Hilfe zu einer angemessenen Schulausbildung für ein neunjähriges Kind mit Prader-Willi-Syndrom
Vorläufige Übernahme der Kosten für die Bereitstellung eines Integrationshelfers zur Begleitung des Kindes während des Schulunterrichts
Prüfung der Erforderlichkeit der beanspruchten Hilfe für den Schulbesuch
Gründe
Die zulässige Beschwerde des Antragsgegners ist überwiegend unbegründet. Im Wesentlichen zu Recht hat das Sozialgericht den
Antragsgegner anlässlich des Antrages der Antragstellerin nach §
86 b Abs.
2 Satz 2
Sozialgerichtsgesetz (
SGG) vorläufig verpflichtet, die Kosten für die Inanspruchnahme eines Integrationshelfers zur Begleitung der Antragstellerin
während des Schulbesuchs zu übernehmen. Geringfügige Modifikationen der Entscheidung des Sozialgerichts waren allerdings betreffend
Dauer und Umfang der begehrten Hilfe angezeigt, weshalb nicht zuletzt aus Klarstellungsgründen der Tenor der Entscheidung
neu zu fassen war.
1. Nach §
86 b Abs.
2 Satz 2
SGG sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis
zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (Regelungsanordnung). Der Erlass
einer einstweiligen Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruchs, d. h. des materiellen Anspruchs, für den vorläufiger
Rechtsschutz begehrt wird, sowie das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, d. h. die Unzumutbarkeit voraus, bei Abwägung aller
betroffenen Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund bzw. die besondere
Eilbedürftigkeit sind glaubhaft zu machen (§
86 Abs.
2 Satz 4
SGG i.V.m. §
920 Abs.
2 Zivilprozessordnung (
ZPO )). Glaubhaftmachung bedeutet das Dartun der überwiegenden Wahrscheinlichkeit des Bestehens von Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund,
wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können. Es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten
das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist, weil nach Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese
Möglichkeit spricht (BSG, Beschluss vom 07.04.2011, Az.: B 9 VG 15/10 B - [...] Rn. 6). Wenn die Gewährung existenzsichernder Leistungen im Streit steht, hat dies Auswirkungen auf den Prüfungsmaßstab
und verlangt regelmäßig eine abschließende gerichtliche Prüfung, wobei insbesondere bei nicht ausreichender Mitwirkung des
Antragstellers eine Beweislastverteilung nicht ausgeschlossen ist. Scheidet eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage
aus, ist aufgrund einer am effektiven Rechtsschutz orientierten Folgenabwägung zu entscheiden (ausführlich und m.w.N.: LSG
NRW, Beschluss vom 07.08.2013, Az.: L 9 SO 307/13 B ER; L 9 SO 308/13 B - [...] Rn. 4 f.).
2. Ausgehend von diesen Maßgaben hat die Antragstellerin sowohl einen Anordnungsanspruch als auch einen Anordnungsgrund für
den Zeitraum des Schuljahres 2013/2014 glaubhaft gemacht. Es ist überwiegend wahrscheinlich, dass die Antragstellerin Anspruch
auf Bereitstellung eines Integrationshelfers für ihre Begleitung während des Unterrichts an der I-schule hat. Ein Abwarten
der Entscheidung in der Hauptsache (Klageerhebung am 12.09.2013) ist der Antragstellerin nicht zuzumuten. Der Antragstellerin
ist weder zuzumuten, die laufenden Kosten (700,- Euro pro Monat) für den aktuell seit Beginn des Schuljahres eingesetzten
Integrationshelfer bis zur Beendigung eines Hauptsacheverfahrens vorzuschießen, noch ist ihr zuzumuten, einstweilen auf den
Einsatz des Integrationshelfers zu verzichten, da dann der regelmäßige und erfolgreiche Schulbesuch der 9-jährigen Antragstellerin
gefährdet und Lerndefizite nur noch schwer aufzuholen sein werden.
Es ist überwiegend wahrscheinlich, dass die Antragstellerin Anspruch auf Bereitstellung eines Integrationshelfers als Hilfe
zu einer angemessenen Schulausbildung auf Grundlage von § 19 Abs. 3 i.V.m. §§ 53 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1, 54 Abs. 1 Satz
1 Nr. 1 und § 92 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) i.V.m. § 12 Nr. 1 Eingliederungshilfe-Verordnung (EinglHV) hat. Für die begehrten Leistungen ist der Antragsgegner als örtlicher Sozialhilfeträger nach § 97 Abs. 1 SGB XII i.V.m. § 1 Abs. 1 des Landesausführungsgesetzes zum Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (AG-SGB XII NRW) i.V.m. § 2 Ausführungsverordnung zum Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (AV-SGB XII NRW) sachlich zuständig.
a) Nach dem derzeitigen Sachstand ist davon auszugehen, dass die Antragstellerin zumindest geistig i.S.v. § 2 EinglHV wesentlich behindert ist und damit die Voraussetzungen des § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII erfüllt. Hiernach ist geistig wesentlich behindert, wer infolge einer Schwäche seiner geistigen Kräfte in erheblichem Umfang
in seiner Fähigkeit zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft eingeschränkt ist. Die am 08.07.2004 geborene Antragstellerin
(Grad der Behinderung 70, Merkzeichen H) leidet an einem Chromosomendefekt in Form des sog. "Prader-Willi-Syndroms". Diese
neurogenetische Erkrankung hat neben körperlichen Einschränkungen wie muskulärer Hypotonie vor allem Auswirkungen auf die
geistige Befindlichkeit. Die Informationsverarbeitung der Klägerin ist verzögert; sie kann Wissen nicht schnell situativ anpassen
und komplexere Aufgabenstellungen nur nach Anleitung und in kleinen Schritten umsetzen. Das logische Denken bereitet der Antragstellerin
Schwierigkeiten, es mangelt ihr an einer zeitlichen Orientierung, sie ist schnell abgelenkt und zeigt eine erheblich verminderte
Frustrationstoleranz, auf die sie mit Weglaufen, Wutausbrüchen und körperlichen Übergriffen reagiert. Komplexere soziale und
fachliche Situationen wie zum Beispiel schulische Gruppenarbeit überfordert sie, wenn ihr nicht Anleitung in Form individueller
Strukturierung und Begleitung des Prozesses zukommt. Sie ist oftmals nicht in der Lage, Gefühle sozialadäquat zu äußern, schätzt
alltägliche Situationen der menschlichen Kommunikation nicht richtig ein, was - bezogen auf den Schulstoff - den Lernprozess
erheblich behindert. Ferner leidet sie (was Teil des Krankheitsbildes des Prader-Willi-Syndroms ist) an völlig unkontrolliertem
Essverhalten, da ihr die Sättigungsregulation fehlt. Ohne strenge Überwachung ihres Essverhaltens würde sie unkontrolliert
übermässig viel Nahrung - auch die der Mitschüler - zu sich nehmen. An einer nicht alterstypischen wesentlichen Beeinträchtigung
der geistigen Gesundheit der Antragstellerin bestehen daher kaum Zweifel.
b) Die begehrte Bereitstellung eines Integrationshelfers ist auch geeignet und erforderlich, um im Sinne von § 12 Satz 1 Nr. 1 EinglHV der Antragstellerin den Schulbesuch im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht zu ermöglichen oder ihr diesen zumindest zu erleichtern.
Wie sich insbesondere aus dem Erfahrungsbericht vom 12.03.2013 betreffend des Einsatzes des Integrationshelfers im Schuljahr
2012/2013 ergibt - die diesbezüglichen Kosten hatte der Antragsgegner übernommen - hat die damalige Integrationshelferin neuartige
Aufgabenstellungen kleinschrittig und intensiv im Rahmen einer 1:1-Betreuung mit der Antragstellerin eingeübt und so erfolgreich
dazu beigetragen, dass die Antragstellerin das Lesen von Wörtern und einfachen Sätzen erlernt hat. Offenbar durch gezieltes,
sehr genaues Bobachten der Situation konnten Überforderungssituationen frühzeitig erkannt und blockierende Prozesse, die das
weitere Lernen verhindert hätten, zunehmend abgewendet werden. An der Geeignetheit der Integrationshilfe bestehen daher keine
Zweifel. Die Maßnahme ist auch erforderlich. Aus dem vorgenannten Erfahrungsbericht ergibt sich zwar, dass bei der Antragstellerin
im zweiten Schuljahr deutliche Entwicklungsfortschritte beobachtet werden konnten. Daraus lässt sich aber nicht folgern, dass
nunmehr auf die Integrationshilfe verzichtet werden kann. Unüberschaubare soziale Situationen im Unterricht und in Pausenzeiten
oder neue schulische Aufgabenstellungen kann die Antragstellerin weiterhin aufgrund ihres Krankheitsbildes nicht alleine sozial
adäquat bewältigen, wie sich insbesondere aus der ärztlichen Stellungnahme der behandelnden Kinderärztin des Behandlungszentrums
für Prader-Willi-Syndrom vom 04.09.2013 ergibt. Es spricht viel dafür, dass die Antragstellerin auch weiterhin darauf angewiesen
ist, dass ihr während des Schulbesuchs - wie bisher - ein Integrationshelfer zur Seite steht, der in der Lage ist, individuelle
Überforderungssituationen schnell zu erkennen und aufzulösen, bevor die Antragstellerin innerlich blockiert und dann das weitere
Lernen verweigert. Aufgrund der derzeitigen Erkenntnislage spricht daher mehr dafür als dagegen, dass der erfolgreiche Schulbesuch
der Antragstellerin derzeit jedenfalls - erheblich - erleichtet wird, wenn der Schulbesuch der Antragstellerin durch einen
Integrationshelfer individuell begleitet wird.
Wie das Sozialgericht zu Recht entschieden hat, steht der Erforderlichkeit der Leistung nicht entgegen, dass die von der Antragstellerin
besuchte Schule einen inklusiven Unterricht von behinderten und nicht-behinderten Kindern ("Gemeinsamer Unterricht") anbietet.
Die Antragstellerin hat nach Feststellung durch das Schulamt vom 20.06.2011 sonderpädagogischen Förderbedarf auf dem Gebiet
der geistigen Entwicklung; für sie sind vier Stunden pro Woche Förderung durch eine Sonderpädagogin vorgesehen. Die Antragstellerin
besucht auch eine Klasse, in der "gemeinsam" im oben genannten Sinne unterrichtet wird, wobei sich in der Klasse insgesamt
5 Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf befinden und die im Schuljahr 2013/2014 tätige Sonderpädagogin die Klasse mit
11 Wochenstunden betreut. Allein aufgrund der schulrechtlichen Vorgaben betreffend die Ausgestaltung und personelle Besetzung
des gemeinsamen Unterrichts kann aber nicht gefolgert werden, dass damit der individuelle Bedarf der Antragstellerin gedeckt
ist (vgl. hierzu ausführlich die Entscheidung des Senats vom 20.12.2013, Az.: L 9 SO 429/13 B ER). Allein auf diesen individuellen
Bedarf kommt es im Rahmen des geltend gemachten Anspruchs an.
c) Der Anspruch der Antragstellerin ist auch nicht deswegen ausgeschlossen, weil der Integrationshelfer schwerpunktmässig
während des Unterrichts zum Einsatz kommt. Von den Leistungen der Eingliederungshilfe nach § 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XII i.V.m. § 12 Nr. 1 EinglHV sind zwar solche Maßnahmen nicht umfasst, die den Kernbereich der pädagogischen Arbeit der Schule ausmachen. Dieser Kernbereich
wird vorliegend aber durch die Arbeit des Integrationshelfers nicht tangiert. Denn die Lerninhalte selbst bleiben in der Hand
des Lehrpersonals und der Integrationshelfer leistet lediglich unterstützende Tätigkeiten, die es der Antragstellerin ermöglichen
und erleichtern, die Lerninhalte aufzunehmen. Wie der Senat bereits entschieden hat, gehören nicht alle Maßnahmen während
des Unterrichts "automatisch" zum Kernbereich der pädagogischen Arbeit; sie sind daher auch nicht automatisch von den Leistungen
der Eingliederungshilfe ausgeschlossen. (vgl. ausführlich und mit weiteren Nachweisen zur obergerichtlichen Rechtsprechung
die vorgenannte Entscheidung des Senats vom 20.12.2013).
d) In zeitlicher Hinsicht ist nach den Umständen des Einzelfalles und im Rahmen der gebotenen prognostischen Beurteilung ein
Bedarf nur im tenorierten Umfang festzustellen. Der Hilfebedarf der Antragstellerin ist stundenmäßig und bezogen auf den regulären
Stundenplan der Antragstellerin zu erfassen. Zudem sind jedenfalls für das einstweilige Rechtsschutzverfahren die der Antragstellerin
zugewiesenen 4 Stunden der sonderpädagogischen Förderung auf den Hilfebedarf anzurechnen, da für die Stunden mit sonderpädagogischer
Förderung derzeit nicht davon auszugehen ist, dass die Antragstellerin neben der sonderpädagogischen Betreuung zusätzlich
noch auf einen Integrationshelfer angewiesen ist. Ausgehend von der Stundenaufstellung der Beigeladenen vom 11.12.2013 (wöchentliche
Unterrichtszeit zuzüglich kurzer Vor- und Nachbereitung: 23,5 Stunden) ergibt sich ein Bedarf für den Einsatz eines Integrationshelfers
im Umfang von 19,5 Stunden pro Woche. An Kosten fallen hierfür angesichts der zwischen Antragsgegner und Beigeladenem vereinbarten
Pauschale für den Einsatz von Integrationshelfern 700,- Euro pro Monat an. Den Besonderheiten des einstweiligen Rechtschutzes
Rechnung tragend, war die Verpflichtung des Antragsgegners auf das aktuelle Schuljahr zu begrenzen.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung der §§
183,
193 SGG und berücksichtigt, dass der Antragsgegner mit seiner Beschwerde ganz überwiegend nicht durchgedrungen ist.
4. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§
177 SGG).