zulässig, insbesondere form-und fristgerecht eingelegt worden (§
151 SGG). Sie bedurfte insbesondere nicht der Zulassung nach §
144 Abs.
1 SGG. Der Kläger begehrte im Klageverfahren (zuletzt) die Verurteilung des Beklagten zur Erbringung weiterer Leistungen von 977,20
€. Damit ist der Beschwerdewert von 750 € nach §
144 Abs.
1 Satz 1 Nr.
1 SGG überschritten. Der Kläger hat erst im Verlauf des Berufungsverfahrens den streitgegenständlichen Zeitraum begrenzt.
Die Berufung ist teilweise – hinsichtlich der Leistungen für die Monate April, Juli und Oktober 2012 sowie Januar, Februar,
Mai, Juni, August und Oktober 2013 – begründet, im Übrigen aber unbegründet.
Das Begehren des Klägers bedarf der Auslegung (§
123 SGG). Da der geltend gemachte Anspruch auf Leistungen wegen eines Mehrbedarfs nicht isoliert eingeklagt werden kann (vgl. BSG, Urteil vom 14. Februar 2013, Az. B 14 AS 48/12 R, juris RN 9), ist sein Anliegen so zu verstehen, dass er für die streitbefangenen Monate höhere Leistungen zur Sicherung
des Lebensunterhalts unter Berücksichtigung eines Mehrbedarfs geltend macht. KdUH stehen dabei erkennbar nicht im Streit und
sind, da sie einen abtrennbaren Streitgegenstand bilden (vgl. BSG, Urteil vom 16. Juni 2015, Az. B 4 AS 44/14 R, juris RN 11), nicht Gegenstand des Verfahrens.
Da der Beklagte über die Leistungen für den Zeitraum bis einschließlich Juni 2013 bereits vor dem Antrag des Klägers am 4.
März 2013 mit den Bescheiden vom 7. Dezember 2011 (für die erste Jahreshälfte 2012), vom 11.Juni 2012 (für die zweite Jahreshälfte
2012) und vom 11. Dezember 2012 (für die erste Jahreshälfte 2013) bestandskräftig entschieden hatte, ist das Begehren auf
eine Änderung dieser bestandskräftigen Bewilligungen und die Gewährung entsprechend höherer Leistungen gerichtet. Denn der
Antrag auf Berücksichtigung weiterer Bedarfe, der während eines laufenden oder nach Ende eines laufenden Bewilligungszeitraums
gestellt wird, für den bereits bindende Leistungsbewilligungen vorliegen, stellt sich als Antrag auf Überprüfung der früheren
Bescheide dar (vgl. BSG, Urteil vom 6. Mai 2010, Az. B 14 AS 3/09 R, juris). Es liegt kein Fall des § 48 SGB X vor, denn es handelt sich nicht um eine Änderung in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen während eines Bewilligungsabschnitts;
vielmehr wird geltend gemacht, die nun angegriffenen Bescheide seien von Anfang an teilweise rechtswidrig gewesen. Auch wenn
der Beklagte im Bescheid vom 6. März 2013 nicht ausdrücklich eine Entscheidung im Überprüfungsverfahren getroffen hat, ist
davon auszugehen, dass er die einzig zulässige rechtliche Regelung treffen und über weitere SGB II-Leistungen unter Berücksichtigung des geltend gemachten Mehrbedarfs für die bereits bestandkräftig geregelten Bewilligungsabschnitte
entscheiden wollte. In Ansehung dieser Zeiträume ist daher die zutreffende Klageart im gerichtlichen Verfahren eine Kombination
von Anfechtungsklage, gerichtet auf Aufhebung des die Änderung ablehnenden Bescheids (vom 6. März 2013 der Gestalt des Widerspruchsbescheids
vom 21. Juni 2013), Verpflichtungsklage (gerichtet auf die Abänderung der ursprünglichen Bewilligungsbescheide vom 7. Dezember
2011, 11. Juni 2012 und 11. Dezember 2012) und Leistungsklage, gerichtet auf die Erbringung zusätzlicher Leistungen.
Für die zweite Jahreshälfte 2013 hat der Beklagte mit zwei Bescheiden vom 21. Juni 2013 einerseits SGB II-Leistungen bewilligt und andererseits Mehrbedarfsleistungen abgelehnt. Nach der Durchführung des Vorverfahrens und der Klageerhebung
nach Erlass des Widerspruchsbescheids vom 25. Juli 2013 handelt es sich insoweit um eine reguläre Anfechtung- und Leistungsklage,
die darauf gerichtet ist, im streitgegenständlichen Zeitraum höhere Leistungen zu erhalten.
Anspruchsgrundlage für das Begehren des Klägers für die bereits bestandskräftig geregelten Leistungszeiträume (Januar 2012
bis Juni 2013) ist § 40 Abs. 1 SGB II in Verbindung mit § 44 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 SGB X. Danach ist ein Verwaltungsakt auch nach Unanfechtbarkeit mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, wenn sich im
Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist,
der sich als unrichtig erweist, und deshalb Leistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. Ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung
für die Vergangenheit zurückgenommen worden, werden Sozialleistungen längstens für einen Zeitraum von bis zu einem Jahr vor
der Rücknahme erbracht. Dabei wird der Zeitpunkt der Rücknahme von Beginn des Jahres an berechnet, in dem der Verwaltungsakt
zurückgenommen wird. Erfolgt die Rücknahme auf Antrag, ist bei der Berechnung auf den Zeitpunkt der Antragstellung abzustellen.
Daher konnte mit der erstmaligen Geltendmachung der Mehrbedarfsleistungen im März 2013 eine nachträgliche Leistungserbringung
längstens ab Januar 2012 erfolgen. Da der Kläger zudem im Berufungsverfahren den streitigen Zeitraum auf die Zeit vom 1. Februar
2012 bis zum 31. Oktober 2013 beschränkt hat, sind das angegriffene Urteil des SG und die vorbezeichneten Bescheide nur insoweit Gegenstand des Berufungsverfahrens, als sie Regelungen für diesen Zeitraum
treffen.
Da der Mehrbedarf zu den laufenden Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts gehört, muss er grundsätzlich nicht gesondert
beantragt werden (vgl.: BSG, Urteil vom 4. Juni 2014, Az. B 14 AS 30/13 R, juris RN 13; BSG, Urteil vom 6. Mai 2010, Az. B 14 AS 3/09 R, juris RN 14). Denn der Kläger hatte bereits im Zeitpunkt der jeweiligen Bewilligungsbescheide des Beklagten beginnend
mit dem 7. Dezember 2011 für die hier streitbefangenen Zeiträume dem Grunde nach einen Anspruch auf den geltend gemachten
Mehrbedarf.
Der Kläger erfüllte im streitgegenständlichen Zeitraum die Anspruchsvoraussetzungen des §§ 7 Abs. 1 SGB II hinsichtlich des Alters, des gewöhnlichen Aufenthalts und der Erwerbsfähigkeit. Da die DRV eine Rente wegen voller Erwerbsminderung
erst ab dem 1. November 2013 bewilligt hat, war im streitigen Zeitraum bis einschließlich Oktober 2013 mangels entgegenstehender
Feststellungen von seiner Erwerbsfähigkeit iSv § 8 Abs. 1 SGB II auszugehen. Der Beklagte hat den dem Kläger zustehenden Regelbedarf für Alleinstehende (§ 20 Abs. 2 Satz 1 SGB II) in der im streitigen Zeitraum maßgeblichen Höhe von 374 € in den Monaten des Jahres 2012 bzw. 382 € in den Monaten des Jahres
2013 zutreffend berücksichtigt. Abgesehen von dem zwischen den Beteiligten streitigen Mehrbedarf nach § 21 Abs. 6 SGB II wegen der Fahrtkosten macht der Kläger für den streitigen Zeitraum keine weiteren unberücksichtigten Bedarfe geltend; solche
sind auch nicht ersichtlich.
Rechtsgrundlage für die vom Kläger geltend gemachten Bedarfe hinsichtlich der Fahrtkosten ist § 21 Abs. 6 SGB II. Danach wird bei Leistungsberechtigten ein Mehrbedarf anerkannt, soweit im Einzelfall ein unabweisbarer, laufender, nicht
nur einmaliger besonderer Bedarf besteht (Satz 1). Der Mehrbedarf ist unabweisbar, wenn er insbesondere nicht durch die Zuwendungen
Dritter sowie unter Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten des Leistungsberechtigten gedeckt ist und seiner Höhe nach erheblich
von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht (Satz 2). Diese Härtefallregelung, die der Gesetzgeber in Umsetzung des Regelungsauftrags
des BVerfG (Urteil vom 9. Februar 2010, a.a.O., RN 204 ff.) geschaffen hat, greift ein, wenn ein Bedarf entweder nicht vom
Regelbedarf abgedeckt oder er zwar seiner Art nach berücksichtigt ist, in Sondersituationen aber ein höherer, überdurchschnittlicher
Bedarf auftritt (vgl. Düring in: Gagel, SGB II/SGB III, Stand März 2019, § 21 SGB II, RN 43). Nach den Gesetzesmaterialien ist es dem Leistungsberechtigten dabei zuzumuten, einen höheren Bedarf in einem Lebensbereich
durch geringere Ausgaben in einem anderen auszugleichen; diese Überlegung hat im Wortlaut durch den Verweis auf die Einsparmöglichkeiten
ihren Niederschlag gefunden. Grundsätzlich geht auch das BSG in seiner Rechtsprechung von einem jedenfalls in Grenzen zumutbaren internen Ausgleich zwischen verschiedenen regelbedarfsrelevanten
Verbrauchsgruppen aus (vgl. BSG, Urteil vom 28. November 2018, Az. B 14 AS 48/17, juris RN 14 f.). Daher kann grundsätzlich ein leistungserhöhend wirkender Mehrbedarf nicht festgestellt werden, wenn die
Aufwendungen aus einem Lebensbereich den Betrag aus der einschlägigen regelbedarfsrelevanten Verbrauchsgruppe nach § 5 des
Gesetzes zur Ermittlung der Regelbedarfe nach § 28 des Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz – RBEG)
nicht übersteigen. Dabei sind im vorliegenden Rechtsstreit die (fortgeschriebenen) Beträge aus Artikel 1 § 5 des Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 24. März 2011 (BGBl. I S. 453) maßgeblich.
Bei dem geltend gemachten Bedarf für die Fahrtkosten handelt es sich um einen laufenden und nicht nur einmaligen Bedarf, denn
der Kläger hat aufgrund seiner chronischen Erkrankungen, die regelmäßiger ärztlicher und therapeutischer Behandlung bedürfen,
über einen langen Zeitraum regelmäßig hohe, wenn auch nicht monatlich gleichbleibend hohe Fahrtaufwendungen. Die Fahrten zu
Ärzten und Therapeuten lösen einen laufenden Mehrbedarf im Einzelfall aus, weil die konkrete Bedarfslage des Klägers eine
andere ist, als sie typischerweise bei SGB II-Leistungsberechtigten besteht. Aufgrund der Behandlungsbedürftigkeit der Erkrankungen ergibt sich ein Mehrbedarf im Verhältnis
zum „normalen“ Regelbedarf. Ungeachtet der Tatsache, dass im Regelbedarf ein Anteil für Fahrtkosten (Mobilität) enthalten
ist, handelt es sich um einen besonderen Bedarf, weil es nicht um die üblichen Fahrten im Alltag geht, sondern um zusätzliche
Fahrtkosten aufgrund der erforderlichen ärztlichen Behandlungen bzw. ärztlich verordneten Therapien in einem Ausmaß, das sich
deutlich von demjenigen eines üblichen Leistungsberechtigten abhebt.
Aus den vorliegenden Belegen über die Behandlungstermine ergeben sich in den streitgegenständlichen Monaten folgende monatliche
Gesamtfahrstrecken für die notwendige therapeutische Versorgung sowie daraus – unter Anwendung der Kilometerpauschale von
0,20 € nach § 5 Abs. 1 Bundesreisekostengesetzes (BRKG) pro zurückgelegtem Kilometer (vgl. BSG, Urteil vom 4. Juni 2014, a.a.O., RN 28) – monatliche Kosten:
2012 Februar
|
72 km
|
15,20 €
|
März
|
102 km
|
20,40 €
|
April
|
136 km
|
27,20 €
|
Mai
|
56 km
|
11,20 €
|
Juni
|
106 km
|
21,20 €
|
Juli
|
216 km
|
43,20 €
|
August
|
100 km
|
20,00 €
|
September
|
20 km
|
4,00 €
|
Oktober
|
202 km
|
40,40 €
|
November
|
76 km
|
15,20 €
|
Dezember
|
116 km
|
23,20 €
|
2013 Januar
|
186 km
|
37,20 €
|
Februar
|
120 km
|
24,00 €
|
März
|
100 km
|
20,00 €
|
April
|
102 km
|
20,40 €
|
Mai
|
216 km
|
43,20 €
|
Juni
|
186 km
|
37,20 €
|
Juli
|
0 km
|
./.
|
August
|
126 km
|
25,20 €
|
September
|
40 km
|
8,00 €
|
Oktober
|
140 km
|
28,00 €
|
Der Senat hat die belegten Behandlungstermine und angegebenen Distanzen (anhand von Google Maps) überprüft und monatlich addiert.
Die angegebenen Entfernungen sind zutreffend, bis diejenige zum Schmerztherapeuten. Dr. R. in B., für die sich eine Entfernung
von der Wohnung des Klägers von 31 km (anstelle von 32 km) ergibt. Bei der Berechnung der monatlichen Fahrtstrecken hat der
Senat nur eine Fahrt berücksichtigt, wenn zwei Termine an einem Kalendertag stattfanden und die Behandlung am selben Ort erfolgte
(z.B. am 21. Mai 2013 Termine bei Dr. S1 und bei der Physiotherapie; beide Praxen liegen in der R. Straße in K2.). Fanden
zwei Termine an verschiedenen Orten statt, wurde die längere Fahrt zugrunde gelegt, wenn der andere Termin auf den Weg lag
(z.B. am 3. Juli 2012 Termine bei der Hausärztin in K1. und beim Schmerztherapeuten in B.). Zudem hat der Senat bei den Behandlungen
durch die Psychotherapeutin S2., die im Jahr 2013 elf Behandlungen bestätigt, aber nur sieben Termine konkret mit Datum bezeichnet
hat (10. Januar, 12. Februar, 12. März, 8. April, 21. Mai, 20. Juni und 18. Dezember 2013), die fehlenden vier Termine nach
dem von ihr angegebenen Therapieschema (alle 4 bis 6 Wochen) im fünfwöchigen Abstand ergänzt.
Die so berechneten monatlichen Fahrtaufwendungen des Klägers zum Zweck der medizinischen Behandlung übersteigen in den Monaten
April, Juli und Oktober 2012 sowie Januar, Februar, Mai, Juni, August und Oktober 2013 den Betrag aus der einschlägigen regelbedarfsrelevanten
Verbrauchsgruppe nach § 5 RBEG. Für die Abteilung 7 (Verkehr) nach § 5 Abs. 1 RBEG war im Jahr 2011 ein Betrag von 22,78 €
monatlich in den damals maßgeblichen Regelbedarf für einen Alleinstehenden von 364 € nach § 20 Abs. 2 Satz 1 SGB II eingegangen. In den streitigen Monaten des Jahres 2012 war der Regelbedarf (um 2,7 %) auf 374 € und im Jahr 2013 (um weitere
2,26 %) auf 382 € gestiegen. Bezogen auf den Anteil für Verkehr ergibt sich eine Steigerung auf 21,40 € im Jahr 2012 und 23,93
€ im Jahr 2013.
Dieser Mehrbedarf für Fahrtaufwendungen ist auch unabweisbar. Nach § 21 Abs. 6 Satz 2 SGB II darf er nicht durch die Zuwendungen Dritter sowie unter Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten des Leistungsberechtigten
gedeckt sein und muss seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweichen. Insoweit enthält § 21 Abs. 6 Satz 2 SGB II keine abschließende Aufzählung, sondern nennt Regelbeispiele (vgl. S. Knickrehm/ Hahn in: Eicher, SGB II, 3. Aufl. 2013, § 21 RN 69). Der Begriff der Unabweisbarkeit enthält zudem eine zeitliche Komponente dergestalt, dass der Bedarf nicht aufschiebbar
sein darf, d.h. dem Leistungsberechtigten darf es nicht zuzumuten sein, die Bedarfsdeckung hinauszuschieben. Es muss eine
Geringfügigkeitsgrenze überschritten sein, und der Bedarf darf nicht von anderer Seite gedeckt werden.
Zunächst ist der Bedarf des Klägers nicht aufschiebbar. Die zur Durchführung der Therapien absolvierten Fahrten sind notwendig.
Eine Bedarfsdeckung durch Zuwendungen Dritter scheidet aus. Zunächst besteht – auch nach Auffassung des Senats – kein Leistungsanspruch
des Klägers gegen die GKV. Der Gesetzgeber hat hinsichtlich der Übernahme von Kosten von medizinisch Notwendigem durch die
GKV von seinem Gestaltungsspielraum Gebrauch gemacht und u.a. Fahrtkosten zu notwendigen ambulanten Behandlungen grundsätzlich
aus dem Leistungskatalog der GKV entfernt. Fahrtkosten werden gemäß § §
60 Abs.
1 Satz 3
SGB V (in Zusammenhang mit den Krankentransportrichtlinien) nur noch in eng definierten Ausnahmefällen von der GKV übernommen bzw.
erstattet und zwar dann, wenn der Transport selbst medizinisch indiziert ist (vgl. ebenso: LSG Baden-Württemberg, Urteil vom
18. März 2020, Az. L 3 AS 3212/19, juris RN 43; Sächs. LSG, Urteil vom 5. November 2020, Az. L 7 AS 83/17, juris RN 25; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 15. Februar 2016, Az. L 7 AS 1681/15 B, juris RN 11), was hier nicht der Fall ist. Im Übrigen schließt entgegen der Auffassung des Beklagten der Umstand, dass
die GKV Leistungen der Krankenversicherung von der Versorgung nach dem
SGB V ausnimmt, etwa wegen ihres geringen Abgabepreises (sog. OTC-Arzneimittel), aus sonstigen Kostengründen oder aus systematischen/sozialpolitischen
Gründen, einen SGB II-Leistungsanspruch wegen des Nebeneinanders der Versorgungssysteme nicht aus. Es kann sich grundsätzlich ein Anspruch auf
eine Mehrbedarfsleistung ergeben (vgl. BSG, Urteil vom 12. Dezember 2013, Az. B 4 AS 6/13 R, juris RN 22). Andere Kostenträger für die Fahrtaufwendungen sind nicht ersichtlich.
Einsparmöglichkeiten des Klägers sind nicht erkennbar. Der Gesetzgeber ist bei der aktuellen Ermittlung der Höhe des Regelbedarfs
bereits an die Grenze dessen gekommen, was zur Sicherung des Existenzminimums verfassungsrechtlich gefordert ist (BVerfG,
Beschluss vom 23. Juli 2014 – 1 BvL 10/12 –, BVerfGE 137, 34-103, RN 121). Es kann von dem Kläger daher nicht verlangt werden, an anderer Stelle Mittel einzusparen, um sie für die unabweisbaren
Fahrtkosten aufzuwenden. Soweit der Beklagte die Auffassung vertritt, es sei dem Kläger zuzumuten, auch Regelbedarfsanteile
der Abteilung 6 (Gesundheitspflege) zur Deckung des Aufwands an Behandlungsfahrten einzusetzen, kann dem nicht gefolgt werden.
Denn hier ist davon auszugehen, dass der Kläger aufgrund seiner chronischen Gesundheitsstörungen auch Aufwendungen für die
Gesundheitspflege hat, sodass eine Umschichtung der insoweit eingestellten Beträge für die Fahrtkosten nicht möglich ist bzw.
zu einer Bedarfsunterdeckung führt.
Zudem scheidet die vom Beklagten als zumutbar erachtete Einsparmöglichkeit durch „Umschichtung“, also einer Präferenzentscheidung
(im Rahmen des Regelbedarfs) dahingehend, einen höheren Bedarf in einem Lebensbereich durch geringere Ausgaben in einem anderen
auszugleichen, aus Rechtsgründen aus. Denn eine Umschichtung ist nur möglich bei Bedarfen, die dem Grunde nach von der Regelleistung
umfasst sind. Dies trifft auf den hier streitigen Mehrbedarf nicht zu (vgl. BSG, Urteil vom 4. Juni 2014, a.a.O., RN 25). Auch der im Regelbedarf enthaltene Ansparbetrag für notwendige Anschaffungen ist
nicht heranzuziehen, weil dieser dazu dient, einmalige Bedarfe abzufangen (vgl. BSG, Urteil vom 4. Juni 2014, a.a.O., RN 26). Zwar sind die Regelsatzleistungen gemäß § 20 Abs. 1 Satz 4 SGB II vom Leistungsberechtigten eigenverantwortlich individuell einzusetzen, sodass dieser insoweit frei und gehalten ist, je nach
individuellem Bedarf innerhalb dieser Leistung Ausgabepositionen zu verschieben. Nach Auffassung des Senats ist eine Grenze
der zumutbaren Verschiebbarkeit bei einem chronisch Erkrankten dann erreicht, wenn er – wie der Kläger – regelmäßig hohe Aufwendungen
an Fahrtkosten für Behandlungsfahrten hat, auch wenn diese nicht in allen Monaten den Anteil im Regelsatz überschreiten. Insbesondere
bei einer durchschnittlichen Monatsbelastung von ca. 20 € allein für Behandlungsfahrten ist eine weitergehende Dispositionsmöglichkeit
bei anderen Ausgaben kaum noch gegeben.
Aus Sicht des Senats kann auch nicht festgestellt werden, dass der Kläger die Fahrten unter Nutzung des ÖPNV hätte kostengünstiger
absolvieren können. Seiner Angabe, sein Wohnort F sei nicht gut in den ÖPNV integriert, ist der Beklagte nicht mit einem substantiierten
Vorbringen entgegengetreten. Insbesondere hat er nicht dargelegt, zu welcher Kostenersparnis die Nutzung des ÖPNV geführt
hätte. Nach Recherche der Berichterstatterin gibt es aktuell werktags einen stündlich verkehrenden Bus zwischen K2 und F.
Dieser Bus verkehrt jedoch nur an Schultagen bzw. als Anrufbus, d.h. es ist eine telefonische Voranmeldung erforderlich. Wie
sich die Situation in den hier streitbefangenen Monaten der Jahre 2012 und 2013 dargestellt hat, ist für den Senat nicht mehr
ermittelbar. Das Problem der unzureichenden Anbindung an den ÖPNV würde auch durch eine Nutzung der sog. Spar-Karte nicht
gelöst. Dabei handelt es sich um eine verbilligte Monatskarte für SGB II-Leistungsbezieher, die bei ihrer Einführung zu Beginn des Jahres 2009 17 € pro Monat kostete, und die zu Fahrten im gesamten
Tarifgebiet, dh. im ganzen Landkreis A. einschließlich der Städte D, O und G berechtigt. Im Jahr 2021 beträgt der Monatspreis
41 €. Kostengünstiger wäre der Kläger damit wohl auch in den Jahren 2012 und 2013 nicht gefahren – zumal für eine Fahrt zu
Dr. R. nach B. zusätzliche Kosten angefallen wären, weil die Stadt nach dem „Tarifzonenplan A“ außerhalb des Tarifzonengebiets
liegt.
Entgegen der Auffassung des Beklagten bestehen auch keine Einsparmöglichkeiten durch einen Wechsel der Ärzte und Therapeuten.
Dies ist dem Kläger nicht zuzumuten. Es entfällt auch die Unabweisbarkeit der Aufwendungen nicht, weil der Kläger unangemessen
weit entfernt liegende Ärzte zur Behandlung aufgesucht hätte. Unter Beachtung der grundsätzlich freien Arztwahl gibt es nach
Lage des Falles keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger unangemessen hohe Kosten für die Fahrten zu seinen behandelnden
Therapeuten verursacht hat. Vielmehr ist er überwiegend bei Ärzten und Therapeuten in K2, der 10 km entfernt liegenden Stadt,
in Behandlung. Das Aufsuchen des Schmerztherapeuten in B. sowie des Orthopäden in D. ist ebenfalls nicht zu beanstanden. Es
handelt sich um Spezialisten, deren Praxen oftmals ausgelastet sind und die keine neuen Patienten annehmen. Ähnliches gilt
in Ansehung der Physiotherapie. Zwar trifft es zu, dass sich einer Entfernung von 4 bzw. 6 km vom Wohnort des Klägers zwei
Physiotherapiepraxen befinden, die nähergelegen sind als die vom Kläger besuchte in K2. Die hieraus resultierenden Mehrkosten
erachtet der Senat indes als nicht so erheblich, dass daraus Konsequenzen für die geltend gemachte Unausweichlichkeit des
Mehrbedarfs gezogen werden müssten.
Das Merkmal der Erheblichkeit gemäß § 21 Abs. 6 SGB II ist ebenfalls erfüllt. Der Bedarf des Klägers an Aufwendungen für Fahrten zur ärztlichen Versorgung weicht seiner Höhe nach
erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf ab. Insoweit ist insbesondere zu berücksichtigen, dass der Regelsatzanteil für
Fahrtkosten nicht nur Fahrten zur Krankenbehandlung umfasst, sondern alle Aufwendungen für Fahrten. Sowohl notwendige Fahrten,
wie z.B. zum Einkaufen oder für Behördengänge, sondern auch die im Rahmen des soziokulturellen Existenzminimums erforderliche
Mobilität zur soziokulturellen Teilhabe, wie z.B. Besuchsfahrten oder Ausflüge, sind vom Regelbedarfsanteil erfasst. Vor diesem
Hintergrund erscheint es schon fast bedenklich, erst dann von einem erheblichen Mehrbedarf auszugehen, wenn der Regelbedarfsanteil
für Mobilität durch Behandlungsfahrten vollständig ausgeschöpft wird (vgl. Sächs. LSG, Urteil vom 5. November 2020, Az. L
7 AS 83/17, juris RN 17; von Boetticher in: LPK-SGB II, 6. Aufl. 2017, § 21 RN 39). Jedoch ist der Senat der Auffassung, dass einem Leistungsberechtigten in der Regel zuzumuten ist, gegebenenfalls
monatsweise den Regelsatzanteil für Verkehr grundsätzlich vollständig für die notwendigen Fahrten einzusetzen und im Übrigen
den pauschalen Regelbedarf umzuschichten. Wird aber der Regelbedarfsanteil bei einer solchen Sachlage – auch nur monatsweise
– überschritten, handelt es sich bei jeder Überschreitung um eine erhebliche Abweichung vom Regelsatz, die Mehrbedarfsleistungen
rechtfertigt.
Dies gilt insbesondere in der vorliegenden Fallkonstellation, in der regelmäßig überdurchschnittliche viele Behandlungsfahrten
anfallen, der Regelbedarfsanteil aber nur in einigen Monaten überschritten wird, wenn zugleich in den anderen Monaten die
Dispositionsfreiheit durch den Umfang der notwendigen Behandlungsfahrten deutlich eingeschränkt ist. Daher sind die in den
Monaten April, Juli und Oktober 2012 sowie Januar, Februar, Mai, Juni, August und Oktober 2013 entstandenen Fahrtkosten auch
vollständig als individueller Mehrbedarf im Sinne von § 21 Abs. 6 SGB II zu berücksichtigen. Eine denkbare Berücksichtigung nur des den Regelbedarfsanteil übersteigenden Kostenaufwands als Mehrbedarf
hält der Senat für unangemessen, da der Kläger durchschnittlich mehr als 20 € pro Monat aus dem Regelbedarf für Fahrten zur
Krankenbehandlung einsetzen musste.
Nach alledem waren dem Kläger für die Monate, in denen seine Aufwendungen für Behandlungsfahrten den Regelbedarfsanteil überstiegen,
Mehrbedarfsleistungen in der zuerkannten Höhe zu bewilligen. Insoweit war das Urteil des SG aufzuheben.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG und berücksichtigt das teilweise Obsiegen und Unterliegen der Beteiligten sowie die unterschiedlichen Streitgegenstände im
erst- und zweitinstanzlichen Verfahren.
Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des §§
160 Abs.
2 Nr.
1 und
2 SGG nicht vorliegen. Es handelt sich um eine Einzelfallentscheidung auf gesicherter Grundlage der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 12. Dezember 2013, Az. B 4 AS 6/13 R).