Rentenversicherung - Warenaufmacher/Versandfertigmacher; schwere spezifische Leistungseinschränkung; qualitative Leistungseinschränkungen;
Lese-Rechtschreibschwäche
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt von der Beklagten die Gewährung einer Rente wegen voller, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung.
Die 1955 geborene, also jetzt 62 Jahre alte Klägerin besuchte in der DDR nach der 1. Klasse eine "Hilfsschule" (Sonderschule)
und erlernte in der Zeit von September 1970 bis August 1972 den Beruf der Facharbeiterin Technische Textilien [Bastfaseraufbereiterin].
In dem Beruf war sie bis Januar 1973 tätig, anschließend arbeitete sie von November 1973 bis Januar 1991 als Gartenbaufacharbeiterin.
Nach einer Zeit der Arbeitslosigkeit von 1992 bis Februar 2009 war sie als Reinigungskraft im Klubhaus des Golfplatzes M angestellt,
das von ihrem Schwiegersohn und ihrer Tochter betrieben wird. Seit dem 1. April 2011 ist sie arbeitslos.
Am 25. Februar 2013 stellte sie bei der Beklagten einen Antrag auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung. Sie gab an,
seit Juli 2011 wegen sehr starker Schulterschmerzen nicht mehr leistungsfähig zu sein. Sie könne nicht mal mehr einen Staubsauger
halten. Sie habe Probleme bzw. Schmerzen, wenn sie Wäsche aufhänge, ihre Haare wasche, sie könne keine Fenster putzen und
auf ihrem Grundstück keine Arbeiten mehr durchführen. Auch beim Radfahren bei weiten Touren müsse sie des Öfteren anhalten
und beide Arme ausruhen lassen.
In den Akten der Beklagten findet sich u.a. der Befundbericht des die Klägerin behandelnden Facharztes für Allgemeinmedizin
B vom 7. Mai 2012. Er gab u.a. die Diagnose einer leichten depressiven Episode an. Der Untersuchungsbefund bezüglich des Nervensystems
zeige eine deutlich depressive bzw. deprimierte Symptomatik mit Leistungsinsuffizienz, Abgeschlagenheit, Lustlosigkeit und
Verlust von Freude. Weiter findet sich der Rehabilitations-Entlassungsbericht der Rehabilitationsklinik L, Abteilung Orthopädie,
in der die Klägerin auf Grund eines Antrags vom 12. Juni 2012 in der Zeit vom 4. September 2012 bis 25. September 2012 eine
medizinische Rehabilitationsmaßnahme absolviert hatte. Als bestehende Beschwerden wurde u.a. eine psychische Belastung benannt.
Im Aufnahmebefund wird bezüglich der Psyche aufgeführt: freundlich, zugewandt, nur teilweise depressive Anteile spürbar. Weiter
liegt in den Akten der Beklagten ein sozialmedizinisches Gutachten, erstellt von der Ärztin Dr. W (eine Facharztbezeichnung
ist nicht benannt) für den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Berlin-Brandenburg (MDK) am 16. Januar 2013 nach einer
Untersuchung am 10. Januar 2013, vor. Dort wurde die Diagnose eines gesicherten Impingementsyndroms der linken Schulter mit
starker Funktionseinschränkung für alle manuellen Tätigkeiten und Bewegungen des Armes, Unvermögen von Überkopfarbeiten und
schwerem Heben und Tragen von Lasten gestellt.
Im Rahmen des Rentenantragsverfahrens ließ die Beklagte die Klägerin von dem Facharzt für Orthopädie/Chirotherapie/Rheumatologie
und Sportmedizin Dipl. Med. P begutachten. In seinem Gutachten vom 23. Mai 2013 kam dieser zu dem Ergebnis, dass die Klägerin
ihre letzte Tätigkeit als Reinigungskraft nur noch unter drei Stunden täglich, leichte Arbeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes
jedoch sechs Stunden und mehr täglich verrichten könne. Er diagnostizierte u.a. ein Impingement-Syndrom beider Schultergelenke
mit fortgeschrittener schmerzhafter Funktionsstörung.
Mit Bescheid vom 31. Mai 2013 lehnte die Beklagte den Rentenantrag mit der Begründung ab, die Klägerin sei noch in der Lage,
mindestens sechs Stunden täglich unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes erwerbstätig zu sein.
Zur Begründung ihres am 12. Juni 2013 bei der Beklagten eingegangenen Widerspruchs wiederholte die Klägerin ihre Schwierigkeiten,
ihren Haushalt in Ordnung zu halten und Arbeiten an ihrem Grundstück durchzuführen aufgrund ihrer Schmerzen.
Ohne weitere medizinische Ermittlungen durchzuführen, wies die Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 10. September
2013 zurück.
Mit ihrer am 10. Oktober 2013 bei dem Sozialgericht Cottbus eingegangenen Klage hat die Klägerin ihr Begehren weiterverfolgt.
Das Sozialgericht hat Befundberichte der die Klägerin behandelnden Ärzte, und zwar des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie
Dr. W vom 20. März 2014, des Facharztes für Orthopädie Dr. S vom 31. März 2014 und des Facharztes für Allgemeinmedizin B vom
30. April 2014, eingeholt. Dr. S hielt die Klägerin aufgrund der deutlich eingeschränkten Belastungsfähigkeit beider Schultern
für nicht in der Lage, körperlich leichte Tätigkeiten in wechselnden Körperhaltungen oder überwiegend im Sitzen, z. B. als
Pförtnerin, in einem Umfang von mindestens sechs Stunden täglich durchzuführen. Herr B hat angegeben, dass die Klägerin in
der Beweglichkeit beider Schultern, aber auch im Bereich der Wirbelsäule stark beeinträchtigt sei. Weitaus schwerwiegender
sei seiner Ansicht nach jedoch die Lese-Rechtschreib-Schwäche, welche die Klägerin auch psychisch stark beeinträchtige. Deshalb
habe sie bislang als Reinigungskraft ohne Anforderungen an eine Tätigkeit mit Lesen und Schreiben gearbeitet.
Das Sozialgericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens von dem Facharzt für Orthopädie
und Unfallchirurgie mit Zusatzbezeichnung Sozialmedizin Dr. W vom 5. Januar 2015. Dieser hat folgende Diagnosen gestellt:
Bandscheibenverschleiß (Osteochondrose) mehrerer Lokalisationen der Wirbelsäule: obere Hals- und obere Lendenwirbelsäule;
Wirbelverschleiß/Spondylose: Zervikalbereich; Zwischenwirbelgelenksverschleiß im Lendenwirbelsäulenbereich; Osteoporose/Knochenschwund,
postmenopausal ohne Fraktur, Wirbelsäule; Rotatorenmanschettenläsion Schulter bds.; Einklemmungs-/Impingement-Syndrom der
Schulter bds.; Tendinitis (Sehnenentzündung) calcarea (mit Verkalkungen im Schulterbereich rechts); Schultereckgelenksverschleiß
(ACG-Arthrose) rechts; Karpaltunnel-Syndrom ohne Sensibilitätsstörungen aber leichter Atrophie der Daumenballen bds.; Dupuytren-Kontraktur
bds.; Knicksenkspreizfuß bds.; Hallux valgus bds.; auf anderen Fachgebieten: anamnestische Angabe einer Lese- und Rechtschreibstörung;
Verdacht auf Bluthochdruck; Verdacht auf eine nicht näher zu bezeichnende chronische Bronchitis. Die Klägerin dürfe aufgrund
der Verschleißerscheinungen im Bereich der Hals- und Lendenwirbelsäule und der Schäden im Bereich beider Schultergelenke nur
noch körperlich leichte und gelegentlich auch mittelschwere Tätigkeiten verrichten. Sie sei noch in der Lage, Arbeiten zu
verrichten, die überwiegend, aber nicht ausschließlich im Gehen, Stehen oder Sitzen stattfinden. Nicht mehr zugemutet werden,
auch nicht gelegentlich, könnten Arbeiten über Kopf und Arbeiten mit vorgestreckter Armhaltung sowie Arbeiten mit Überlastung
der Handgelenke (z. B. Pressluftarbeiten) und Arbeiten auf Leitern und Gerüsten. Es sei ihr zuzumuten, sich wenigstens gelegentlich
zu bücken oder hinzuknien. Es sei von einer erhöhten Wetterfühligkeit auszugehen. Somit seien Arbeiten im Freien, auch unter
Witterungsschutz, nicht mehr zumutbar; es seien nur noch Arbeiten in geschlossenen Räumen möglich unter Meidung von Kälte,
Nässe und Zugluft. An die Reaktionsfähigkeit könnten nur noch unterdurchschnittliche Anforderungen gestellt werden, zumal
auch eine Beeinträchtigung der Armbeweglichkeit bestünde. Demgegenüber hätten sich keine Befunde gefunden, welche die Klägerin
an dem Bestehen von wenigstens gelegentlichen normalen Anforderungen an Übersicht und Aufmerksamkeit, Verantwortungsbewusstsein
und Zuverlässigkeit hindern würden. Aufgrund des Verdachts auf erhöhten Blutdruck sollten Arbeiten in Nachtschicht und unter
besonderem Zeitdruck, so z. B. im Akkord und am Fließband, der Klägerin nicht mehr zugemutet werden. Bei Arbeiten unter Zeitdruck
sei festzustellen, dass bei diesen Tätigkeiten der Werktätige auf eine entsprechende rückengerechte Haltung nicht achten könne.
Gegen Arbeiten mit häufigem Publikumsverkehr ergebe sich der Einwand, dass das Vorliegen der Lese- und Schreibstörung darauf
schließen lasse, dass eine niedrige Frustrationstoleranz und/oder leichte mentale Überforderungssyndrome latent bestünden.
Dies lasse vermuten, dass solche Überforderungssituationen auch bei häufigem Publikumsverkehr eintreten würden, auch dann,
wenn keine Schreib- oder Lese-Arbeiten abverlangt würden.
Unter Berücksichtigung der genannten qualitativen Einschränkungen könne die Klägerin Vollzeittätigkeiten unter den in Betrieben
üblichen Arbeitsbedingungen ohne zusätzliche Pausen verrichten.
Die durch die festgestellten Gesundheitsstörungen bedingte Minderung der Leistungsfähigkeit bestünde seit dem 4. September
2012. Dies ergebe sich daraus, dass die Klägerin zu diesem Zeitpunkt nachvollziehbar wegen der Schultererkrankung eine stationäre
Rehabilitation habe aufsuchen müssen.
Mit Urteil vom 26. August 2015 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Die Klägerin erfülle die medizinischen Voraussetzungen
einer (auch nur teilweisen) Erwerbsminderung nicht. Das im Klageverfahren vom Amts wegen eingeholte Gutachten attestiere der
Klägerin ein vollschichtiges Leistungsvermögen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, z. B. für die Tätigkeit einer Versandfertigmacherin,
und bestätigte damit die von der Beklagten im Verwaltungsverfahren getroffenen Feststellungen. Dies folge aus dem insoweit
schlüssigen Sachverständigengutachten des Dr. W, dessen Ergebnis sich die Kammer zu Eigen mache.
Gegen das am 19. September 2015 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 13. Oktober 2015 Berufung bei dem Landessozialgericht
Berlin-Brandenburg eingelegt. Zur Begründung hat sie geltend gemacht, sie könne gegenwärtig keine Tätigkeiten von wirtschaftlichem
Wert verrichten. Der Vergleich der vorliegenden medizinischen Befunde mit den Wertungen des Rententrägers und des Sozialgerichts
weise Diskrepanzen auf. Die meisten gesundheitlichen Einschränkungen lägen im orthopädischen und neurologisch-psychiatrischen
Bereich. Sie leide unter ständigen chronischen Schmerzen, die Rehabilitationsmaßnahme habe keine wesentliche Besserung herbeiführen
können. Hier habe eine Schulterteilsteife im Vordergrund gestanden. Im Gegensatz zu dem orthopädischen Gutachten von Dr. W
beinhalte der Befundbericht des behandelnden Orthopäden erhebliche Einschränkungen am Stütz- und Bewegungsapparat, verbunden
mit einem hohen Schmerzpegel. Sie sei auf starke Schmerzmittel angewiesen. Weiter seien die Einschränkungen auf neurologisch-psychiatrischem
Gebiet bisher zu gering berücksichtigt worden. Hierbei sei auch die niedrige Intelligenz sowie die erhebliche Lese- und Schreibschwäche
zu berücksichtigen. Lesen und Schreiben sei der Klägerin unmöglich, sie sei vergleichbar mit einer Analphabetin.
Laut Dr. W bestünden auch stärkere Einschränkungen der Halswirbelsäule und der Lendenwirbelsäule sowie Einschränkungen beider
Schultergelenke. Ferner würden Einschränkungen der Handgelenke beschrieben. Es stelle sich dabei die Frage, wie die Klägerin
unter Wettbewerbsbedingungen noch leichte Tätigkeiten im Umfang von sechs Stunden ausführen solle. Die Tätigkeit einer Pförtnerin
werde wegen der Lese- und Schreibschwäche bereits als nicht ausführbar dargestellt. Wegen der Einschränkungen am Skelettsystem
erscheine auch die Tätigkeit einer Versandfertigmacherin nicht ausführbar zu sein. Der behandelnde Hausarzt gebe auch an,
dass aufgrund der körperlichen, aber auch der intellektuellen Fähigkeiten eine Tätigkeit unter Wettbewerbsbedingungen nicht
möglich sein dürfte. Es wurde angeregt, ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten einzuholen.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 26. August 2015 und den Bescheid der Beklagten vom 31. Mai 2013 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 10. September 2013 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr Rente wegen voller, hilfsweise
wegen teilweiser Erwerbsminderung ab dem 1. März 2013 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hat sich auf die Gründe des erstinstanzlichen Urteils bezogen. Der von der Gegenseite beschriebene "vergleichbare Analphabetismus"
sei nach dem beruflichen Werdegang der Klägerin schwer nachzuvollziehen. Es seien eine Acht-Klassen-Schulausbildung und eine
Ausbildung zur Facharbeiterin für technische Textilien erfolgreich abgeschlossen sowie anschließend eine Ausbildung zur Gärtnerin
durchlaufen und überwiegend (bis 1991) in diesem Beruf gearbeitet worden.
Der Senat hat Befundberichte der die Klägerin behandelnden Ärzte, und zwar des Orthopäden Dr. S vom 19. April 2016 und des
Facharztes für Allgemeinmedizin B vom 2. Mai 2016 eingeholt. Bei Dr. S war die Klägerin zuletzt im Juli 2014 in Behandlung.
Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens von dem Arzt für Neurologie mit
Zusatzbezeichnung spezielle Schmerztherapie und Chefarzt der Abteilung für Neurologie der I Klinik Dr. B vom 23. Juli 2017.
Dieser hat folgende Diagnosen gestellt: Chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren (Chronifizierungsgrad
Il nach Gerbershagen); Bewegungseinschränkung in beiden Schultergelenken durch fortgeschrittene degenerative Veränderungen
(Impingementsyndrom beidseits, Rotatorenmanschettenläsion an beiden Schultern, Tendinitis calcarea rechts, AC-Gelenksarthrose
rechts; Zervikalsyndrom mit Einschränkung der Kopfbeweglichkeit durch Osteochondrose im Bereich der Halswirbelsäule; Kreuzschmerz
und ausstrahlende Schmerzen ins linke Bein bei über das Altersmaß hinausgehenden degenerativen Veränderungen im Bereich der
unteren Lendenwirbelsäule und der Iliosakralgelenke ohne Zeichen der Nervenwurzelkompression; Karpaltunnelsyndrom beidseits,
rechts operiert mit Residualschaden, links leicht ausgeprägt; Dupuytren-Kontraktur beidseits; Lese- Rechtschreibstörung; Rechenstörung;
leichte kognitive Störung; mittelgradige depressive Störung. Auf nicht neurologisch-schmerzmedizinischem Gebiet: Chronische
obstruktive Lungenkrankheit; Enddarmentzündung; Nikotinmissbrauch.
Er ist zu dem Ergebnis gekommen, dass die Klägerin an einer tiefgreifenden psychischen Störung leide, die sich in ihrem Fall
aus ihrer Lese-, Schreib-, Rechen- und Lernschwäche durch frühe Misshandlung und mangelnde Förderung ergeben habe und sich
in einer sozialen Unsicherheit und Depression äußere, die es ihr unmöglich mache, trotz durchaus vorhandener körperlicher
Restleistungsfähigkeit, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu bestehen. Sie sei nicht in der Lage, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt
auch bei Berücksichtigung näher ausgeführter qualitativer Einschränkungen Arbeiten für drei oder mehr Stunden auszuführen.
Die festgestellten Einschränkungen des Leistungsvermögens bestünden seit vielen Jahren, im Grunde seit dem Verlust ihrer geschätzten
Tätigkeit in der Gärtnerei im Jahr 1991, zumindest seitdem zunehmend und sicher in der heutigen Ausprägung auch schon zum
Zeitpunkt ihres hier gegenständlichen Rentenantrags im Februar 2013.
Die Beklagte folgt dem Gutachten von Dr. B insoweit, als sie nunmehr auch davon ausgeht, dass bei der Klägerin eine volle
Erwerbsminderung vorliegt. Diese bestünde jedoch erst seit dem 13. April 2017, dem Tag der Untersuchung bei dem Sachverständigen.
Für diesen Leistungsfall seien die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht erfüllt. Sie hat Stellungnahmen
ihrer beratenden Ärzte, des Facharztes für Psychiatrie G vom 29. August 2017 und der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie
Dr. G vom 12. September 2017 vorgelegt. Herr G hat ausgeführt, dass bezüglich des Leistungsfalles dem Gutachten nicht gefolgt
werden könne. Es lägen keine neurologisch-psychiatrisch-spezifischen Belege dafür vor, dass bereits zum Zeitpunkt der Rentenantragstellung
vor vier Jahren die psychische Konstellation ebenso ausgeprägt und schwerwiegend gewesen sei, wie sie hier im Gutachten herausgearbeitet
worden sei. Der Leistungsfall ab Rentenantragstellung sei also rein spekulativ und durch fachpsychiatrische Belege nicht zu
untermauern. Dr. G hat, offensichtlich auf Rückfrage der Verwaltung der Beklagten, ausgeführt, dass sich in der Vorakte keine
Befunde auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet fänden, die auf eine Leistungsminderung vor dem vorgeschlagenen Leistungsfall
am 23. Juli 2017 hindeuten würden. Die Klägerin habe sich aufgrund der Schreib- und Leseprobleme nie um professionelle Hilfe
bemüht und auch an Psychotherapie bisher nicht gedacht. Insofern lasse sich auch kein psychischer Zustand eruieren, der zu
einem Leidensdruck und zu einer Aufnahme fachspezifischer Behandlung geführt hätte.
Mit Schriftsatz vom 6. April 2018 hat die Beklagte nach einem Hinweis der Berichterstatterin zur Frage der Verschlossenheit
des Arbeitsmarktes auf Grund einer schweren spezifischen Leistungseinschränkung (der Lese-, Schreib- und Rechenschwäche) in
Kombination mit weiteren qualitativen Einschränkungen dahingehend Stellung genommen, dass sie nicht von einer Verschlossenheit
ausgeht. Sie hat das Urteil des Landessozialgerichts (LSG) Berlin-Brandenburg vom 11. Oktober 2017 in dem Verfahren L 4 R 519/15 sowie zwei Stellungnahmen des Landesarbeitsamtes Hessen aus den Jahren 2012 und 2016 zu den Akten gereicht und sich darauf
bezogen.
Im Hinblick auf die vom Sozialgericht benannte Tätigkeit einer Versandfertigmacherin wurden den Beteiligten im Termin zur
mündlichen Verhandlung je ein Satz Kopien der vom Senat im Verfahren L 8 R 926/11 geführten Ermittlungen überreicht, ein weiterer Satz wurde zur Akte genommen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der eingereichten Schriftsätze der Beteiligten
und den übrigen Akteninhalt verwiesen.
Die die Klägerin betreffenden Verwaltungsakten der Beklagten (einschließlich einer Reha-Akte) haben dem Senat vorgelegen und
sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung (§
151 Sozialgerichtsgesetz -
SGG -) ist zulässig und begründet. Das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 26. August 2015 und der Bescheid der Beklagten vom
31. Mai 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. September 2013 sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin
in ihren Rechten. Sie hat gemäß §
43 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB VI) Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung ab dem 1. März 2013, da sie seit dem 4. September 2012
das ihr verbliebene Restleistungsvermögen auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr verwerten kann.
Nach §
43 Abs.
2 Satz 1
SGB VI in der Fassung des Gesetzes zur Anpassung der Regelaltersgrenze an die demografische Entwicklung und zur Stärkung der Finanzierungsgrundlagen
der gesetzlichen Rentenversicherung (RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz) vom 20. April 2007, Bundesgesetzblatt I S. 554, haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie
1. voll erwerbsgemindert sind,
2. in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung
oder Tätigkeit haben und
3. vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.
Nach §
43 Abs.
2 Satz 2
SGB VI sind voll erwerbsgemindert Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter
den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein.
Diese Voraussetzungen erfüllt die Klägerin, da sie zur Überzeugung des Senats seit dem 4. September 2012 nicht mehr in der
Lage ist, ihre verbliebene Leistungsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu verwerten, da eine schwere spezifische Leistungsbeeinträchtigung
in Kombination mit weiteren, einfachen Leistungseinschränkungen vorliegt, die zur Benennungspflicht führt, und dem Leistungsvermögen
der Klägerin entsprechende Verweisungstätigkeiten nicht ersichtlich sind.
Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), zusammengefasst im Beschluss des Großen Senats des BSG vom 19. Dezember 1996, Az. GS 2/95, dokumentiert in juris = SozR 3-2600 § 44 Nr. 8, sind die Versicherten grundsätzlich auf sämtliche, meist ungelernte Tätigkeiten
des allgemeinen Arbeitsmarktes oder -feldes verweisbar. Es besteht jedoch dann die Pflicht zur Benennung zumindest einer Verweisungstätigkeit,
wenn eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung vorliegt.
Der Grund für die Benennungspflicht liegt darin, dass der Arbeitsmarkt möglicherweise für diese überdurchschnittlich leistungsgeminderten
Versicherten keine Arbeitsstelle bereithält oder nicht davon ausgegangen werden kann, dass es für diese Versicherten eine
ausreichende Zahl von Arbeitsplätzen gibt, bzw. "ernste Zweifel daran aufkommen, ob der Versicherte in einem Betrieb einsetzbar
ist" (Beschluss vom 19. Dezember 1996, GS 2/95, BSGE 80, 24 = SozR 3-2600 § 44 Nr. 8). Ob eine Verweisungstätigkeit benannt werden muss, ist nach der Rechtsprechung des BSG nach den Umständen des Einzelfalles festzustellen (vgl. BSG, Urteil vom 23. Mai 2006, Az. B 13 RJ 38/05 R, juris Rn. 23 m.w.N.). Der jeweilige Begründungsaufwand hängt insbesondere von der Anzahl, Art und Schwere der bestehenden
qualitativen Leistungseinschränkungen ab. Je mehr diese geeignet erscheinen, gerade auch typische Arbeitsplätze für körperlich
leichte Tätigkeiten zu versperren, umso eingehender und konkreter muss das Tatsachengericht seine Entscheidung zur Frage einer
Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder einer schweren spezifischen Leistungsbehinderung begründen (BSG, a.a.O.).
Der 13. Senat hat in seiner jüngeren Rechtsprechung darauf hingewiesen, dass es sich bei den Begriffen Summierung ungewöhnlicher
Leistungseinschränkungen und schwere spezifische Leistungsbehinderung um unbestimmte Rechtsbegriffe handelt, die einer Konkretisierung
schwer zugänglich sind (vgl. BSG, Urteil vom 19. Oktober 2011, Az. B 13 R 78/09 R, juris Rn. 33 = SozR 4-2600 § 43 Nr. 16). Er hat weiter ausgeführt: "Eine vernünftige Handhabung dieser weiten Begriffe
sichert, dass immer dann, wenn "ernsthafte Zweifel" bestehen, ob der Versicherte "in einem Betrieb einsetzbar" ist (oder ein
Katalogfall vorliegen könnte), die konkrete Bezeichnung einer Verweisungstätigkeit erfolgen muss, die nicht nur zu dem Vergleich
von Leistungsfähigkeit und Anforderungsprofil führt, sondern auch zu der individuellen Prüfung, ob dem Versicherten der Arbeitsmarkt
praktisch verschlossen ist oder nicht".
Bei Vorliegen einer schweren spezifischen Leistungseinschränkung oder einer Summierung von Leistungseinschränkungen kann,
anders als bei der Verweisung im Rahmen der Frage, ob ein Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen teilweiser Erwerbsfähigkeit
bei Berufsunfähigkeit besteht, die Bezeichnung von Arbeitsfeldern (z.B. Prüfer, Montierer oder Verpacker von Kleinteilen)
ausreichen, um das Merkmal "Summierung" zu verneinen, denn eine Präzisierung, wie sie bei der Benennung von Verweisungstätigkeiten
gefordert wird, ist auf dieser Überlegungsstufe noch nicht erforderlich (Niesel in Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht,
Stand Dezember 2017, §
240 SGB VI, Rn. 117 m.w.N.).
Zur Überzeugung des Senats liegt bei der Klägerin eine schwere spezifische Leistungseinschränkung vor, die in Kombination
mit weiteren qualitativen Leistungseinschränkungen zu einer Benennungspflicht der Beklagten führt. Dies ergibt sich für den
Senat aus den Gutachten des von der ersten Instanz bestellten Sachverständigen Dr. Wund dem vom erkennenden Senat beauftragten
Sachverständigen Dr. B. Die beiden Gutachter haben die im Tatbestand genannten Diagnosen gestellt. Dr. W kommt zwar zu dem
Ergebnis, dass die Klägerin noch mindestens sechs Stunden täglich Tätigkeiten verrichten könne, benennt jedoch verschiedene,
im Tatbestand wiedergegebene qualitative Einschränkungen, die im Wesentlichen die körperliche Leistungsfähigkeit der Klägerin
einschränken. Zusätzlich hierzu benennt Dr. B eine bzw. zwei schwere spezifische Leistungseinschränkungen, nämlich eine Lese-
Rechtschreibstörung und eine Rechenstörung. Dr. B hat für den Senat nachvollziehbar und überzeugend dargestellt, dass durch
eine qualifizierte psychologische Testung im Rahmen der Begutachtung ermittelt wurde, dass die Fähigkeit der Klägerin zu Schreiben
dem Niveau eines Erstklässlers, die Kompetenz zum Lesen sogar noch darunter liegt. Auch das Rechnen ist stark eingeschränkt.
Nur mit Mühe und Fehlern ist die Klägerin in der Lage, einfache Rechenoperationen im ein- und zweistelligen Bereich durchzuführen.
Sie kann sich Zahlen nicht merken, etwa auch nicht ihre Telefonnummer oder Postleitzahl. Diese Werkzeugstörungen sind verbunden
mit wahrscheinlich primären (nicht krankheitsinduzierten) kognitiven Leistungseinschränkungen. Die Klägerin hat ihre Schreib-
und Leseschwäche von klein auf als Makel empfunden und zu verstecken versucht. Ein Glücksfall war für sie, dass sie mit 18
Jahren, gleich nach dem Wechsel in einen Gärtnereibetrieb, dort ihren späteren Ehemann kennenlernte, der seither an ihrer
Seite steht und ihr in den Jahren bis zur Wende half, ihre Defizite zu kompensieren und trotzdem in Arbeit und Familie zu
bestehen. Unter anderen Aufwachsbedingungen, einer Förderung nach heutigen pädagogischen Prinzipien und frühzeitiger psychologischer
Unterstützung hätte es vielleicht nicht so weit kommen müssen. So aber ist laut Dr. B bei der inzwischen 62 Jahre alten Klägerin
eine substanzielle Verbesserung ihrer psychischen Verfassung, ihrer Fähigkeit zu sozialer Teilhabe sowie ihrer Fähigkeit,
auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu agieren, nicht mehr erreichbar.
Aus den Ausführungen von Dr. B ergibt sich, dass die Klägerin, unter Mithilfe ihres Ehemanns, Tätigkeiten, bei denen Lesen
und Schreiben nicht oder nur in geringem Maße gefordert wurden, ausführen konnte und ausgeführt hat. Mit dem Hinzutreten körperlicher
Einschränkungen, insbesondere bezüglich der Schultern, lassen sich jedoch keine Tätigkeiten mehr finden, die die Klägerin
noch unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes verrichten könnte.
Der Senat folgt den medizinischen Einschätzungen von Dr. B, aber auch denjenigen, die Dr. W auf orthopädischem Gebiet vorgenommen
hat. Die Gutachten sind schlüssig und nachvollziehbar und berücksichtigen die bei der Klägerin vorliegenden Erkrankungen und
Funktionsdefizite umfassend, wobei Dr. B, seinem Auftrag gemäß und unter Berücksichtigung der Vorgaben des BSG aus seinem Urteil vom 10. Dezember 2003, Az. B 5 RJ 24/03, dokumentiert in juris und in SozR 4-1500 § 128 Nr. 3, eine fachübergreifende zusammenfassende Einschätzung der quantitativen
und qualitativen Leistungsfähigkeit, also eine Gesamtbeurteilung, vorgenommen hat. Letztendlich folgt auch die Beklagte der
Einschätzung von Dr. B, der ein aufgehobenes Leistungsvermögen der Klägerin annimmt, insoweit, als sie von einer vollen Erwerbsminderung
ausgeht, weicht aber hinsichtlich des angenommenen Eintritts des Leistungsfalles ab. Dabei stellt sie allein auf die quantitative
Einschätzung des Leistungsvermögens ab, berücksichtigt aber nicht, dass die Klägerin, nachdem ihre körperliche Leistungsfähigkeit
ebenfalls Einschränkungen erfahren hatte, keine Ausweichmöglichkeiten auf Tätigkeiten hatte und hat, in denen körperliche
Leistungsfähigkeit nicht so sehr gefordert wird.
Die Prüfung, ob eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen vorliegt, erfolgt zweckmäßigerweise in zwei Schritten
(vgl. Urteil des BSG vom 11. März 1999, Az.: B 13 RJ 71/97 R = Neue Zeitschrift für Sozialrecht - NZS - 2000, 96 [97]): Zuerst ist zu beurteilen, ob das Restleistungsvermögen dem Versicherten körperliche Verrichtungen (wie z.B. Zureichen,
Abnehmen, Transportieren, Reinigen, Bedienen von Maschinen, Kleben, Sortieren, Verpacken, Zusammensetzen von Teilen usw.)
erlaubt, die bei ungelernten Tätigkeiten gefordert zu werden pflegen. Verbleiben insoweit Zweifel, folgt die Prüfung, ob eine
Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen vorliegt.
Zureichen und Abnehmen erfolgt mit ausgestreckter Armhaltung, die der Klägerin laut Dr. W nicht mehr zugemutet werden kann.
Laut Dr. B kann sie ihre Arme nicht einmal bis in die Horizontale heben und auch nicht länger in abgespreizter Form vor dem
Körper halten. Das Transportieren ist zwar im Gehen vorzunehmen, das die Klägerin noch durchführen kann, auch überwiegend,
aber bei dieser Tätigkeit dürfen die Hebe- und Tragefähigkeiten nicht erheblich eingeschränkt sein, was bei der Klägerin jedoch
der Fall ist, da sie nur leichte körperliche Arbeiten verrichten soll und die Arme und Handgelenke nicht überlasten darf.
Reinigen erfolgt häufig in gebückter Körperhaltung, die sie nur noch gelegentlich ausführen kann, außerdem muss man dabei
zum Teil auch über Kopf arbeiten. An laufenden Maschinen kann die Klägerin nicht arbeiten, da dafür ebenfalls in der Regel
die Arme stark beansprucht werden, weiter erfordert das Arbeiten an Maschinen eine gute Reaktionsfähigkeit, die laut der übereinstimmenden
Aussagen von Dr. W und Dr. B bei der Klägerin stark eingeschränkt ist. Das Kleben, Sortieren, Verpacken und Zusammensetzen
von Teilen erfolgt regelmäßig unter besonderer Beanspruchung der Arme und Handgelenke. Eine Arbeit, die dies erfordert, ist
für die Klägerin jedoch nicht leistbar. Damit liegt eine Benennungspflicht seitens der Beklagten vor.
Die vom Sozialgericht benannte Verweisungstätigkeit des Versandfertigmachers ist so, wie von dem Sachverständigen L in seinem
Gutachten vom 21. März 2011 in dem Verfahren S 3 R 398/09, auf das sich das Sozialgericht bezogen hat, beschrieben, auf dem Arbeitsmarkt nicht (mehr) vorhanden. Dies hat der Senat
in seinem Urteil vom 29. Oktober 2015, Aktenzeichen L 8 R 926/11, dokumentiert in juris und in www.sozialgerichtsbarkeit.de, unter Auswertung verschiedener, auch in den vorliegenden Rechtsstreit
eingeführter Ermittlungsergebnisse begründet. Er hat ausgeführt:
"Zumutbare Verweisungstätigkeiten lassen sich für den Kläger nicht finden. Dies folgert der Senat aus der Stellungnahme der
(damaligen) Bundesanstalt für Arbeit, Landesarbeitsamt Berlin-Brandenburg, vom 10. Mai 2004 in dem Rechtsstreit S 9 RA 5698/01 des Sozialgerichts Berlin sowie aus den von ihm geführten Ermittlungen zu den von der Beklagten benannten Tätigkeiten eines
Warenaufmachers bzw. Versandfertigmachers. Der Senat folgt der Einschätzung des Gutachters L, dass am Arbeitsmarkt noch mindestens
300 Arbeitsplätze als Warenaufmacher/Versandfertigmacher zu den von ihm benannten Arbeitsbedingungen vorhanden sind, nicht.
Dabei bestreitet der Senat nicht, dass es Tätigkeiten gibt, die unter dieser Bezeichnung am Arbeitsmarkt angeboten werden,
sie entsprechen zur Überzeugung des Senats jedoch nicht dem geschilderten Anforderungsprofil, sondern sind nicht leicht, sondern
mindestens mittelschwer und nicht überwiegend sitzend auszuführen, sondern fast ausschließlich im Stehen und Gehen, außerdem
sind sie in der Regel zumindest in Schichtarbeit zu verrichten und im Freien oder in untemperierten (Lager-)Räumen. Die Ermittlungen
des Senats haben ergeben, dass die von dem Gutachter L geschilderten Tätigkeiten, die früher unstreitig vorhanden waren, im
Rahmen einer veränderten Arbeitswelt nicht mehr angeboten werden. Dies hat der Arbeitgeberverband Nordostchemie e. V. in seiner
Stellungnahme vom 28. April 2014 auch entsprechend bestätigt, wenn er ausführt, dass solche Arbeitsplätze, wie sie am Ende
von Produktionsmaschinen für Kleinteile vorhanden gewesen seien, in der Regel in dieser Branche der Automatisierung in den
letzten Jahrzehnten zum Opfer gefallen sind. Auch der Sachverständige L hat in seiner gutachterlichen Stellungnahme für den
Senat vom 30. September 2014 bestätigt, dass aus den aktuell von ihm geführten Telefongesprächen mit potenziellen in Betracht
kommenden Firmen Veränderungen deutlich geworden seien. Der Senat hält die Annahme des Sachverständigen, dies führe jedoch
nicht zu dem Ergebnis, dass für leistungsgeminderte Arbeitnehmer keine Einsatzmöglichkeiten mehr vorhanden seien, nicht für
zutreffend. Die durchgeführten Recherchen bei verschiedenen Verbänden und einzelnen Firmen derjenigen Branchen, für die der
Sachverständige L die Existenz der genannten Arbeitsplätze angibt, nämlich der Bereiche Metall, Einzelhandel, Versandhandel,
Speditions- und Logistikbranche, Hartwarenhandel, Chemie, Süßwarenindustrie, Schreibwaren und Elektro(klein)teile, haben keine
Hinweise ergeben, dass entsprechende Arbeitsplätze auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch vorhanden sind. Die von dem Sachverständigen
L einzeln benannten Firmen, und zwar konkret die Firmen N, P und P, bei denen nach seinen Recherchen noch seiner Leistungsbeschreibung
entsprechende Arbeitsplätze, und zwar auch in ausreichender Zahl, vorhanden sein sollen, wurden sämtlich vom Senat angeschrieben
und haben das Vorhandensein dieser Arbeitsplätze nicht bestätigt. Gleiches gilt für weitere Firmen aus den gleichen Branchen,
nämlich der Süßwarenindustrie (S und L) und Schreibwarenindustrie (F).
Untermauert wird das Ermittlungsergebnis des Senats durch die Auskunft der damaligen Bundesanstalt für Arbeit, Landesarbeitsamt
Berlin-Brandenburg, aus dem Jahre 2004, das schon für den damaligen Zeitpunkt entsprechende Arbeitsmöglichkeiten nicht bestätigen
konnte. Es hat ausgeführt, dass es sich bei den Tätigkeiten eines Warenaufmachers/Versandfertigmachers um körperlich leichte
bis mittelschwere Arbeit, mit zeitweise schwerem Heben und Tragen, um Arbeiten im Gehen und Stehen, zeitweise im Sitzen mit
Zwangshaltungen wie Bücken, Hocken und Knien sowie mit vornübergeneigter Haltung, Arbeit in offenen oder geschlossenen, teilweise
klimatisierten Lagerhallen bei vorwiegend künstlicher Beleuchtung, unter Einwirkung von Staub, Lärm und Abgasen und mit Absturz-
und Unfallgefahr und unter Zeitdruck wegen Lieferterminen sowie in Wechselschicht handelt. Körperliche Eignungsvoraussetzungen
sind gute Körperkraft und Körpergewandtheit, Funktionsfähigkeit und Belastbarkeit der Wirbelsäule, der Arme, Hände und Beine,
normales Sehvermögen für die Nähe, räumliches Sehvermögen, normales Hörvermögen, gesunde Atemwege und Schwindelfreiheit. Dabei
erscheint diese Beschreibung gegenüber den Angaben der angeschriebenen Verbände und Firmen eher noch weniger gravierend. Nach
den Angaben der Verbände und Firmen handelt es sich eher um mittelschwere bis schwere Tätigkeiten. Diese Anforderungen erfüllt
der Kläger mit den bei ihm vorliegenden, oben beschriebenen qualitativen Leistungseinschränkungen nicht mehr.
Auch die bei der Firma L GmbH vorhandenen Endkontrollarbeitsplätze für Leuchtmittel oder Lampen entsprechen dem Leistungsbild
des Klägers nicht, weil sie erhöhte Anforderungen an das Reaktionsvermögen und die Aufmerksamkeit stellen, die bei dem Kläger
nach dem Gutachten von Dr. M jedoch eingeschränkt sind.
Auch aus den von der Beklagten noch eingereichten Gutachten der Sachverständigen L vom 05. Mai 2014 und J vom 16. Oktober
2014 ergibt sich nichts anderes. Beide haben zwar angegeben, dass es die Tätigkeiten des Versandfertigmachers/Warenaufmachers
mit dem oben beschriebenen, von dem Gutachter L angegebenen Leistungsprofil am Arbeitsmarkt gibt, haben jedoch hierfür keine
Belege angeführt. Diese Angaben werden durch die Ermittlungsergebnisse des Senats in keiner Hinsicht gestützt, ihnen kann
daher nicht gefolgt werden".
Auch auf Grund des Urteils des LSG Berlin Brandenburg vom 11. Oktober 2017 (Az. L 4 R 519/15), das hinsichtlich der Tätigkeit des Warenaufmachers/Versand-fertigmachers auf zwei Stellungnahmen des Landesarbeitsamtes
Hessen vom 3. Juni 2012 und 7. Februar 2016 verweist, ergibt sich nichts anderes. Das Landesarbeitsamt Hessen nennt keine
Quellen für seine Annahme, dass es auf dem Arbeitsmarkt noch Arbeitsplätze für Warenaufmacher/Versandfertigmacher gibt, die
den auch von der Beklagten angegebenen Anforderungen entsprechen. Die umfangreichen Recherchen des erkennenden Senats in dem
Verfahren L 8 R 926/11 bestätigen das Vorliegen entsprechender Arbeitsplätze nicht. Im Übrigen hat das Landesarbeitsamt angegeben, dass für diese
Tätigkeiten in der Regel keine Lese- und Rechtschreibkenntnisse erforderlich seien. Dem Senat erschließt sich nicht, auf welche
Weise der Beschäftigte ohne Lesekenntnisse und Schreibfähigkeiten erkennen soll, was er verpacken soll, an wen das Produkt
versandt werden und wie er die Waren für den Versand auszeichnen soll.
Eine zumutbare Verweisungstätigkeit hat die Beklagte damit nicht benannt, sie ist auch nicht ersichtlich. Die Tätigkeit einer
Pförtnerin kann die Klägerin schon deshalb nicht ausüben, weil sie nicht lesen und schreiben kann und auch nicht in der Lage
ist, sich Zahlen zu merken. Da damit eine schwere spezifische Leistungseinschränkung in Kombination mit weiteren qualitativen
Leistungseinschränkungen vorliegt und die Benennung einer Verweisungstätigkeit nicht möglich ist, liegt volle Erwerbsminderung
auf Grund eines Leistungsfalles vom 4. September 2012 vor. Dr. W hat angegeben, dass die von ihm benannte Minderung der Leistungsfähigkeit
(in Form qualitativer Einschränkungen) seit diesem Zeitpunkt vorliegt. Dies begründet sich darin, dass die Klägerin zu diesem
Zeitpunkt nachvollziehbar wegen der Schultererkrankung eine stationäre Rehabilitation aufsuchen musste.
Bei dieser Sachlage ist nicht mehr darauf einzugehen, ob das Leistungsvermögen ab Antragstellung, also ab März 2013, auch
quantitativ aufgehoben ist, wie Dr. B angenommen hat.
Für den Leistungsfall 4. September 2012 sind die Wartezeit von 60 Monaten gemäß §
43 Abs.
2 Nr.
3 i. V. m. §
50 Abs.
1 SGB VI und die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen gemäß §
43 Abs.
2 Nr.
2 SGB VI erfüllt. Es liegen in dem Zeitraum vom 3. September 2012 bis 4. September 2007 43 Kalendermonate mit Pflichtbeitragszeiten
wegen einer Beschäftigung bzw. gemäß §
55 Abs.
2 SGB VI gleichgestellten Zeiten vor.
Rentenbeginn wäre gemäß §
99 Abs.
1 Satz 1
SGB VI der 1. Februar 2013, da der Rentenantrag im Februar 2013 gestellt wurde und der Leistungsfall im September 2012 liegt, also
mehr als drei Monate vor der Rentenantragstellung. Auf Grund des Grundsatzes, dass nicht mehr bewilligt werden darf als beantragt
(ne ultra petita), war die Beklagte erst ab März 2013 zur Rentengewährung zu verurteilen.
Eine Zeitrente (§
102 SGB VI) war nicht auszuurteilen. Die Rentengewährung wegen der Nichtverwertbarkeit des verbliebenen Leistungsvermögens auf dem allgemeinen
Arbeitsmarkt ist nicht gleichzusetzen mit der Gewährung nur einer Zeitrente wegen der Arbeitsmarktlage gemäß §
102 Abs.
2 Satz 5
SGB VI. Letztgenannte beruht auf der Annahme, dass sich der Arbeitsmarkt für Versicherte, die ein eingeschränktes quantitatives
Leistungsvermögen haben, möglicherweise noch einmal ändert und sie einen leidensgerechten Teilzeitarbeitsplatz erlangen können.
Dagegen kann die Klägerin aus gesundheitlichen Gründen auf Dauer keine Tätigkeiten mehr ausüben, weil auf dem allgemeinen
Arbeitsmarkt schon keine Tätigkeiten vorhanden sind, die ihren Leistungseinschränkungen entsprechen. Dr. Wund Dr. B, auf deren
Feststellungen der qualitativen Leistungseinschränkungen die Annahme der Verschlossenheit des Arbeitsmarktes beruht, haben
beide eine medizinische Besserungsaussicht nicht angenommen, sondern einen Dauerzustand, so dass es im Sinne des §
102 Abs.
2 Satz 5
SGB VI unwahrscheinlich ist, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit behoben werden kann.
Die Kostenentscheidung folgt aus §
193 SGG. Sie entspricht dem Ergebnis in der Hauptsache.
Gründe für die Zulassung der Revision (§
160 Abs.
2 SGG) liegen nicht vor.