Erhöhung eines Grades der Behinderung
Mehrere Beeinträchtigungen
Funktionsstörung mit dem höchsten Einzel-GdB
Vergrößerung der Behinderung
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Höhe des bei dem Kläger festzustellenden Grades der Behinderung (GdB).
Auf den Antrag des 1960 geborenen Klägers vom 25. März 2011 stellte der Beklagte nach versorgungsärztlicher Auswertung der
eingeholten medizinischen Unterlagen mit Bescheid vom 19. Juli 2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. Februar 2012
bei ihm einen Gesamt-GdB von 30 fest. Dieser Entscheidung legte er folgende (verwaltungsintern mit den aus den Klammerzusätzen
ersichtlichen Einzel-GdB bewertete) Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde:
a) Schwerhörigkeit beidseits (30),
b) Bluthochdruck (10),
c) Fettleber (10),
d) Harnsäurestoffwechselstörung (10).
Mit der bei dem Sozialgericht Berlin erhobenen Klage hat der Kläger einen GdB von 50 begehrt. Das Sozialgericht hat neben
Befundberichten das Gutachten des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. S vom 2. Mai 201 eingeholt, der als Funktionsbeeinträchtigungen
a) hochgradige Hörminderung, Ohrgeräusche beidseits (30),
b) Bluthochdruck (10),
c) Fettleber (10),
d) Harnsäurestoffwechselstörung (10),
e) Knorpelschaden der Kniegelenke beidseits, arthroskopische Meniskusoperation links Januar 1999, Oberschenkelfraktur beidseits
operativ versorgt, Unterschenkelkrampfaderbildung beidseits mit Ödembildung und Hautveränderungen (20)
ermittelt und den Gesamt-GdB auf 40 vom Zeitpunkt der Begutachtung am 20. März 2013 eingeschätzt hat.
Mit Urteil vom 12. Februar 2014 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen: Der Kläger habe keinen Anspruch auf Feststellung
eines höheren GdB als 30. Das Sozialgericht ist hierbei entgegen der Einschätzung des Sachverständigen Dr. S davon ausgegangen,
dass der Einzel-GdB von 30 für die Hörminderung mit Ohrgeräuschen durch das Knieleiden mit einem Einzel-GdB von 20 nicht zu
erhöhen ist.
Gegen diese Entscheidung hat der Kläger Berufung bei dem Landessozialgericht eingelegt, mit der er zunächst weiterhin einen
Gesamt-GdB von 50 begehrt hat. Der Senat hat eine ergänzende Stellungnahme des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. S vom 24.
Februar 2015 über die Bildung des Gesamt-GdB eingeholt.
In der mündlichen Verhandlung vom 18. Juni 2015 hat der Kläger erklärt, den Gesamt-GdB von 50 erst ab 20. März 2013 zu begehren.
Die Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 12. Februar 2014 aufzuheben sowie den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom
19. Juli 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. Februar 2012 zu verpflichten, bei ihm mit Wirkung ab dem 20.
März 2013 einen Grad der Behinderung von 50 festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält die Entscheidung des Sozialgerichts für zutreffend.
Dem Senat haben die Verwaltungsvorgänge des Beklagten vorgelegen. Diese waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Wegen
der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Schriftsätze, das Protokoll und die Verwaltungsvorgänge
des Beklagten.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung des Klägers ist begründet.
Das Sozialgericht hat die Klage zu Unrecht abgewiesen, da sich der Gesundheitszustand des Klägers während des Klageverfahrens
verschlechtert und er deshalb Anspruch auf Festsetzung eines GdB von 50 ab 20. März 2013 hat.
Nach den §§
2 Abs.
1,
69 Abs.
1 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch (
SGB IX) sind die Auswirkungen der länger als sechs Monate anhaltenden Funktionsstörungen nach Zehnergraden abgestuft entsprechend
den Maßstäben des § 30 Bundesversorgungsgesetz zu bewerten. Hierbei sind die in der Anlage zur Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festgelegten "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" heranzuziehen.
Zwischen den Beteiligten steht - zu Recht - außer Streit, dass bei dem Kläger neben den nur einen Einzel-GdB von 10 bedingenden
Behinderungen ein Knieleiden besteht, das mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten ist.
Für die Schwerhörigkeit mit Ohrgeräuschen ist nach Teil B Nr. 5.2 der Anlage zu § 2 VersMedV ein Einzel-GdB von 40 anzusetzen. Grundlage der Beurteilung der Hörminderung bildet das Tonschwellenaudiogramm vom 4. März
2011, dessen Ergebnisse ausweislich der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 5. Oktober 2012 durch das nach Teil B Nr.
5 der Anlage zu § 2 VersMedV ebenfalls heranzuziehenden Sprachaudiogramm vom selben Tag bestätigt wird. Unter Anwendung der 4-Frequenztabelle nach Röser
1973 (Teil B Nr. 5.2.2 der Anlage zu § 2 VersMedV) errechnet sich hieraus ein prozentualer Hörverlust für das rechte Ohr von 39 (9 bei 500 Hz, 16 bei 1000 Hz, 7 bei 2000 Hz
und 7 bei 4000 Hz) sowie für das linke Ohr von 95 (20 bei 500 Hz, 33 bei 1000 Hz, 28 bei 2000 Hz und 14 bei 4000 Hz). Für
diese Werte sieht die Tabelle 4 (Teil B Nr. 5.2.4 der Anlage zu § 2 VersMedV) einen Einzel-GdB von 30 vor. Indes ist zu berücksichtigen, dass dieses Ergebnis direkt an der Grenze zu dem Einzel-GdB von
40 liegt. Der Senat hält es für geboten, unter Berücksichtigung der Ohrgeräusche, die zu der Hörminderung eine weitere Teilhabebeeinträchtigung
darstellen, den Einzel-GdB in diesem Funktionssystem mit 40 zu bewerten.
Liegen - wie hier - mehrere Beeinträchtigungen am Leben in der Gesellschaft vor, ist der GdB gemäß §
69 Abs.
3 SGB IX nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen
festzustellen. Nach Teil A Nr. 3c der Anlage zur VersMedV ist bei der Beurteilung des Gesamt-GdB von der Funktionsstörung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt, und dann
im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung
größer wird.
Bei dem Kläger ist der Gesamt-GdB danach mit 50 festzusetzen. Der Einzel-GdB von 40 für die Hörminderung mit Ohrgeräuschen
ist unter Berücksichtigung der mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewertenden Behinderungen der unteren Extremitäten heraufzusetzen.
Die Behinderungen des Klägers betreffen zwei unterschiedliche Funktionssysteme, woraus im vorliegenden Fall auf eine wesentliche
Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen ist, da die Teilhabebeeinträchtigungen maßgeblich verstärkt werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG und folgt dem Ausgang des Rechtsstreits.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§
160 Abs.
2 SGG) sind nicht erfüllt.