Vergütung von Rechtsanwälten im sozialgerichtlichen Verfahren; Entstehung einer Erledigungsgebühr in Verfahren des einstweiligen
Rechtsschutzes
Gründe:
I. Nach Durchführung einer Anhörung im Widerspruchsverfahren beantragte der Erinnerungsführer am 16. November 2005 bei dem
Sozialgericht Marburg, im Wege der einstweiligen Anordnung den Antragsgegner, den Landkreis A-Stadt, zu verpflichten, der
Antragstellerin die Weiterbildungskosten zur psychologischen Psychotherapeutin für das erste Ausbildungsjahr einschließlich
Fahrtkosten bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache zu finanzieren und der Antragstellerin Prozesskostenhilfe zu gewähren.
In einer nichtöffentlichen Sitzung des Sozialgerichts Marburg (S 8 AS 114/05 ER) am 8. Juni 2006 bewilligte das Gericht der Antragstellerin Prozesskostenhilfe unter Beiordnung des Erinnerungsführers
als Prozessbevollmächtigten. Darüber hinaus schlossen die Beteiligten nach eingehender Erörterung der Sach- und Rechtslage
den Vergleich, wonach sich der Antragsgegner bereit erklärte, im Falle der Zulassung der Maßnahme des Trägers der Weiterbildung
zur psychologischen Psychotherapeutin gem. §
85 Sozialgesetzbuch III (
SGB III) erneut die Notwendigkeit der Weiterbildung der Antragstellerin gem. §
16 SGB II i.V.m. §
77 SGB III zu prüfen und hierüber einen rechtsmittelfähigen Bescheid zu erteilen. Der Antragsgegner sicherte zu, für den Fall, dass
die Antragstellerin im Zuge der Ausbildung unabhängig von Leistungen nach dem SGB II werde bzw. keine Leistungen zur Grundsicherung
mehr benötige, der Antragstellerin individuelle Hilfeleistungen aus dem Integrationsprogramm i.H.v. 2.400,00 Euro zu gewähren.
Daraufhin nahm die Antragstellerin den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz zurück. Der Vergleich enthielt zudem den Zusatz,
dass die Beteiligten einander keine Kosten zu erstatten hätten. Mit Kostenrechnung nach dem Rechtsanwaltsvergütungsgesetz (RVG) machte der Erinnerungsführer einen Betrag in Höhe von insgesamt 870,00 EUR geltend (Verfahrensmittelgebühr 250,00 EUR, Terminsmittelgebühr
200,00 EUR, Einigungsmittelgebühr 280,00 EUR, Post- und Telekommunikationsdienstleistungen 20,00 EUR sowie Umsatzsteuer 120,00
EUR). Der Urkundsbeamte setzte die Vergütung auf insgesamt 406,00 EUR fest (Verfahrensgebühr 180,00 EUR, Terminsgebühr 150,00
EUR, Pauschalsatz Post-, Telegraphen- und Fernschreibgebühren 20,00 EUR zuzüglich 56,00 EUR Umsatzsteuer). Gegen die Kostenfestsetzung
des Urkundsbeamten erhob der Erinnerungsführer am 11. Juni 2007 Erinnerung bei dem Sozialgericht Marburg. Er machte geltend,
bei dem Rechtsstreit habe es sich um Ausbildungskosten in Höhe von 12.000,- EUR gehandelt. Insoweit sei der Rechtsstreit weit
überdurchschnittlich gewesen. Der Rechtsstreit sei auch schwierig gewesen, weil es sich um einen Bedarf im Rahmen des §
85 SGB III gehandelt habe. Außerdem sei die Mitwirkung der Antragstellerin zum Abschluss des Vergleichs notwendig gewesen. Er als Prozessbevollmächtigter
habe wesentlichen Einfluss auf die Antragstellerin nehmen müssen, um dem Vergleich zuzustimmen. Er habe der Antragstellerin
geraten, sich auf den Vergleich einzulassen und eine Reihe von Nebenkriegsschauplätzen gegen den Antragsgegner zu eröffnen,
bis dieser aufgrund einer Vielzahl von Klagen und einstweiligen Anordnungen bereit sein würde, der Antragstellerin die 12.000,00
EUR für die Ausbildung zur Verfügung zu stellen. Daraufhin habe die Antragstellerin dem Vergleich zugestimmt. Anschließend
habe die Antragstellerin über 10 weitere Klagen und einstweilige Anordnungen gegen den Antragsgegner beantragt, so dass dieser
schließlich am 31. Mai 2007 bereit gewesen sei, der Antragstellerin 12.000,00 EUR für die Finanzierung ihrer Ausbildung zur
Verfügung zu stellen.
Mit Beschluss vom 9. Dezember 2008 setzte das Sozialgericht Marburg unter Abänderung des Kostenfestsetzungsbeschlusses des
Urkundsbeamten der Geschäftsstelle des Sozialgerichts Marburg vom 24. Mai 2007 weitere 261,00 EUR an Gebühren und Auslagen
fest. Im Übrigen wies das Sozialgericht die Erinnerung zurück. Zur Begründung seiner Entscheidung führte es im Wesentlichen
aus, im vorliegenden Fall seien Gebühren und Auslagen in Höhe von insgesamt 667,00 EUR zugunsten des Erinnerungsführers festzusetzen.
Entstanden seien eine Verfahrens-, eine Termins- und eine Einigungsgebühr. Unter Berücksichtigung sämtlicher nach § 14 RVG maßgeblicher Kriterien liege ein insgesamt etwas unter dem Durchschnitt liegendes Verfahren vor. Dies folge allerdings nicht
schon daraus, dass es sich um ein Verfahren mit einstweiligem Rechtsschutz handele. Der bei dem Rechtsanwalt entstandene Arbeitsaufwand
sei bei der Gebührenbemessung vorrangig zu berücksichtigen. Danach halte das Gericht bei der Verfahrensgebühr einen etwas
unter der Mittelgebühr liegenden Betrag von 200,00 EUR für angemessen. Bei der Terminsgebühr sei die vom Erinnerungsführer
zugrunde gelegte Gebühr von 200,00 EUR nicht zu beanstanden. Was die Einigungsgebühr betreffe, erachte das Gericht hier ebenfalls
einen etwas unter der Mittelgebühr liegenden Betrag von 155,00 EUR für sachgerecht. Die Einigungsgebühr sei angefallen, obwohl
die Antragstellerin in dem Vergleich dem Wortlaut nach den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz zurückgenommen habe. Es könne
an dieser Stelle dahingestellt bleiben, ob sich aus dem Vergleich ein Nachgeben des Antragsgegners ergebe. Allerdings sei
die Zusage des Antragsgegners inhaltlich so eng mit dem eigentlichen Gegenstand des Anordnungsverfahrens verknüpft, dass sie
gerade auch in Bezug auf diesen Gegenstand als ein teilweises Nachgeben des Antragsgegners einzustufen sei. Das Gericht halte
auch die ursächliche Mitwirkung des Erinnerungsführers an der Erledigung des Verfahrens für gegeben. Zu den genannten Beträgen
kämen noch die Auslagenpauschale von 20,00 EUR sowie die Umsatzsteuer.
Gegen den ihm am 15. Dezember 2008 zugestellten Beschluss hat der Erinnerungsgegner am 23. Dezember 2008 Beschwerde eingelegt,
der das Sozialgericht nicht abgeholfen hat. Der Erinnerungsgegner hat ausgeführt, das Entstehen einer Verfahrensgebühr nach
Nr. 3102 VV-RVG sei nicht zwingend. Nach der Entscheidung des erkennenden Senats vom 25. Mai 2009 (L 2 SF 50/09 E) schließe der Umstand, dass ein Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes vorgelegen habe, die Anwendung der Nr. 3103
VV-RVG nicht aus. Die Gebühr bestimme sich vielmehr aus jener Vorschrift, wenn in zeitlichem und sachlichem Zusammenhang mit dem
Eilverfahren eine Tätigkeit des Rechtsanwalts gegenüber der Verwaltung vorgelegen habe. Eine vorgerichtliche Tätigkeit des
Erinnerungsführers habe vorgelegen. Damit bestimme sich die Verfahrensgebühr nach Nr. 3103 VV-RVG. Da nach der genannten Entscheidung des Hessischen Landessozialgerichts im einstweiligen Rechtsschutz regelmäßig von einer
Gebühr von 2/3 der Mittelgebühr auszugehen sei, sei hier die Gebühr mit 115,00 EUR festzusetzen. Gegen die vom Sozialgericht
festgesetzte Einigungsgebühr nach Nr. 1006 VV-RVG bestünden weiterhin Bedenken. Die Gebühr sei wegen der erklärten Antragsrücknahme nicht entstanden. Die Rücknahme habe exakt
den Antragsgegenstand betroffen. Soweit darüber hinaus eine Vereinbarung getroffen worden sei, sei diese nicht Gegenstand
des Eilantrags gewesen. Unter den dargelegten Umständen könne eine Terminsgebühr nach Nr. 3106 VV-RVG in Höhe der Mittelgebühr des Betragsrahmens mit 200,00 EUR akzeptiert werden, so dass jedenfalls keine signifikant höhere
Vergütung als die vom Urkundsbeamten festgesetzte ergebe.
Der Erinnerungsgegner beantragt (sinngemäß),
den Beschluss des Sozialgerichts Marburg vom 9. Dezember 2008 abzuändern und die Erinnerung des beigeordneten Rechtsanwalts
gegen die Vergütungsfestsetzung des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle vom 24. Mai 2007 in vollem Umfang zurückzuweisen.
Der Erinnerungsführer beantragt (sinngemäß),
die Beschwerde zurückzuweisen.
Der Erinnerungsführer hält den angefochtenen Beschluss für zutreffend.
Wegen der Einzelheiten im Übrigen wird auf die Gerichtsakte S 8 AS 114/05 ER sowie die Beschwerdeakten, die vorgelegen haben, Bezug genommen.
II. Der Senat hat über die Beschwerde durch seine Berufrichter entschieden, nachdem die Berichterstatterin das Verfahren wegen
grundsätzlicher Bedeutung dem Senat übertragen hatte (§§ 56 Abs. 2 S.1, 33 Abs. 8 S. 2 RVG).
Die Beschwerde ist zulässig, aber nur teilweise sachlich begründet. Auf die Beschwerde des Erinnerungsgegners ist die Vergütung
des Erinnerungsführers für seine Rechtsanwaltstätigkeit in der Antragssache S 8 AS 114/05 ER ist auf insgesamt 614,04 EUR festzusetzen. Im Übrigen ist die Beschwerde unbegründet und war daher zurückzuweisen.
Nicht streitig ist die vom Erinnerungsführer geltend gemachte Terminsgebühr in Höhe von 200,00 EUR.
Darüber hinaus hat der Erinnerungsführer Anspruch auf die Zuerkennung einer Verfahrensgebühr, die sich vorliegend nach der
Nr. 3102 VV-RVG berechnet, obwohl dem Verfahren ein Widerspruchsverfahren, allerdings kein behördliches Eilverfahren vorausgegangen war.
3103 VV-RVG gilt zwar auch im Eilverfahren. Voraussetzung ist dann aber, dass der Rechtsanwalt bereits im behördlichen Verfahren gemäß
§
86a Abs.
3 SGG tätig war. War der Rechtsanwalt nur im gewöhnlichen behördlichen Verfahren, also nicht im Eilverfahren, und dann im Hauptsacheverfahren
beim Sozialgericht tätig, findet 3103 VV-RVG keine Anwendung. Das ergibt sich daraus, dass Hauptsache- und Eilverfahren verschiedene Angelegenheiten bezüglich verschiedener
Gegenstände sind (Gerold/Schmidt, Rechtsanwaltsvergütungsgesetz, Kommentar, 18. Auflage, VV 3103 Rdnr. 4).
Die Rahmengebühr nach der Nr. 3102 VV-RVG beträgt 40,00 bis 460,00 EUR, die Mittelgebühr damit 190,00 EUR. Jedoch kann bei der Höhe der Betragsrahmengebühr in der
Regel einem Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht dieselbe Wertigkeit zuerkannt werden wie einem entsprechend gleichartigen
Gegenstand eines Hauptsacheverfahrens. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung nach §
86b Abs.
2 Satz 2
Sozialgerichtsgesetz (
SGG) zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zur Abwendung wesentlicher Nachteile
bedingt grundsätzlich die nur summarische Prüfung der Erfolgsaussicht in der Hauptsache sowie die Erforderlichkeit einer vorläufigen
gerichtlichen Entscheidung und deren Glaubhaftmachung. Der grundsätzlich unterschiedlichen Wertigkeit gegenüber dem Hauptsacheverfahren
ist nicht nur in Verfahren mit Gebühren nach dem Gegenstandswert Rechnung zu tragen, sondern sie hat auch bei der Anwendung
der Vorschriften über die Betragsrahmengebühren Bedeutung. Die unterschiedliche Wertigkeit von Hauptsacheverfahren und Eilverfahren
mit Gebühren nach Gegenstandswert ist grundsätzlich auch bei Verfahren mit Betragsrahmengebühren maßgeblich (vgl. Beschluss
des erkennenden Senats aaO., m.w.H.). Regelmäßig ist ein pauschaler Bruchteil von 2/3 der Mittelgebühr gegenüber einem vergleichbaren
Hauptsacheverfahren geeignet, der unterschiedlichen Wertigkeit der Verfahrensarten wirtschaftlich angemessen Rechnung zu tragen.
Dementsprechend errechnet sich vorliegend eine Verfahrensgebühr in Höhe von 170,- EUR (= auf 2/3 reduzierten Mittelgebühr
des Betragsrahmens).
Eine Erledigungsgebühr kann der Erinnerungsführer ebenfalls geltend machen. Bei Einigung oder Erledigung in sozialgerichtlichen
Angelegenheiten, in denen im gerichtlichen Verfahren Betragsrahmengebühren entstehen, betragen die Gebühren 1000 und 1002
nach der Nr. 1005 VV-RVG 40,- EUR bis 520,- EUR. Wenn über den Gegenstand ein gerichtliches Verfahren anhängig ist, betragen die Gebühren gemäß 1006
VV-RVG 30,- EUR bis 350,- EUR. Eine Erledigungsgebühr entsteht nach Nr. 1002 VV-RVG u.a., wenn sich eine Rechtssache ganz oder teilweise durch Erlass eines bisher abgelehnten Verwaltungsaktes erledigt. In
Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes findet die Vorschrift entsprechend Anwendung (Gerold/Schmidt, aaO. VV 1002 Rdnr.17).
Eine Erledigung liegt vor, soweit keine bzw. keine weitere belastende Entscheidung in der Sache mehr ergehen muss. Unerheblich
ist dabei, ob das Verhalten der Behörde zu einer Rücknahme der Klage oder des Rechtsbehelfs führt (Hartmann, Kostengesetze,
37. Auflage, VV 1002 Rdnr. 7 m.w.H.). Ausreichend ist, dass die Behörde entweder den beantragten oder einen ähnlichen Verwaltungsakt
erlässt, der den Antragsteller ebenfalls zufriedenstellt, oder sich zu seinem Erlass z.B. aufschiebend bedingt verpflichtet
(Hartmann, aaO. VV 1002 Rdnr. 8). Zwischen den Beteiligten muss ein Streit oder eine Ungewissheit bezüglich eines Rechtsverhältnisses
bestehen, was durch eine Vereinbarung beseitigt wird. Ein beiderseitiges Nachgeben ist nicht erforderlich. Nur ein vollständiger
Verzicht schließt das Entstehen der Gebühr aus. Nach dem RVG muss sich das Gerichtsverfahren erledigt haben. Nicht erforderlich ist, dass sich auch das Verfahren bei der Verwaltungsbehörde
damit erledigt hat (Gerold/Schmidt, aaO., VV 1002 Rdnr. 20f.) Die Mitwirkung des Rechtsanwaltes an der Erledigung wird für
das Entstehen der Gebühr vorausgesetzt (Riedel/Sußbauer, Rechtsanwaltsvergütungsgesetz, Kommentar, 9. Auflage, S. 467ff).
Dementsprechend ergibt sich für den Erinnerungsführer ein Anspruch auf eine Erledigungsgebühr in Höhe von 126,- EUR (= 2/3
der Mittelgebühr). Soweit für das Verfahren S 8 AS 114/05 ER Prozesskostenhilfe bewilligt worden war, hatte das Verfahren durch den Vergleich vom 8. Juni 2006 seine Erledigung gefunden.
Zwar hatte die Antragstellerin den Antrag auf Erlass der einstweiligen Anordnung zurückgenommen, dies allerdings nach Bereiterklärung
der Antragsgegnerin, unter bestimmten Voraussetzungen über den geltend gemachten Anspruch neu zu entscheiden. Auf Grund dessen
erledigte sich das Verfahren S 8 AS 114/05 ER und eine Entscheidung des Gerichts im einstweiligen Anordnungsverfahren war nicht mehr notwendig. Die Mitwirkung des Erinnerungsführers
war auch mitursächlich für den Abschluss des Vergleichs.
Neben den Gebühren in Höhe von insgesamt 496,- EUR hat der Erinnerungsführer Anspruch auf die Auslagenpauschale von 20,- EUR
sowie 19% Umsatzsteuer in Höhe von 94,24 EUR, so dass sich der Gesamtanspruch mit 614,04 EUR berechnet.
Das Verfahren ist gebührenfrei. Kosten werden nicht erstattet (§ 56 Abs. 2 Satz 2 und 3 RVG).
Die Entscheidung ist endgültig (§ 33 Abs. 4 Satz 3 RVG).