Tatbestand:
Die Beteiligten streiten darum, ob der Klägerin Versorgung nach dem
Opferentschädigungsgesetz (
OEG) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) zu gewähren ist.
Die 1964 geborene Klägerin beantragte am 1. September 2006 bei dem Beklagten Entschädigungsversorgung nach dem
OEG: Aufgrund sexuellen Missbrauchs durch den - inzwischen verstorbenen - Vater ihrer Pflegemutter und dessen Freunde in dem
Zeitraum vom Sommer 1968 bis Mitte 1974 leide sie an psychischen Erkrankungen.
Zu Beginn der Ermittlungen wandte der Beklagte sich an den Fachpsychologen für Rechtspsychologie Prof. Dr. St, der in seinem
als aussagepsychologische Stellungnahme bezeichneten Schreiben vom 3. Januar 2007 ausführte, eine positive Substantiierung
des Erlebnisgehalts des Missbrauchs aufgrund einer aussagepsychologischen Begutachtung erscheine nicht a priori aussichtslos,
und detaillierte Vorschläge machte, welche Ermittlungen vor einer Begutachtung durchzuführen seien. Dem kam der Beklagte nach,
indem er neben Befundberichten der die Klägerin behandelnden Ärzte eine schriftliche Aussage des Ehemanns der Klägerin vom
23. Januar 2007 einholte, der erklärte, die Klägerin habe ihm 1992 von dem sexuellen Missbrauch erzählt. Bei einem gemeinsamen
Gespräch mit der Pflegemutter, die inzwischen verstorben sei, habe diese, als die Klägerin ihr vorgeworfen habe, von dem Missbrauch
gewusst, aber nichts getan zu haben, gesagt: "Nicht nur du, I doch auch. Das war doch ganz normal." I sei ein weiteres Pflegekind
gewesen. Ende 2001, kurz vor ihrem Tod, habe sie in seinem Beisein bestätigt, ebenfalls missbraucht worden zu sein.
Im Auftrag des Beklagten erstattete die Fachpsychologin für Rechtspsychologie Dr. E auf der Grundlage von ambulanten Untersuchungen
der Klägerin und einer Befragung deren Ehemanns das aussagepsychologische Gutachten vom 17. September 2007. Hierbei orientierte
sie sich an den Anforderungen, die der Bundesgerichtshof im Urteil vom 30. Juli 1999 (- 1 StR 618/98 -, BGHSt 45, 164) für den Strafprozess formuliert hatte.
Die Gutachterin gelangte zu dem Ergebnis, dass aufgrund der psychischen Besonderheiten der Klägerin - insbesondere wegen einer
dissoziativen Störung - bezüglich eines Großteils ihrer Angaben von einer fehlenden Aussagefähigkeit auszugehen sei. Im Übrigen
lägen unter Berücksichtigung der Aussageentstehungs- und Aussageentwicklungsgeschichte zwar Anhaltspunkte dafür vor, dass
die Schilderungen von sexuellen Übergriffe seitens des Vaters der Pflegemutter zumindest teilweise auf einem realen Erlebnishintergrund
beruhen würden. Dafür sprächen aber insbesondere Faktoren, deren Würdigung außerhalb aussagepsychologischer Beurteilungsmöglichkeiten
liege. Indessen lasse sich die Denkmöglichkeit, dass es infolge autosuggestiver Prozesse zu den in Frage stehenden Angaben
gekommen sei, aus aussagepsychologischer Sicht nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zurückweisen. Zumindest sei es sehr
wahrscheinlich, dass die aktuellen Schilderungen der Klägerin im hohen Maße durch autosuggestive Prozesse verzerrt und aggraviert
seien. Ob und gegebenenfalls welche der nun von der Klägerin vorgebrachten Anschuldigungen auf einem realen Erlebnishintergrund
beruhten und welche durch autosuggestive Einflussnahmen kontaminiert seien, lasse sich u.a. aufgrund des langen Zeitablaufs,
der Intensität verfälschender Wirkfaktoren und den individuellen Besonderheiten der Klägerin mit aussagepsychologischen Mitteln
retrospektiv nicht klären.
Der Beklagte lehnte den Antrag durch Bescheid vom 22. Oktober 2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Juli 2008
mit der Begründung ab, die von der Klägerin behaupteten sexuellen Übergriffe seien nicht nachgewiesen.
Mit ihrer Klage bei dem Sozialgericht Berlin hat die Klägerin Versorgung nach dem
OEG begehrt. Das Sozialgericht hat neben Befundberichten der die Klägerin behandelnden Ärzte und Therapeuten das Gutachten nach
Aktenlage der Dipl.-Psychologin Dr. D vom 22. Dezember 2010 eingeholt. Die Sachverständige hat dargelegt, dass die von ihr
festgestellten Gesundheitsstörungen
- multiple Persönlichkeitsstörung (Einzel-GdS von 50)
- Agoraphobie mit Panikstörung (Einzel-GdS von 40)
- atypische Anorexia nervosa (Einzel-GdS von 20)
mit überwiegend Wahrscheinlichkeit durch den - laut Beweisanordnung als wahr zu unterstellenden - sexuellen Missbrauch verursacht
worden seien und mit einem Gesamt-GdS von 70 zu bewerten seien. Andere von der Klägerin erlittene Gewalt- und Belastungserfahrungen
hätten auf die Entstehung der vorliegenden Gesundheitsstörungen keine annähernd gleichwertige Auswirkungen.
Mit Urteil vom 8. August 2011 hat das Sozialgericht den Beklagten verpflichtet, bei der Klägerin das Vorliegen der multiplen
Persönlichkeitsstörung, der Agoraphobie mit Panikstörung und der atypischen Anorexia nervosa als Schädigungsfolge nach dem
OEG anzuerkennen und ab dem 1. September 2006 Leistungen nach einem GdS von 70 zu erbringen. Zur Begründung hat es insbesondere
ausgeführt:
Die Klägerin habe Anspruch auf Versorgung nach dem
OEG, da sie infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs - des sexuellen Missbrauchs - eine gesundheitliche
Schädigung erlitten habe (§
1 Abs.
1 OEG).
Sie habe nach §
6 Abs.
3 OEG in Verbindung mit § 15 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG) glaubhaft gemacht, dass sie im Kindesalter Opfer sexuellen Missbrauchs geworden sei. Abweichend vom dem Grundsatz, dass
der schädigende Vorgang des Vollbeweises bedürfe, sei hier die überwiegende Wahrscheinlichkeit, d.h. die gute Möglichkeit,
dass sich der Vorgang so zugetragen habe, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen könnten, ausreichend. Denn eine Beweisführung
sei nicht möglich. Der Vater der Pflegemutter, die Pflegemutter und die Pflegeschwester der Klägerin, die ebenfalls Opfer
sexueller Übergriffe durch den Pflegegroßvater geworden sein solle, seien gestorben; die Identität der von der Klägerin genannten
Mittäter sei unbekannt geblieben. Bei Anwendung dieses Maßstabs sei davon auszugehen, dass es tatsächlich zu sexuellen Übergriffen
gekommen sei.
Dem stehe das aussagepsychologische Gutachten der Psychologin Dr. E nicht entgegen. Die Möglichkeit, dass die Klägerin in
ihrer Kindheit keinerlei sexuellen Übergriffen ausgesetzt gewesen sei, sei gerade nicht die überwiegend wahrscheinlichste.
Die bewusste Falschdarstellung könne bei der Klägerin nicht angenommen werden. Es sei vielmehr mit der Gutachterin Dr. E davon
auszugehen, dass die Klägerin die Schilderungen als subjektiv wahr dargestellt habe. Es sei dagegen nicht auszuschließen,
dass sie infolge des langen Zeitablaufs, der intensiven therapeutischen Aufarbeitung der Gewalterfahrung und der Ausbildung
der dissoziativen Persönlichkeitsstruktur tatsächlich Erlebtes verzerrt und/oder aggravierend wiedergegeben habe. Auch nach
dem Ergebnis der Begutachtung durch die Psychologin Dr. E sei es jedoch auszuschließen, dass die Schilderungen der Klägerin
auf gar keinem realen Erlebnishintergrund beruht hätten. Der als erster Übergriff geschilderte Vorfall im Schuppen habe sich
mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zugetragen.
Es könne nicht angenommen werden, dass die Schilderung der Klägerin vollständig auf Autosuggestion beruhe und jeglichen realen
Erlebnishintergrundes entbehre. Denn eine Reihe von Anhaltspunkten mache einen sexuellen Missbrauch wahrscheinlich. Die Klägerin
habe ihren Angaben zufolge bereits im jugendlichen Alter ihre Pflegemutter mit dem Vorwurf, von den Übergriffen gewusst zu
haben, konfrontiert. Auch habe sie ihrem Ehemann gegenüber nach dessen Aussage bereits vor dem Beginn der therapeutischen
Behandlung den Missbrauch erwähnt. Der Ehemann habe weiter bestätigt, dass die Pflegemutter in einem Gespräch ihr Wissen eingeräumt
habe und die Pflegeschwester kurz vor ihrem Tod bestätigt habe, ebenfalls Opfer von Übergriffen gewesen zu sein.
Es könne dahingestellt bleiben, ob ein Teil der von der Klägerin geschilderten Erinnerungen möglicherweise keinen realen Erlebnishintergrund
habe, da es hierauf nicht ankomme. Für die Erfüllung des Tatbestandes des § 1 Abs. 1 OEWG sei bereits die Glaubhaftmachung
eines einzelnen tätlichen Angriffs ausreichend.
Die Klägerin habe durch die Gewalttat auch eine gesundheitliche Schädigung erlitten. Sie leide nach den überzeugenden Ausführungen
der Psychologin Dr. D unter einer multiplen Persönlichkeitsstörung, einer Agoraphobie mit Panikstörung und einer atypischen
Anorexia nervosa, die mit einem GdS von 70 zu bewerten seien.
Diese Gesundheitsstörungen beruhten auch kausal auf dem schädigenden Ereignis. Für den ursächlichen Zusammenhang bestehe eine
hinreichende Wahrscheinlichkeit (§
1 Abs.
1 Satz 1
OEG in Verbindung mit § 1 Abs. 3 BVG). Dies habe die Sachverständige Dr. D überzeugend bejaht. Der Kausalität stehe nicht entgegen, dass die Klägerin in der Kindheit
weiteren Gewalterfahrungen und im Säuglingsalter massiver Vernachlässigung ausgesetzt gewesen sei. Für die Kausalität reiche
es aus, dass der tätliche Angriff jedenfalls gleichwertige Ursache der Gesundheitsschädigung sei; er müsse nicht die alleinige
Ursache darstellen. Zwar könnten die übrigen Kindheitserfahrungen der Klägerin mit einer relativ hohen Wahrscheinlichkeit
mitverursachend für die Ausbildung der psychischen Erkrankungen gewesen sein, sie überlagerten die sexuelle Gewalterfahrung
jedoch nicht in einem solchen Maße, dass sie diese als wesentliche Ursache für den Gesundheitsschaden entfallen lassen würden.
Die Klägerin habe vom Zeitpunkt der Antragstellung am 1. September 2006 an einen Anspruch auf Versorgungsleistungen nach einem
GdS von 70. Der Anspruch sei, da dem Angriff vor dem 16. Mai 1976, dem Inkrafttreten des
OEG, gelegen habe, an die weiteren Voraussetzungen des §
10a OEG geknüpft. Die Klägerin sei allein aufgrund der Schädigung schwerbeschädigt und habe ihren Wohnsitz im Geltungsbereich des
OEG. Ein Leistungsanspruch bestehe für Zeiten, in denen die Klägerin bedürftig sei.
Gegen das Urteil hat der Beklagte Berufung eingelegt. Zur Begründung bezieht er sich auf das in seinem Auftrag erstellte und
als psychologisches Gutachten bezeichnete Schreiben des Fachpsychologen für Rechtspsychologie Prof. Dr. St vom 12. Dezember
2011 und das als aussagepsychologische Stellungnahme bezeichnete Schreiben vom 2. August 2014.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 8. August 2011 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen,
Sie hält die Entscheidung des Sozialgerichts für zutreffend.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Schriftsätze der Beteiligten, den
übrigen Inhalt der Gerichtsakte und die Verwaltungsvorgänge des Beklagten, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen
Verhandlung gewesen sind.
Die zulässige Berufung des Beklagten ist unbegründet.
Die Ausführungen von Prof. Dr. St in dessen Schreiben vom 12. Dezember 2011 und vom 2. August 2014, auf die der Beklagte anstelle
einer eigenen Berufungsbegründung verweist, rechtfertigen keine abweichende Entscheidung. Bei den genannten Schreiben handelt
es sich schon nicht um gutachterliche Stellungnahmen, denn die Qualifizierung einer schriftlichen Emanation von Sachverstand
als Gutachten setzt - auch wenn es nicht von dem Gericht, sondern von einem Beteiligten eingeholt und anschließend von diesem
in das gerichtliche Verfahren eingebracht wird - die Neutralität des Sachverständigen voraus. Diese ist vorliegend in der
Person des Prof. Dr. St nicht gegeben. Vielmehr kann der Eindruck nicht von der Hand gewiesen werden, dass er prägenden Einfluss
auf das Verwaltungsverfahren des Beklagten ausübte. Nachdem Prof. Dr. St gleich zu Beginn des Verfahrens von dem Beklagten
- ohne dass aus dem Verwaltungsvorgang konkrete Beweisfragen ersichtlich wären - um eine Begutachtung gebeten wurde, ist der
Beklagte den in der daraufhin erstellten "Aussagepsychologischen Stellungnahme" vom 3. Januar 2007 enthaltenen detaillierten
Vorgaben zu den weiteren Ermittlungen exakt nachgekommen. Dieses Vorgehen ist mit § 20 Abs. 1 Satz 2 Sozialgesetzbuch, Zehntes Buch (SGB X) nicht zu vereinbaren, wonach die B e h ö r d e Art und Umfang der Ermittlungen bestimmt. Hinzu kommt, dass der Beklagte
während des Berufungsverfahrens von eigenen Stellungnahmen vollständig abgesehen und sich darauf beschränkt hat, zur Begründung
seines Rechtsmittels auf die Darlegungen von Prof. Dr. St zu verweisen. Unabhängig von der Frage, in welchem Umfang der aus
dem Strafprozess entlehnte methodische Ansatz der Falsifikation der Nullhypothese überhaupt auf die Glaubhaftmachung im Sinne
des § 15 KOVVfG übertragen werden kann (siehe hierzu Bundessozialgericht -BSG-, Urteil vom 17. April 2013 - B 9 V 3/12 R -, juris), mag aus rein aussagepsychologischer Sicht eine höhere Wahrscheinlichkeit dafür bestehen, dass die Angaben der
Klägerin das Ergebnis autosuggestiver Prozesse darstellen. Das Sozialgericht ist nach einer ausführlichen und eingehenden
Würdigung der - auch von ihm als problematisch erkannten - Angaben der Klägerin und der übrigen Umstände, insbesondere der
Angaben ihres Ehemanns, zu dem Schluss gelangt, dass die Klägerin glaubhaft Opfer eines sexuellen Missbrauch geworden ist.
Dem schließt der Senat sich an.