Erstattung von Kosten für Leistungen der Eingliederungshilfe in Form des betreuten Wohnens nach dem SGB XII; Abgrenzung zwischen stationären und teilstationären Leistungen
Gründe:
I
Im Streit ist die Erstattung von Kosten in Höhe von 82 838,08 Euro für Leistungen der Eingliederungshilfe (Betreutes-Wohnen),
die der Kläger in der Zeit vom 20.10.2006 bis 12.4.2010 für die Leistungsberechtigte T. R. (T.R.) erbracht hat.
Die 1983 geborene T.R. zog zum 20.10.2006 von ihrem bisherigen Wohnort S. nach K. um, weil sie in eine Wohngruppe einer sozialtherapeutischen
Einrichtung für Frauen aufgenommen wurde; dort wohnte sie im streitbefangenen Zeitraum. Sowohl in S. als auch in K. erhielt
sie Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II). Den Antrag der T.R. auf Übernahme der Kosten der Betreuung in der Wohngruppe (vom 2.10.2006) leitete der Beklagte an den
Kläger weiter (Schreiben vom 6.10.2006), weil er sich für nicht zuständig erachtete. Der Kläger bewilligte T.R. Leistungen
der Eingliederungshilfe (bestandskräftige Bescheide vom 16.10.2006, 10.5.2007, 2.4.2008, 28.5. sowie 18.11.2009) und machte
erfolglos einen Erstattungsanspruch bei dem Beklagten geltend (Schreiben vom 16.10.2006; ablehnendes Schreiben des Beklagten
vom 1.11.2006).
Die auf Kostenerstattung in Höhe von 82 838,08 Euro gerichtete Klage hatte in beiden Instanzen Erfolg (Urteil des Sozialgerichts
[SG] Kiel vom 4.6.2013; Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts [LSG] vom 12.3.2014). Zur Begründung seiner
Entscheidung hat das LSG ausgeführt, gleichgültig ob T.R. in K. in einer ambulanten Wohnform oder einer teilstationären Einrichtung
gewohnt habe, sei der Beklagte der eigentlich zuständige Träger. Dessen örtliche Zuständigkeit ergebe sich bei Annahme einer
teilstationären Einrichtung in analoger Anwendung des § 98 Abs 2 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII), weil T.R. vor Aufnahme in die Einrichtung ihren gewöhnlichen Aufenthalt in S. gehabt habe; bei Annahme einer ambulanten
Betreuung ergebe sich seine Zuständigkeit aus § 98 Abs 5 iVm Abs 1 SGB XII wegen des tatsächlichen Aufenthalts der T.R. in S. vor Eintritt in die ambulante Wohnform, sodass für davor zu erbringende
Sozialleistungen der Beklagte zuständig gewesen wäre.
Mit seiner Revision rügt der Beklagte eine Verletzung des § 98 Abs 2 und 5 SGB XII. Für Einrichtungen der teilstationären Betreuung bedürfe es keiner analogen Anwendung der genannten Vorschriften; vielmehr
komme unmittelbar § 98 Abs 1 Satz 1 SGB XII zur Anwendung. Dies führe zu einer eigentlichen örtlichen Zuständigkeit des Klägers, weil sich T.R. in K. tatsächlich aufgehalten
habe.
Der Beklagte beantragt,
die Urteile des SG und des LSG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält die angefochtenen Entscheidungen für zutreffend.
II
Die Revision ist im Sinne der Aufhebung des LSG-Urteils und der Zurückverweisung der Sache an das LSG zur erneuten Verhandlung
und Entscheidung begründet (§
170 Abs
2 Satz 2
Sozialgerichtsgesetz [SGG]).
Von Amts wegen zu berücksichtigende Verfahrensfehler liegen nicht vor. Insbesondere bedurfte es keiner Beiladung der T.R.
nach §
75 Abs
2 1. Alt
SGG (sog echte notwendige Beiladung), weil es sich bei dem vom Kläger als Rehabilitationsträger (§ 6 Sozialgesetzbuch Neuntes
Buch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - [SGB IX] iVm §§ 1, 2 Gesetz zur Ausführung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch [AGSGB XII] Schleswig-Holstein vom 17.12.2010 - Gesetz- und Verordnungsblatt [GVBl] 789, 813) mittels einer allgemeinen Leistungsklage
(§
54 Abs
5 SGG) geltend gemachten Erstattungsanspruch des §
14 Abs
4 Satz 1
SGB IX nicht um einen von der Rechtsposition des Leistungsempfängers abgeleiteten, sondern um einen eigenständigen Anspruch handelt,
der nur die Verteilung leistungsrechtlicher Verpflichtungen zwischen Kläger und Beklagtem betrifft (vgl zuletzt zusammenfassend
die Senatsentscheidung vom 25.4.2013 - B 8 SO 6/12 R - RdNr 10 mwN).
Nach §
14 Abs
4 Satz 1
SGB IX erstattet ein Rehabilitationsträger einem anderen dessen Aufwendungen nach den für diesen geltenden Rechtsvorschriften, wenn
nach der Bewilligung der Leistungen durch einen Rehabilitationsträger nach Maßgabe von Abs 1 Satz 2 bis 4 festgestellt wird,
dass der andere Rehabilitationsträger zuständig ist. Zuständig in diesem Sinne ist ein Träger, der ohne die Regelung des §
14 SGB IX zuständig wäre und von dem der Leistungsberechtigte die gewährte Leistung hätte beanspruchen können (vgl: BSGE 98, 277 ff RdNr 10 mwN = SozR 4-2500 § 40 Nr 4; BSG SozR 4-3250 § 14 Nr 12 RdNr 9 mwN).
Eine abschließende Entscheidung darüber, ob dem Kläger der geltend gemachte Erstattungsanspruch tatsächlich zusteht, war dem
Senat nicht möglich; es fehlt an hinreichenden tatsächlichen Feststellungen des LSG (§
163 SGG) nicht nur zum Inhalt der Maßnahme, sondern auch zur Rechtmäßigkeit der gegenüber T.R. erbrachten Leistungen und der Höhe
der geltend gemachten Erstattungsforderung (vgl zu diesen Voraussetzungen nur BSGE 109, 56 ff RdNr 10 = SozR 4-3500 § 98 Nr 1).
Lägen diese Voraussetzungen vor, wäre der Beklagte ohne die rechtzeitige Weiterleitung des Antrags der eigentlich zuständige
Träger für die Hilfe zum selbstbestimmten Wohnen in betreuten Wohnmöglichkeiten als Leistung der Eingliederungshilfe (§§ 53, 54 Abs 1 SGB XII iVm §
55 Abs
2 Nr
6 SGB IX); allerdings ist insoweit eine analoge Anwendung des § 98 Abs 2 Satz 1 SGB XII ausgeschlossen (dazu später).
Nach § 98 Abs 2 Satz 1 SGB XII ist für stationäre Leistungen der Träger der Sozialhilfe örtlich zuständig, in dessen Bereich die Leistungsberechtigten ihren
gewöhnlichen Aufenthalt im Zeitpunkt der Aufnahme in die Einrichtung haben oder in den zwei Monaten vor der Aufnahme zuletzt
hatten. Für Leistungen des Ambulant-betreuten-Wohnens ist der Träger der Sozialhilfe örtlich zuständig, der vor Eintritt in
diese Wohnform zuletzt zuständig war oder gewesen wäre (§ 98 Abs 5 Satz 1 SGB XII).
Nach Maßgabe des vom LSG nicht festgestellten und deshalb vom Senat eigenständig prüfbaren Landesrechts wäre der Beklagte
durch Heranziehung für stationäre Leistungen (nur) wahrnehmungszuständig (§ 97 Abs 1, 2 SGB XII iVm § 6 Abs 2 Niedersächsisches Gesetz zur Ausführung des SGB XII [AGSGB XII] vom 16.12.2004 - GVBl 644 -, iVm § 2 Abs 1 Nr 1 Verordnung zur Durchführung des AGSGB XII); denn T.R. hatte vor Aufnahme in die Wohngruppe in S. ihren gewöhnlichen Aufenthalt (§ 30 Sozialgesetzbuch Erstes Buch
- Allgemeiner Teil - [SGB I]). Läge ein Fall des Ambulant-betreuten-Wohnens vor, wäre, weil T.R. in S. keine Leistungen nach
dem SGB XII, sondern Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II erhalten hat, nach § 98 Abs 5 Satz 1 2. Alt SGB XII darauf abzustellen, welcher Träger der Sozialhilfe vor Eintritt in diese Wohnform für Sozialhilfeleistungen zuletzt zuständig
gewesen wäre (vgl: BSG SozR 4-5910 § 97 Nr 1 RdNr 16; Waldhorst-Kahnau in juris PraxisKommentar [juris PK] SGB XII, 2. Aufl 2014, § 13 SGB XII RdNr 19). Dies wäre nach § 98 Abs 1 Satz 1 SGB XII ebenfalls der Beklagte, wenn T.R. anstelle der an sie erbrachten Leistungen nach dem SGB II Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII erhalten hätte, weil sich T.R. in S. tatsächlich aufhielt und dort auch ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Als örtlicher
Träger wäre der Beklagte indes nicht nur wahrnehmungszuständig, sondern auch sachlich leistungszuständig (§ 97 Abs 1, 2 SGB XII iVm § 6 Abs 1 AGSGB XII).
Gäbe es eine teilstationäre Leistung des Betreuten-Wohnens und läge ein solcher Fall vor, fände § 98 Abs 2 Satz 1 SGB XII weder unmittelbar noch analog Anwendung. § 98 Abs 2 Satz 1 SGB XII regelt nämlich nur die örtliche Zuständigkeit für vollstationäre Leistungen in einer Einrichtung (so auch: Söhngen in jurisPK
SGB XII, 2. Aufl 2014, § 98 SGB XII RdNr 31; Hohm in Schellhorn/Hohm/Scheider, SGB XII, 19. Aufl 2015, § 98 SGB XII RdNr 30; Schlette in Hauck/Noftz, SGB XII, K § 98 RdNr 45, Stand März 2015). Der Begriff "stationäre Leistung" umfasst nicht, gleichsam als Oberbegriff, vollstationäre und
teilstationäre Leistungen. Dies macht die ausdrückliche Differenzierung in § 13 Abs 1 Satz 1 SGB XII und § 75 Abs 1 Satz 1 SGB XII deutlich, wonach terminologisch zwischen teilstationären und stationären Leistungen unterschieden wird (vgl auch § 100 Abs 1 Nr 1 und 5 Bundessozialhilfegesetz [BSHG]).
Die Zuständigkeit des Beklagten für teilstationäre Maßnahmen kann mangels Regelungslücke auch nicht auf eine analoge Anwendung
des § 98 Abs 2 Satz 1 SGB XII gestützt werden. Eine Analogie, die Übertragung einer gesetzlichen Regelung auf einen Sachverhalt, der von der betreffenden
Vorschrift nicht erfasst wird, ist nur geboten, wenn dieser Sachverhalt mit dem geregelten vergleichbar ist, nach dem Grundgedanken
der Norm und dem mit ihr verfolgten Zweck dieselbe rechtliche Bewertung erfordert (BSG SozR 3-2500 § 38 Nr 2 S 12) und eine (unbewusste) planwidrige Regelungslücke vorliegt (BVerfGE 82, 6, 11 ff mwN; BSGE 77, 102, 104 = SozR 3-2500 § 38 Nr 1 S 3; BSGE 89, 199, 202 f = SozR 3-3800 § 1 Nr 21 S 95 f mwN). Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt.
Angesichts der bereits im BSHG angelegten (vgl § 97 Abs 2) Unterscheidung (vgl dazu: BVerwGE 88, 86 ff = Buchholz 436.0 § 69 BSHG Nr 19; BVerwG Buchholz 436.0 § 69 BSHG Nr 12) und der Änderungen, die § 98 Abs 2 und 5 SGB XII seit seinem Inkrafttreten zum 1.1.2005 erfahren hat, ohne dass eine (neue) Regelung zu teilstationären Leistungen des Betreuten-Wohnens
in das Gesetz aufgenommen worden ist, ist nicht von einer unbewussten Lücke auszugehen.
Ohnedies ist zweifelhaft, ob es eine teilstationäre Form des Betreuten-Wohnens überhaupt geben kann. Wesentlich für den Einrichtungsbegriff
ist nämlich ein in einer besonderen Organisationsform zusammengefasster Bestand von personellen und sächlichen Mitteln unter
verantwortlicher Trägerschaft, der auf gewisse Dauer angelegt und für einen wechselnden Personenkreis zugeschnitten ist (BVerwGE
95, 149, 152; BVerwG, Urteil vom 24.2.1994 - 5 C 42/91 -, FEVS 45, 52 ff; Urteil vom 24.2.1994 - 5 C 13/91 -, FEVS 45, 183 ff; Urteil vom 24.2.1994 - 5 C 17/91 -, ZfSH/SGB 1995, 535 ff; BSGE 106, 264 ff RdNr 13 = SozR 4-3500 § 19 Nr 2) und der Pflege, der Behandlung oder sonstigen nach dem SGB XII zu deckenden Bedarfe oder der Erziehung dient (vgl § 13 Abs 2 SGB XII; näher dazu BSG SozR 4-5910 § 97 Nr 1 RdNr 15). Prägend für die "verantwortliche Trägerschaft" im Sinne des Einrichtungsbegriffs ist, dass der Einrichtungsträger die Gesamtverantwortung
für die tägliche Lebensführung des Leistungsberechtigten übernimmt (BVerwGE 95, 149, 150). Die Hilfeleistung in einer Einrichtung kann sich also schon per se nicht auf eine einzelne Verrichtung beschränken,
sondern umfasst - schon durch die Eingliederung des Hilfebedürftigen in die Räumlichkeiten des Trägers - die gesamte Betreuung
des Leistungsberechtigten, solange sich dieser in der Einrichtung aufhält (BVerwGE 48, 228 ff = Buchholz 436.0 § 40 BSHG Nr 6).
Die Intensität der Betreuung ist für die Abgrenzung stationärer und teilstationärer Maßnahmen dabei ohne Belang und nur als
Abgrenzungskriterium im Verhältnis zu ambulanten Leistungen des Betreuten-Wohnens heranzuziehen. Erhält ein Leistungsberechtigter
auf dem Weg zu mehr Selbstständigkeit eine umfassende Betreuung beim Wohnen in einer Einrichtung auch dann, wenn nach dem
Therapiekonzept bzw dem Hilfeplan aktive, direkte Hilfen entsprechend dem erreichten Grad an Selbstständigkeit des Leistungsberechtigten
in den Hintergrund rücken und andere, stärker auf Abruf angelegten Hilfen in den Vordergrund treten (vgl BVerwGE 95, 149, 150), wird eine solche Hilfe wegen der Eingliederung des Hilfebedürftigen in die Einrichtung gleichwohl in stationärer Form
erbracht. In welcher Form eine Leistung tatsächlich erbracht wird, ist dabei allein abhängig von der Art der Hilfe und den
konkreten Umständen der Leistungserbringung in jedem Einzelfall (so auch: Luthe in Hauck/Noftz, SGB XII, K § 13 RdNr 17, Stand November 2014; Hohm in Schellhorn/Hohm/Scheider, SGB XII, 19. Aufl 2015, § 98 SGB XII RdNr 33). Die Abgrenzung teilstationärer zu stationären Leistungen in Einrichtungen kann deshalb nur anhand zeitlicher Kriterien
erfolgen. Wohnt ein Leistungsberechtigter hingegen ohne organisatorische Anbindung und ohne die beschriebene umfassende Betreuung,
werden also nur zeitlich begrenzte Hilfen erbracht, liegt eine Leistungserbringung in ambulanter Form vor. Ein teilstationäres
Betreutes-Wohnen wäre deshalb überhaupt nur denkbar, wenn sich die Hilfe in einer Einrichtung auf zeitlich klar abgrenzbare
Abschnitte beschränken würde, was angesichts des Umstands, dass eine Person an einem Ort auch dann wohnt, wenn sie sich ggf
kurzfristig oder zeitabschnittsweise an einem anderen Ort befindet, nur schwer vorstellbar erscheint.
Ob und wie sich eine Einrichtung bezeichnet, sei es, wie hier, als "teilstationäre Wohngemeinschaft/Wohngruppe für Menschen
mit seelischer Behinderung", ist für die rechtliche Qualifikation der Leistung ebenso wenig von Belang wie die Bezeichnung
der Leistungen in den zwischen Leistungserbringer und den Sozialhilfeträgern abgeschlossenen Vereinbarungen.
Die Streitwertentscheidung beruht auf §
197a Abs
1 Satz 1
SGG iVm § 63 Abs 2, § 52 Abs 3 Satz 1, § 40 Gerichtskostengesetz.
Das LSG wird ggf über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.