Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde im sozialgerichtlichen Verfahren; Bezeichnung des Verfahrensmangels; Verletzung der
Sachaufklärungspflicht durch das LSG
Gründe:
I
Die Klägerin begehrt Rente wegen Erwerbsminderung. Sie macht geltend, dem Landessozialgericht (LSG) sei bei seiner Entscheidung
über ihre Berufung gegen das klageabweisende Urteil des Sozialgerichts Mannheim (SG) ein Verfahrensfehler unterlaufen.
Die 1958 geborene Klägerin hat keinen Beruf erlernt und war zuletzt von 1990 bis 2004 als Küchenhilfe in der Metzgereiküche
ihrer Schwester beschäftigt; seit November 2004 ist sie arbeitsunfähig erkrankt und bezog zuletzt Arbeitslosengeld II.
Ihren Rentenantrag vom Februar 2006 lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 26.5.2006 und Widerspruchsbescheid vom 11.8.2006
ab. Im erstinstanzlichen Verfahren holte das SG ein internistisches Gutachten sowie das Gutachten des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie/Psychotherapeutische Medizin
Dr. W. ein. Eine schriftliche Vernehmung des Neurologen und Psychiaters Dr. G., bei dem die Klägerin unterdessen in Behandlung
stand, als sachverständiger Zeuge erbrachte die Auskunft, es liege eine posttraumatische Belastungsstörung bzw eine andauernde
Persönlichkeitsänderung vor. Die lebensgeschichtlichen Hintergründe lägen in einer fortgesetzten Missbrauchserfahrung durch
eine nahestehende Person, die sich über Jahre hingezogen habe und in mindestens einem Schwangerschaftsabbruch geendet habe.
Daraufhin zog das SG das Gutachten des Neurologen und Psychiaters Dr. H. (Chefarzt einer Klinik für Suchttherapie) vom 29.2.2008 bei. Dieser gab
an, nach Mitteilung der Klägerin sei diese in der Jugend immer wieder von einem Fremden vergewaltigt worden. Das erfolgte
Auftreten des (unterstellten) sexuellen Missbrauchs erfülle die Kriterien für das Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung.
Die Klägerin könne jedoch täglich noch acht Stunden zumutbare Arbeiten (wegen einer nur niedrig ausgeprägten Intelligenz lediglich
geistig anspruchslose Tätigkeiten) verrichten. Er stimme Dr. G. hinsichtlich der Diagnose zu, nicht jedoch des von ihm angenommenen
Ausmaßes der sich aus der vorliegenden Erkrankung ergebenden Einschränkungen. Im klagabweisenden Urteil vom 25.4.2008 lehnte
das SG den Hilfsantrag der Klägerin auf Veranlassung einer psychosomatischen Fachbegutachtung ab, nachdem zwei erfahrene Gerichtsgutachter
auf nervenärztlichem Fachgebiet befragt worden seien, die auch in der Lage seien, psychosomatische Beschwerden zu beurteilen.
Im Berufungsverfahren hat die Klägerin ihren Hilfsantrag - auf Einholung eines psychosomatischen Fachgutachtens von Amts wegen
zum Beweis der Tatsache, dass sie nicht mehr in der Lage sei, einer sechsstündigen beruflichen Tätigkeit im Bereich des allgemeinen
Arbeitsmarkts nachzugehen - wiederholt. Nur erfahrene und in der spezifischen psychosomatischen Interviewtechnik bewanderte
Sachverständige seien in der Lage, den krankheitsbedingt bei ihr fast unknackbaren psychischen "Panzer" zu lösen. Sie hat
ferner darauf hingewiesen, dass es sich entgegen der Annahme des Sachverständigen Dr. H. nicht lediglich um fortgesetzte Vergewaltigung
durch einen Fremden gehandelt habe, sondern, wie aus der "gutachterlichen Stellungnahme" von Dr. G. hervorgehe, eine der Klägerin
äußerst nahestehende Person der Täter sei. Dies stelle eine besonders schwerwiegende Entwicklung dar, da bei derartigen Übergriffen
den Opfern keine Möglichkeit bleibe, sich in einen heimischen und familiären, intimen persönlichen Schutzbereich zurückzuziehen,
was eine völlige Hilf- und Machtlosigkeit zur Folge habe. Das LSG hörte Dr. G. erneut schriftlich als sachverständigen Zeugen
("nervenärztlich-psychosomatische, gutachterliche Stellungnahme" vom 9.9.2008). Mit Urteil vom 27.3.2009 hat das LSG die Berufung
der Klägerin zurückgewiesen. Der Senat habe sich nicht davon überzeugen können, dass - wie von Dr. G. unter dem 9.9.2008 angenommen
- eine depressive Somatisierung mit Angst und Asthenie kombiniert sowie eine depressive Anpassungsstörung bei Multimorbidität
bzw ein atypischer Autismus im Rahmen einer schweren neurotischen Störung vorliege. Denn Dr. H. habe in seinem Gutachten von
29.2.2008 nachvollziehbar und schlüssig dargelegt, dass die Kriterien für das Vorliegen einer eigenständigen depressiven Erkrankung
oder einer (auch leichten) depressiven Episode ebenso wenig erfüllt würden wie die für das Vorliegen einer eigenständigen
Angsterkrankung oder einer somatoformen Störung im Sinne des Klassifikationssystems ICD-10. Dr. H. sei bei seiner Untersuchung
"die von der Klägerin behauptete Vergewaltigung" bekannt gewesen, da dies anlässlich der Untersuchung angesprochen worden
sei. Gegen das Vorliegen der genannten Erkrankungen spreche auch, dass nach Auskunft von Dr. G. vom 9.9.2008 konkrete Behandlungsmaßnahmen
nicht durchgeführt würden.
Mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde rügt die Klägerin eine Verletzung der Sachaufklärungspflicht (§ 103 des Sozialgerichtsgesetzes
[SGG]), weil das LSG dem Beweisantrag nicht gefolgt sei, zum Beweis der Tatsache, dass sie nicht mehr in der Lage sei, einer
sechsstündigen beruflichen Tätigkeit im Bereich des allgemeinen Arbeitsmarkts nachzugehen, eine psychosomatische Fachbegutachtung
durch einen Facharzt für psychosomatische Medizin und Therapie mit ausreichender klinischer Erfahrung der Behandlung psychosomatischer
Erkrankungen anzuordnen.
II
Nach §
73a Abs
1 Satz 1
SGG iVm §
114 Satz 1 der
Zivilprozessordnung (
ZPO) war der Klägerin angesichts ihrer persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse und wegen hinreichender Erfolgsaussicht
ihres Rechtsmittels (Nichtzulassungsbeschwerde) Prozesskostenhilfe zu bewilligen und Rechtsanwalt S. beizuordnen.
III
Die zulässige, insbesondere formgerechte Beschwerde ist auch begründet.
Zu Recht rügt die Klägerin, dass das LSG ihrem hilfsweise gestellten Beweisantrag ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt
ist (§
160 Abs
2 Nr
3, letzter Teilsatz
SGG).
Dem LSG ist insoweit ein Verstoß gegen §
103 SGG (Amtsermittlungspflicht) unterlaufen. Entgegen der Argumentation des Berufungsurteils durfte über das Rechtsmittel der Klägerin
ohne weitere Ermittlungen in dem von ihr beantragten Sinne nicht entschieden werden.
Soweit sich das LSG auf das Gutachten Dr. H. mit der Begründung stützt, dass diesem "die von der Klägerin behauptete Vergewaltigung
bekannt (gewesen sei), da dies anlässlich der Untersuchung angesprochen wurde", ändert dies nichts an dem Befund, dass das
Gutachten Dr. H. iS des §
412 Abs
1 ZPO ungenügend ist. Denn Dr. H. hat zum Vergewaltigungsgeschehen lediglich über die Angaben der Klägerin berichtet, sie sei über
lange Zeit in ihrer Jugend immer wieder vergewaltigt worden: "Sie sei von einem Fremden vergewaltigt worden. Dieser sei immer
da gewesen, wo sie auch gewesen sei. Mehr wolle sie nicht darüber reden." In seiner Beurteilung wiederholt Dr. H. diese Angaben
zusammengefasst und fügt hinzu: "Einzelheiten gab sie dazu nicht an, was die Beurteilung etwas erschwert." Sein Gutachten
enthält, weil danach nicht gefragt wurde, keine Äußerung hinsichtlich der Notwendigkeit eines weiteren, zB psychosomatischen,
Gutachtens. Eine zusätzliche Äußerung wurde von Dr. H. auch im Berufungsverfahren nicht erbeten.
Damit aber bestand zu den Äußerungen des Dr. G. eine deutliche Diskrepanz nicht nur, wie vom LSG dargestellt, hinsichtlich
der Leistungsbeurteilung auf der Grundlage einer einheitlichen Diagnose ("posttraumatisches Belastungssyndrom"), sondern bereits
hinsichtlich der Ausprägung der von Dr. G. sowie Dr. H. einheitlich als "posttraumatische Belastungsstörung" bezeichneten
Erkrankung. Denn Dr. G. ist sowohl in seinen Berichten (schriftlichen sachverständigen Zeugenaussagen) gegenüber dem SG wie gegenüber dem LSG davon ausgegangen, dass die Klägerin nicht (nur) in ihrer Jugend von einem Fremden wiederholt vergewaltigt
worden ist, sondern von einer ihr "nahestehenden Person", der die Klägerin unter Androhung schlimmster Folgen versprechen
musste, nie etwas zu "verraten". Plastisch schildert Dr. G., dass die Klägerin, wenn es um den Punkt der Lüftung der Geheimnisse
der Person gehe, "sofort in eine affektive Alarmsituation gerät und entweder den Raum verlässt oder in einem Zustand des völligen
Außersichseins darum bittet, die Befragung nicht weiterzuführen". Damit aber ergibt sich nachvollziehbar nicht nur eine durchaus
andere Ausgangssituation als die vom LSG angeführte "von der Klägerin behauptete Vergewaltigung" (Einzahl), sondern auch ein
schwerer wiegendes Geschehen als die von Dr. H. unterstellte wiederholte Vergewaltigung "von einem Fremden". Dies gilt umso
mehr, als nicht auszuschließen ist, dass - anders als gegenüber einem "Fremden" - nach wie vor noch Beziehungen zu der "nahestehenden
Person" bestehen, die weiterhin die Belastungsstörung aufrechterhalten. Das LSG hat weder entschieden, welche Sachverhaltsvariante
vorlag, noch, dass es auf die Unterschiede nicht ankam.
Bei dieser Ausgangslage können die Ablehnung des Beweisantrags und das Berufungsurteil auch nicht darauf gestützt werden,
dass Dr. G. in seinen Berichten "keine präzise Leistungsbeurteilung abgegeben hat" und dem Senat ferner "weder nachvollziehbar
noch begründet" sei, dass Dr. G. davon ausgehe, es sei notwendig, die Klägerin mindestens fünf Jahre vom Druck, arbeiten gehen
zu müssen, zu entlasten. Denn Dr. G. ist gerade nicht als Sachverständiger gehört worden, sondern lediglich als sachverständiger
Zeuge (auch wenn Dr. G. vom SG gefragt wurde, ob er ua hinsichtlich der Bewertung der beruflichen Leistungsfähigkeit der Klägerin den in den beigelegten
Aktenauszügen enthaltenen Feststellungen und Beurteilungen zustimme). Ebenso wenig kann der Beurteilung von Dr. G. entgegengehalten
werden, dass nach seiner Auskunft vom 9.9.2008 derzeit keine Behandlung der Klägerin stattfinde. Dies verkennt dessen Ausführungen,
wonach es sich bei seinen Kontakten mit der Klägerin in erster Linie um Exploration und Erörterungen diagnostischer Art gehandelt
habe, und therapeutische Interventionen einer viel umfassenderen Einsicht und Aufdeckungsbereitschaft bedürften, als sie die
Klägerin vorweisen könne. Deshalb sei es zur Zeit unmöglich, die Patientin zur Einsicht zu bringen, dass Therapie notwendig
sei.
Soweit sich das LSG für seine Vorgehensweise auf die Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 19.11.2007 (B 5a/5 R 382/06 B, SozR 4-1500 § 160a Nr 21) bezieht, vermag der Senat dem nicht zu folgen. Dies gilt schon deshalb, weil die genannte Entscheidung
ausdrücklich ausführt (aaO RdNr 9), es gehe dort nicht um Gutachten, die auf einander widersprechenden Tatsachen beruhten.
Ebenso wenig kann sich das LSG im vorliegenden Zusammenhang auf den Senatsbeschluss vom 12.12.2003 (SozR 4-1500 § 160a Nr
3) stützen. Der insoweit gebildete Leitsatz ("Bei einer Verfahrensfehlerrüge wegen Verletzung der Sachaufklärungspflicht muss
zur Bezeichnung eines prozessordnungsgemäßen Beweisantrags auch dargelegt werden, welche neuen entscheidungserheblichen Tatsachen
festgestellt werden sollten; zielt der Beweisantrag nur auf eine andere Diagnosebezeichnung oder eine andere Beurteilung der
Auswirkungen von bereits festgestellten gesundheitlichen Einschränkungen, genügt dies den Anforderungen nicht.") ist hinsichtlich
der "andere(n) Beurteilung der Auswirkungen von bereits festgestellten gesundheitlichen Einschränkungen" missverständlich.
Denn hiermit kann nicht gemeint sein, dass eine solche andere Beurteilung (schlechthin) nicht entscheidungserheblich sein
könne (wie der Beschluss aaO, RdNr 8 nahelegt). Diese Ausführungen sind vielmehr dahin zu verstehen, dass eine derartige "andere
Beurteilung" im Streit um eine Erwerbsminderungsrente nur dann entscheidungserheblich ist, wenn sie die sozialmedizinische
Leistungsbewertung im rentenrelevanten Ausmaß beeinflusst. In diesem Sinne aber geht es in Streitverfahren über Erwerbsminderungsrenten
typischerweise entscheidungserheblich gerade darum, welche Auswirkungen bereits diagnostizierte Gesundheitsstörungen im Erwerbsleben
haben, ob etwa eine "posttraumatische Belastungsstörung" zu einer Leistungseinschränkung dahingehend führt, dass ein sechsstündiger
Arbeitstag nicht mehr bewältigt werden kann - oder aber nicht.
Auch wenn die Würdigung unterschiedlicher Gutachten wie die anderer sich widersprechender Beweisergebnisse zur Beweiswürdigung
selbst gehört, und damit entsprechende Fehler im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde von vornherein unerheblich sind (§
160 Abs
2 Nr
3, letzter Teilsatz
SGG), wird das BSG hierdurch nicht von der in der genannten Vorschrift für Sachaufklärungsrügen (§
103 SGG) vorgeschriebenen Prüfung entbunden, ob das LSG einem Beweisantrag ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist (BSG vom
19.4.1983, SozR 1500 § 160 Nr 49 unter teilweiser Aufgabe entgegenstehender Rechtsprechung).
Schließlich kann die angefochtene Entscheidung auf diesem Verfahrensmangel beruhen.
Zur Vermeidung weiterer Verfahrensverzögerung hat der Senat die Sache im Beschlusswege nach §
160a Abs
5 SGG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.