Verfahrensrüge im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren
Behaupteter Verstoß gegen den Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung
Bemessung eines GdB als tatrichterliche Aufgabe
Gründe:
I
In der Hauptsache wendet sich der Kläger gegen die Herabsetzung des bei ihm festgestellten Grades der Behinderung (GdB) von
100 auf 60 mit Entziehung der Merkzeichen "B" (Notwendigkeit ständiger Begleitung) und "aG" (außergewöhnliche Gehbehinderung)
wegen einer wesentlichen Besserung seiner Beinfunktionsstörungen. Dieses Begehren hat das LSG mit Urteil vom 15.4.2019 unter
Bezugnahme auf die Entscheidungsgründe des SG mit Gerichtsbescheid vom 15.5.2018 verneint auf der Grundlage der aktenkundigen medizinischen Befunde behandelnder Ärzte
und Kliniken sei im Bereich der unteren Extremitäten, insbesondere aufgrund der Veränderung der Gehfähigkeit nach Entfernung
des Unterschenkel-Ringfixateur externe rechts, eine Besserung im Gesundheitszustand des Klägers nachgewiesen. Für den Fall
einer zukünftig notwendig werdenden Operation und einer hierdurch eintretenden länger anhaltenden Verschlechterung des Gehvermögens
sei der Kläger auf dem Weg des Neufeststellungsantrags bei dem zuständigen Versorgungsamt zu verweisen.
Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil hat der Kläger Beschwerde beim BSG eingelegt. Er macht als Zulassungsgrund die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache und einen Verfahrensmangel geltend.
II
Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist unzulässig. Seine Begründung vom 21.6.2019 genügt nicht den gesetzlichen Anforderungen,
weil der geltend gemachte Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung (§
160 Abs
2 Nr
1 SGG) nicht ordnungsgemäß dargelegt und der behauptete Verfahrensmangel (§
160 Abs
2 Nr
3 SGG) nicht ordnungsgemäß bezeichnet worden ist (§
160a Abs
2 S 3
SGG).
1. Eine Rechtssache hat nur dann grundsätzliche Bedeutung iS von §
160 Abs
2 Nr
1 SGG, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die über den Einzelfall hinaus aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des
Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Der Beschwerdeführer muss daher anhand des anwendbaren
Rechts und unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung angeben, welche Fragen sich stellen, dass diese noch
nicht geklärt sind, weshalb eine Klärung dieser Rechtsfragen aus Gründen der Rechtseinheit oder Fortbildung des Rechts erforderlich
ist und dass das angestrebte Revisionsverfahren eine Klärung erwarten lässt. Ein Beschwerdeführer muss daher, um seiner Darlegungspflicht
zu genügen, eine Rechtsfrage, ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit (Entscheidungserheblichkeit)
sowie die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihm angestrebten Entscheidung (sog Breitenwirkung) darlegen
(zum Ganzen vgl Senatsbeschluss vom 10.9.2018 - B 9 SB 40/18 B - Juris RdNr 4; BSG Beschluss vom 2.5.2017 - B 5 R 401/16 B - Juris RdNr 6 mwN). Diesen Anforderungen wird die vorliegende Beschwerdebegründung zur Frage bezüglich der Wertung zweier
fast identischer Einzel-GdB, die unterschiedliche Lebensbereiche betreffen und sich wohl noch gegenseitig verstärken, sowie
der damit verbundenen Bildung eines Gesamt-GdB nicht gerecht.
Der Kläger hat bereits keine Rechtsfrage iS des §
160 Abs
2 Nr
1 SGG bezeichnet. Seinem Beschwerdevortrag ist lediglich zu entnehmen, das nach seiner Auffassung nicht von einer wesentlichen
Besserung seiner Beinfunktionsstörungen auszugehen sei, weil er aktuell nicht mehr auf einen Rollstuhl angewiesen sei. Der
Umstand, dass in Zukunft weitere Operationen erforderlich werden und er in absehbarer Zeit wieder auf den Rollstuhl angewiesen
sei, werde vom LSG nicht ausreichend berücksichtigt. Dieses Beschwerdevorbringen des Klägers betrifft jedoch lediglich Tatsachenfragen
bezogen auf die Feststellung der tatsächlichen Umstände seines Einzelfalls, Fragestellungen medizinischer Art und deren Bewertung.
Es enthält - anders als notwendig - keine klar formulierte Rechtsfrage, die auf die Auslegung eines gesetzlichen Tatbestandsmerkmals
abzielt (vgl Senatsbeschluss vom 29.2.2016 - B 9 SB 91/15 B - Juris RdNr 6). Die Fragestellung beinhaltet im Kern Fragen der Beweiswürdigung und der Sachaufklärung. Die Zulassung der
Revision kann gemäß §
160 Abs
2 Nr
3 Teils 2
SGG aber nicht mit der Behauptung verlangt werden, das LSG habe gegen den Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung
verstoßen. Der Kläger berücksichtigt insoweit insbesondere nicht, dass die Bemessung des GdB nach der ständigen Rechtsprechung
des Senats grundsätzlich tatrichterliche Aufgabe ist (vgl Beschluss vom 9.12.2010 - B 9 SB 35/10 B - Juris RdNr 5 mwN). Mit den Grundsätzen der GdB-Bemessung nach § 2 Anlage VersMedV wie auch mit der Vorschrift des § 48 Abs 1 S 1 SGB X und der hierzu ergangenen Rechtsprechung setzt sich die Beschwerde nicht auseinander, sodass auch nicht erkennbar wird, ob
und inwieweit hierzu noch Klärungsbedarf bestehen könnte.
2. Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde wie im Fall des Klägers darauf gestützt, es liege ein Verfahrensmangel vor, auf dem
die angefochtene Entscheidung beruhen könne (§
160 Abs
2 Nr
3 Halbs 1
SGG), so müssen bei der Bezeichnung des Verfahrensmangels (§
160a Abs
2 S 3
SGG) zunächst die den Verfahrensmangel (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dargetan werden. Gemäß §
160 Abs
2 Nr
3 Halbs 2
SGG kann der geltend gemachte Verfahrensmangel dabei nicht auf eine Verletzung der §§
109 und
128 Abs
1 S 1
SGG und auf eine Verletzung des §
103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt
ist. Diese Voraussetzungen erfüllt die Beschwerdebegründung ebenfalls nicht.
Die Beschwerde rügt lediglich, das LSG habe sich nicht genügend mit der Überprüfung der Bildung des Gesamt-GdB befasst und
keine "Ermessensüberprüfung" hinsichtlich der von dem Beklagten vorgenommenen Wertung durchgeführt. Indes bezeichnet sie keinen
konkreten, bis zuletzt aufrechterhaltenen Beweisantrag. Ein solcher ergibt sich auch nicht aus dem angefochtenen Urteil. Die
gegen die Beweiswürdigung des LSG gerichtete, also auf eine Verletzung des §
128 Abs
1 S 1
SGG gestützte Rüge, kann der ausdrücklichen Regelung des §
160 Abs
2 Nr
3 Halbs 2
SGG - wie oben bereits ausgeführt - nicht zur Revisionszulassung führen. Deshalb ist es für die Frage der Zulassung zur Revision
unerheblich, dass der Kläger mit der Auswertung und Würdigung der vorliegenden Arzt- und Klinikberichte durch das LSG bei
der Bildung des Gesamt-GdB nicht einverstanden ist (vgl Senatsbeschluss vom 16.11.2018 -B9V 26/18 B - Juris RdNr 10).
3. Schließlich war der Senat nicht verpflichtet, die Prozessbevollmächtigte des Klägers entsprechend ihrer Bitte in der Beschwerdebegründung
um einen rechtlichen Hinweis, sofern sie einen Gesichtspunkt "erkennbar übersehen oder für unerheblich gehalten habe", vorab
auf die Unzulänglichkeit des Beschwerdevortrags aufmerksam zu machen. Das Gericht unterstellt, dass ein Rechtsanwalt oder
eine Rechtsanwältin in der Lage ist, Formerfordernisse einzuhalten; gerade dies ist ein Grund für den Vertretungszwang vor
dem BSG gemäß §
73 Abs
4 SGG. §
106 SGG gilt insoweit nicht. Ein Rechtsanwalt muss in der Lage sein, ohne Hilfe durch das Gericht eine Nichtzulassungsbeschwerde
ordnungsgemäß zu begründen (stRspr; zB BSG Beschluss vom 21.7.2010 - B 7 AL 60/10 B - Juris RdNr 7).
Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§
160a Abs
4 S 2 Halbs 2
SGG).
4. Die Verwerfung der danach nicht formgerecht begründeten und somit unzulässigen Beschwerde erfolgt gemäß §
160a Abs
4 S 1 Halbs 2 iVm §
169 S 2 und 3
SGG durch Beschluss ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter.
5. Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des §
193 SGG.