Zulässigkeit der Anpassung des Jahresarbeitsverdienstes zum Ausbildungsende in der gesetzlichen Unfallversicherung für Schüler
in der ehemaligen DDR mit einem Arbeitsunfall vor dem 1.1.1992
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte berechtigt ist, die dem Kläger gewährte Verletztenteilrente von Rentenanpassungen
auszusparen.
Der 1975 geborene Kläger erlitt im Beitrittsgebiet am 18. Februar 1991 als Schüler der Berufsschule W im Sportunterricht einen
Unfall mit der Folge einer vorderen Kreuzbandruptur und eines medialen Hinterhornlängsrisses im rechten Kniegelenk. Mit Bescheid
vom 25. Juli 1994 erkannte die Rechtsvorgängerin der Beklagten den Unfall als Arbeitsunfall an und bewilligte eine Verletztenteilrente
beginnend ab 20. August 1991 nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von zunächst 40 v. H., zwischenzeitlich bis zu
100 v. H. und zuletzt ab 18. Januar 1993 nach einer MdE von 20 v. H. Als Jahresarbeitsverdienst (JAV) wurden für die Zeit
bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres 40 v. H. der zum Zeitpunkt des Unfalls geltenden Bezugsgröße-Ost (7.392,- DM) und
für die Zeit nach Vollendung des 18. Lebensjahres 60 v. H. der zum Zeitpunkt des Unfalls geltenden Bezugsgröße-Ost (11.088,-
DM) zugrunde gelegt.
Nachdem der Kläger mitgeteilt hatte, seine Ausbildung zum Kaufmann im Groß- und Außenhandel am 21. Juni 1995 zu beenden, stellte
die Rechtsvorgängerin der Beklagten mit Bescheid vom 28. August 1995 die Rente des Klägers unter Zugrundelegung eines JAV
für einen 20jährigen Kaufmann im Groß- und Außenhandel auf der Grundlage des § 573 Abs. 1
Reichsversicherungsordnung (
RVO) für die Zeit ab 21. Juni 1995 neu fest. Zugrunde gelegt wurde ein JAV von 32.150,- DM für Juni 1995.
Ausweislich eines Aktenvermerkes vom 30. Januar 2003 stellte die Beklagte in der Folgezeit fest, dass die der Neufestsetzung
zugrunde gelegten Vorschriften §§ 573, 575
RVO nach § 1152
RVO für Versicherungsfälle, die vor dem 01.01.1992 eingetreten seien, nicht anwendbar gewesen seien. Die Neufestsetzung des Jahresarbeitsverdienstes
und die damit verbundenen Rentenerhöhungen seien damit zu Unrecht erfolgt. Mit Schreiben vom 30. Januar 2003 erfolgte daraufhin
eine Anhörung des Klägers zum beabsichtigten "Einfrieren" des gezahlten Rentenbetrages.
Mit weiterem Aktenvermerk (ohne Datum) stellte die Beklagte weiter fest, dass auch der ursprünglichen Rentenfeststellung für
die Zeit bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres ein unzutreffender JAV zugrunde gelegt worden sei. Dieser hätte von Rentenbeginn
an 60 v. H. der Bezugsgröße-Ost, also 11.088,- DM betragen müssen. Diese Korrektur hätte jedoch keine Auswirkungen, da der
für die Zeit bis 13. Februar 1993 zu errechnende Rentennachzahlungsanspruch verjährt sei.
Am 15. Juli 2003 wurde der Kläger als Rechtsanwalt zur Rechtsanwaltschaft zugelassen.
Mit Bescheid vom 05. November 2003 teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass die Neufestsetzungen seiner Rente zum 13. Februar
1993 und 21. Juni 1995 zu Unrecht erfolgt seien, da die Vorschriften über die Neufestsetzung der Jahresarbeitsverdienste §§
573 und 575
RVO nach § 1152
RVO für Versicherungsfälle, die vor dem 01. Januar 1992 eingetreten seien, nicht anwendbar seien. Der Jahresarbeitsverdienst
hätte von Beginn der Rente an mit 60 v. H. der Bezugsgröße-Ost (11.088,- DM) festgestellt werden müssen, für eine Neufeststellung
zum Zeitpunkt der Beendigung der Ausbildung habe es keine Rechtsgrundlage gegeben, der rechtmäßige JAV betrage 13.684,42 Euro,
der Kläger erhalte aber derzeit eine Rente aufgrund eines JAV von 20.545,41 Euro. Da die Verwaltungsakte vom 25. Juli 1994
und 28. August 1995 wegen Fristablaufs nicht mehr zurückgenommen werden könnten, werde aber für die Zeit ab dem 01. Juli 2004
solange von einer Rentenanpassung nach §
95 Sozialgesetzbuch, Siebtes Buch, Gesetzliche Unfallversicherung (
SGB VII) abgesehen, bis der Jahresarbeitsverdienst, der Grundlage für die Rentenberechnung sei, dem JAV nach den gesetzlichen Vorschriften
entspreche. Der Zahlbetrag der Rente werde demzufolge in Höhe der bisherigen Rente (228,28 Euro) "eingefroren". Den hiergegen
erhobenen Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 27. April 2006 zurück.
Die hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht Potsdam durch Urteil vom 27. Februar 2008 unter Bezugnahme auf die Ausführungen
im angefochtenen Widerspruchsbescheid abgewiesen.
Gegen dieses ihm am 18. August 2008 zugegangene Urteil richtet sich die am 18. September 2008 eingegangene Berufung des Klägers.
Der Kläger trägt vor, dass die Unfallmeldung bei der Beklagten erst am 23. März 1992 eingegangen sei, dies sei der früheste
Zeitpunkt für die Feststellung der Rente. Das gesamte Feststellungsverfahren habe bis zum Bescheid vom 25. Juli 1994 gedauert.
Im Ergebnis sei damit die Anwendung der Vorschrift § 1154 Abs. 1
RVO zu Recht erfolgt. Durch § 1154 Abs. 3
RVO werde der Unfall dahingehend spezifiziert, dass es sich bei ihm um einen so genannten "übergeleiteten Fall" im Sinne von
§ 1150 Abs. 2 Satz 1
RVO handele. Die für diese Fälle gültigen und in § 1154 Abs. 3 Satz 1
RVO genannten Vorschriften des DDR-Rechts hätten den Rentenbeginn erst zu einem erheblich späteren Zeitpunkt als nach § 580
RVO zugelassen. Bei Schülern habe die Rente frühestens ab Vollendung des 16. Lebensjahres begonnen. Diese rechtliche Bewertung
sei auch in dem Bescheid vom 25. Juli 1994 zugrunde gelegt worden. Nach § 1154 Abs. 3 Satz 2
RVO finde für den vorgenannten Arbeitsunfall § 1152
RVO keine Anwendung, so dass die §§ 573, 575
RVO uneingeschränkt gelten würden. Damit sei auch der Bescheid vom 28. August 1995, welcher sich auf § 573 Abs. 1
RVO stütze, rechtmäßig. Aufgrund seiner abgeschlossenen juristischen Ausbildung und Zulassung zur Rechtsanwaltschaft zum 15.
Juli 2003 habe die Festsetzung seiner Rente nunmehr auf der Grundlage des JAV eines Rechtsanwaltes zu erfolgen. Im Übrigen
finde § 48 Abs. 3 Sozialgesetzbuch, Zehntes Buch, Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X), auf Fälle des § 1154 Abs. 1
RVO keine Anwendung.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 27. Februar 2008 und den Bescheid der Beklagten vom 05. November 2003 in Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 27. April 2006 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Beklagte verweist auf die Ausführungen in ihren Bescheiden und im erstinstanzlichen Urteil. Sie macht geltend, eine Anpassung
des JAV für verunfallte Schüler, wie diese in § 24 Abs. 3 der Verordnung über die Gewährung und Berechnung von Renten der
Sozialpflichtversicherung (GBl. I Nr. 38, 401, Renten-VO vom 23. November 1979) der ehemaligen DDR, in § 573
RVO und ab 1. Januar 1997 in §
90 SGB VII vorgesehen sei, entfalle für ab 1. Juli 1990 zu zahlenden Renten im Beitrittsgebiet, wenn der Arbeitsunfall vor dem 1. Januar
1992 eingetreten sei, da die Übergangsvorschrift des § 1152 Abs. 2
RVO Schüler für den genannten Zeitraum im Zusammenhang mit der Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands von der Rechtswohltat
der JAV-Anpassung zum Ausbildungsende ausgenommen habe. Dafür sei der JAV für diese Schüler bereits vor Vollendung des 18.
Lebensjahres mit 60 v. H. der Bezugsgröße festzustellen gewesen, während § 575 Abs. 1 Nr. 2
RVO für nicht volljährige Schüler der alten Bundesländer 40 v. H. der Bezugsgröße als JAV vorgesehen habe. Wegen dieses Ausgleichs
komme auch ein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Grundgesetzes (Art.
3 Abs.
1 Grundgesetz -
GG-) nicht in Betracht.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Schriftsätze der Beteiligten nebst
Anlagen und den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie den der Verwaltungsakte der Beklagten (2 Bände).
Entscheidungsgründe:
Die Berufung des Klägers ist zulässig und begründet. Das erstinstanzliche Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 27. Februar
2008 und der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 05. November 2003 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 27. April
2006 waren daher aufzuheben. Damit entfällt auf die zulässige Anfechtungsklage die von der Beklagten im angefochtenen Bescheid
verfügte Aussparung der mit Bescheid vom 28. August 1995 festgesetzten Verletztenrente von den Rentenanpassungen nach §
95 SGB VII, so dass diese nachzuholen sind.
Der Senat hat trotz des Vertagungsantrags des Klägers vom 15. Juni 2011 entschieden, da ein Vertagungsgrund nicht ausreichend
glaubhaft gemacht war und eine in der Ablehnung der Vertagung möglicherweise liegende Verletzung des rechtlichen Gehörs des
Klägers sich hier nicht zu seinen Lasten auswirken konnte, weil der Senat in vollem Umfang zu seinen Gunsten entschieden hat.
Die durch Attest vom 15. Juni 2011 bescheinigte Verhandlungsunfähigkeit war deshalb nicht glaubhaft, weil der Kläger an diesem
Tag den Arzt aufgesucht, sodann den Vertagungsschriftsatz gefertigt und dann persönlich bei Gericht erschienen ist, um diese
Unterlagen abzugeben. Dieses Verhalten spricht gegen Verhandlungsunfähigkeit und für ein Gefälligkeitsattest, das keinen Grund
zur Vertagung darstellt.
Nach § 48 Abs. 3 SGB X darf unter der Voraussetzung, dass ein rechtswidrig begünstigender Verwaltungsakt nach § 45 SGB X nicht zurückgenommen werden kann, und eine Änderung nach § 48 Abs. 1 oder 2 SGB X zugunsten des Betroffenen eingetreten ist, die neu festzustellende Leistung nicht über den Betrag hinausgehen, wie er sich
der Höhe nach ohne Berücksichtigung der Bestandskraft ergibt (so genanntes Abschmelzen oder Aussparen oder Einfrieren). Für
die Beurteilung, ob der bewilligende Verwaltungsakt rechtswidrig war, gelten die sonst im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung
einschlägigen Grundsätze in gleicher Weise wie bei der Erstbewilligung. Da es um die Feststellung der ursprünglichen Rechtswidrigkeit
des Bewilligungs- (bzw. hier des Neufestsetzungs-)bescheides geht, ist außerdem der tatsächliche und rechtliche Zustand im
Zeitpunkt seines Erlasses maßgeblich (so insgesamt BSG, Urteil vom 02. November 1999, Az. B 2 U 47/98 R, zitiert nach juris.de).
Die Voraussetzungen des § 48 Abs. 3 SGB X liegen nicht vor. Es fehlt an einem rechtswidrig begünstigenden Verwaltungsakt. Die mit Bescheid vom 28. August 1995 vorgenommene
Anpassung des JAV zum Ausbildungsende ist im Ergebnis nicht zu beanstanden.
Allerdings stehen entgegen der Auffassung des Klägers der Anwendbarkeit der Vorschrift auch auf Renten, die nach der
RVO berechnet worden sind, keine Gründe entgegen. § 48 SGB X ist selbst auf Verwaltungsakte anwendbar, die vor seinem In-Kraft-Treten zum 01. Januar 1981 ergangen sind (Steinwedel in
Kasseler Kommentar, § 48 SGB X Rdnr. 2 m.w.N.). Weshalb die Vorschrift vorliegend im Hinblick auf die durch Bescheide aus 1994 und 1995 bewilligten Leistungen
nicht anwendbar sein sollte, wird vom Kläger denn auch in keiner Weise begründet. Nicht ersichtlich ist angesichts dessen
auch, weshalb sich der Kläger an anderer Stelle auf die Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 18. März 1997 (Az. 2 RU 19/96) beruft, die sich mit durch DDR-Leistungsträger vor dem 03. Oktober 1990 bindend anerkannten Arbeitsunfällen und der Durchbrechung
der Bestandskraft von Verwaltungsakten der früheren DDR befasst.
Der Bescheid der Beklagten vom 28. August 1995, mit welchem der Jahresarbeitsverdienst für die Zeit ab 21. Juni 1995 neu festgestellt
worden ist, erweist sich aber im Ergebnis als rechtmäßig.
Allerdings war die von der Beklagten zugrunde gelegte Vorschrift des § 573 Abs. 1
RVO nicht anwendbar. Denn gemäß § 1152 Abs. 1
RVO galten u. a. die §§ 570 bis 578
RVO im Beitrittsgebiet lediglich für Arbeitsunfälle, die nach dem 31. Dezember 1991 "eingetreten sind". § 573
RVO war damit auf den am 18. Februar 1991 eingetretenen Schulunfall des Klägers von vornherein nicht anwendbar. Unmaßgeblich
ist entgegen der Auffassung des Klägers, wann der Unfall gemeldet worden ist oder wann die Entschädigung für den Unfall festgesetzt
worden ist. Hierauf kommt es nach dem klaren Wortlaut des § 1152 Abs. 1
RVO nicht an.
Auch die Argumentation des Klägers, dass § 1152
RVO nach § 1154 Abs. 3 Satz 2
RVO auf seinen Arbeitsunfall keine Anwendung fände, ist nicht nachvollziehbar. § 1154 Abs. 3
RVO bestimmt Folgendes: "Soweit für einen vor dem 01. Januar 1992 eingetretenen Arbeitsunfall aufgrund von § 4 der Verordnung
über die Erweiterung des Versicherungsschutzes bei Unfällen in Ausübung gesellschaftlicher, kultureller oder sportlicher Tätigkeiten
vom 11. April 1973 (GBl. I Nr. 22 S. 199) am 31. Dezember 1991 kein Anspruch auf eine Rente besteht, beginnt die Rente am
01. Januar 1992, sofern die Voraussetzungen des § 580 vorliegen. Abweichend von § 1152 Abs. 2 gelten für die Berechnung des
Jahresarbeitsverdienstes die §§ 570 bis 578. Hat der Träger der Unfallversicherung keine Kenntnis von dem Arbeitsunfall, wird
die Rente auf Antrag gezahlt; wird der Antrag nach dem 31. Dezember 1993 gestellt, beginnt die Rente mit dem ersten des Antragsmonats."
Dem Gesamtzusammenhang der Vorschrift ist ohne weiteres zu entnehmen, dass sich § 1154 Abs. 3 Satz 2
RVO allein auf die unter § 1154 Abs. 3 Satz 1 fallenden Arbeitsunfälle bezieht, zu denen der des Klägers nicht gehört, und dass nicht etwa hierdurch § 1152 Abs. 1
RVO für sämtliche Fälle abgeändert werden sollte. Etwas anderes ergibt sich entgegen der Auffassung des Klägers auch keineswegs
aus der von ihm zitierten Kommentarstelle im Kasseler Kommentar (Ricke in KassKom, § 1154
RVO Rdnr. 11). Vielmehr ist hier ausdrücklich aufgeführt, dass Satz 2 bestimme, dass für "diese Fälle", also die zuvor in Satz
1 genannten Fälle, die JAV-Vorschriften uneingeschränkt gelten. Das Begehren des Klägers wird hierdurch in keiner Weise gestützt.
Allerdings ergibt sich die Rechtmäßigkeit der mit Bescheid vom 28. August 1995 zum 21. Juni 1995 vorgenommenen Anpassung des
JAV zum Ausbildungsende aus § 1152 Abs. 2 Nr. 2
RVO in Verbindung mit § 12 Rentenangleichungsgesetz (RAnglG) in der Fassung vom 28. Juni 1990 und § 24 Abs. 3 Renten-VO.
§ 1152 Abs. 2 Nr. 2
RVO ist auf die vorliegend zu überprüfende Anpassung durch Bescheid vom 28. August 1995 anwendbar, denn die Vorschrift ist nach
Art. 42 Abs. 1 des Rentenüberleitungsgesetzes (RÜG in der Fassung vom 25. Juli 1991 BGBl. I. S. 1606, geändert durch Gesetz vom 18. Dezember 1991, BGBl. I 2207) zum 1. Januar 1992 in Kraft getreten, weil die Vorschrift in
Art. 42 Abs. 4 RÜG, die die bereits zum 1. Januar 1991 in Kraft getretenen Vorschriften enthält, nicht genannt ist. Sie ist
erst mit Inkrafttreten des
SGB VII zum 1. Januar 1997 außer Kraft getreten und gilt daher für den hier fraglichen Zeitpunkt.
§ 1152 Abs. 2 Nr. 2
RVO schreibt für den Fall, dass der Rentenanspruch -wie hier- nach dem 30. Juni 1990 entstanden ist, vor, dass die Berechnungsgrundlage
das Zwölffache der Berechnungsgrundlage nach § 12 Abs. 1 Rentenangleichungsgesetz vom 28. Juni 1990 (RAnglG) beträgt. § 12
Abs. 1 RAnglG verweist in Satz 1 für die Festsetzung der Unfallrenten auf die Bestimmungen der Rentenverordnung. Damit wird
für die Berechnung des JAV letztlich auch auf § 24 der Renten-VO der DDR verwiesen (so auch Thüringer Landessozialgericht,
Urteile vom 04. Dezember 1997 -L 2 U 174/96- und 31. Mai 2006 -L 1 U 179/05- zitiert nach juris und Hasche/Knobloch, BG 2004, Seite 607 ff). Nach § 24 Abs. 1 Renten-VO war prinzipiell der beitragspflichtige
monatliche Durchschnittsverdient maßgeblich, Abs. 3 sah für verunfallte Schüler eine Berechnung nach dem beitragspflichtigen
monatlichen Durchschnittsverdienst vor, der nach Beendigung der Ausbildung erzielt werden würde.
Die JAV-Anpassung zum Ausbildungsende ergibt sich schon aus dem aus der Sicht des Senats eindeutigen Wortlaut der genannten
Vorschriften. Weder § 1152
RVO noch dem § 12 RAnglG ist zu entnehmen, dass nicht auf alle für die Berechnung der Unfallrente einschlägigen Vorschriften der Renten-VO
verwiesen werden sollte. So spricht § 12 RAnglG ausdrücklich von den Bestimmungen im Plural und nicht etwa nur von der Bestimmung
des § 24 Abs. 1 Renten-VO, die den beitragspflichtigen durchschnittlichen Monatsverdienst in Bezug nimmt, den ein Schüler
naturgemäß nicht haben kann.
Vor dem Hintergrund dieser für den Senat schon vom Wortlaut her eindeutigen Verweisung auch auf § 24 Abs. 3 Renten-VO der
ehemaligen DDR erstaunt es nicht, dass in den Abs. 3-6 des § 1152
RVO, die Einzelheiten der JAV-Festsetzung in bestimmten Sonderfällen regeln, eine dem § 573
RVO vergleichbare Vorschrift fehlt. Eine solche Regelung war wegen des dargestellten Verweises schon in Abs. 2 Nr. 2 der Vorschrift
enthalten. Aus diesem Blickwinkel betrachtet zeigt die Systematik der Vorschrift keineswegs, dass Schüler, die im Beitrittsgebiet
vor dem 1. Januar 1992 einen als Arbeitsunfall anzuerkennenden Schulunfall erlitten hatten, von einer JAV-Anpassung zum Ausbildungsende
grundsätzlich ausgenommen werden sollten. Die Systematik der Vorschrift, die auch für einen Übergangszeitraum der Herstellung
der staatlichen Einheit Deutschlands Sonderfälle der JAV-Berechnung berücksichtigt hat, belegt bei dem hier aufgezeigten richtigen
Verständnis des Abs. 2 Nr. 2 das Gegenteil.
Auch die Gesetzgebungsgeschichte enthält keinen Hinweis darauf, dass rentenberechtigte Schüler, die den Unfall vor dem 1.
Januar 1992 erlitten hatten, auf Dauer ohne Berücksichtigung einer späteren Ausbildung an dem eher geringen JAV von 60 v.H.
der Bezugsgröße-Ost festgehalten werden sollten. Dem Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und FDP zum Rentenüberleitungsgesetz
(Deutscher Bundestag, 12. Wahlperiode, Drucksache 12/405, gleichlautend Drucksache 12/630 Gesetzentwurf der Bundesregierung)
ist dafür kein Anhaltspunkt zu entnehmen. Vielmehr ist dort auf Seite 116 unter II. Gesetzliche Unfallversicherung, c) ausgeführt:
"Der der Unfallrente zugrunde liegende Arbeitsverdienst bzw. die Bemessung der Unfallfolgen werden grundsätzlich den entsprechenden
Berechnungsgrundlagen nach der
Reichsversicherungsordnung gleichgestellt (vgl. § 1152 Abs. 2 und § 1154 Abs. 1 Satz 1)".
Auf Seite 155 (aaO.) ist zu § 1152
RVO wörtlich ausgeführt:
"Der Jahresarbeitsverdienst als Berechnungsgrundlage für Geldleistungen bei Arbeitsunfällen vor dem 1. Januar 1992 richtet
sich -vorbehaltlich der in den Abs. 2 bis 4 enthaltenen Besonderheiten- weiterhin nach dem bisher im Beitrittsgebiet geltenden
Recht".
Zu dem im Beitrittsgebiet geltenden Recht gehört aber auch § 24 Abs. 3 RentenVO. Eine Ausnahme für Schüler ordnet § 1152
RVO gerade nicht an.
Auch der Sinn und Zweck solcher Regelungen, wie sie in § 24 Renten-VO, § 573
RVO und jetzt in §
90 SGB VII enthalten sind, sprechen gegen eine Auslegung von § 1152
RVO, die letztlich nur Schüler eines bestimmten Jahrgangs von der Rechtswohltat der Anpassung des JAV zum Ausbildungsende ausnehmen
würde. Die genannten Regelungen tragen dem Umstand Rechnung, dass Schüler, die Unfallfolgen in rentenberechtigendem Grade
erleiden, hierfür mangels Arbeitsentgeltes zur Zeit des Unfalls nicht die finanzielle Kompensation erhalten können wie berufstätige
Versicherte, obwohl sie, wie die letztgenannten, die Unfallfolgen oft ihr ganzes Berufsleben zu tragen haben (vgl. Schmitt,
SGB VII, 4. Auflage, §
90 Rdnr. 2; Becker/Franke/Molkentin,
SGB VII, 3. Auflage, §
90 Rdnr. 1; Ricke, in KassKom, § 90 Rdnr. 2). Deshalb erscheint es geboten, den individualisierenden Aspekt der abstrakten Schadensberechnung,
der in der Berücksichtigung des für jeden Versicherten nach seinem Arbeitsentgelt individuell zu berechnenden JAV seinen Ausdruck
findet, im Falle verunfallter Schüler bezogen auf den Zeitpunkt des Endes der Ausbildung nachzuholen. Dieser richtige Gedanke
muss aber auch für die zwischen dem 1. Juli 1990 und dem 31. Dezember 1991 verunfallten Schüler gelten. Jedenfalls ist kein
vernünftiger Grund ersichtlich, diesen Jahrgang von der Vergünstigung auszunehmen.
Dieses Auslegungsergebnis wird auch durch verfassungsrechtliche Erwägungen zum allgemeinen Gleichheitsgrundsatz (Art.
3 Abs.
1 Grundgesetz -
GG-) gestützt. Folgte der Senat der Auslegung des §1152 Abs. 2 Nr. 2
RVO durch die Beklagte, begegnete die Vorschrift erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken. Denn aus der Sicht des Senats besteht
kein nachvollziehbarer Grund, die im Beitrittsgebiet in der Zeit vom 1. Juli 1990 bis 31. Dezember 1991 verunfallten Schüler
im Hinblick auf die Anpassung des JAV zum Ausbildungsende anders zu behandeln als die Schüler im alten Bundesgebiet. Es vermag
auch nicht einzuleuchten, warum ein im genannten Zeitraum im Beitrittsgebiet verunfallter Schüler anders behandelt werden
sollte als ein im Jahre 1992 im Beitrittsgebiet verunfallter Schüler. Sachliche Gründe, die diese Ungleichbehandlungen rechtfertigen
könnten sind nicht ersichtlich. Es fehlt entgegen der Ansicht der Beklagten auch an einer ausreichenden Kompensation, die
die Ungleichbehandlung in einem anderen Licht erscheinen ließe.
Der allgemeine Gleichheitssatz (Art.
3 Abs.
1 GG) gebietet, alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln. Dem Gesetzgeber ist damit aber nicht jede Differenzierung verwehrt.
Er verletzt das Grundrecht nur, wenn er eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten abweichend behandelt,
obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie eine Ungleichbehandlung
rechtfertigen können (st. Rspr., vgl. BVerfGE 117, 272, 300 f). Vorliegend sind Unterschiede solchen Gewichts nicht erkennbar, die es rechtfertigen könnten, die zwischen dem 1.
Juli 1990 und 31. Dezember 1991 verunfallten Schüler des Beitrittsgebiets anders zu behandeln als die ebenfalls in diesem
Zeitraum verunfallten Schüler der alten Bundesländer oder die im Beitrittsgebiet ab dem 1. Januar 1992 verunfallten Schüler.
So hat die Beklagte auch nur Gründe der Verwaltungsvereinfachung und -praktikabilität in der schwierigen Phase der Herstellung
der Einheit Deutschlands angeführt. Diese Argumentation begegnet schon deshalb Bedenken, weil der Gesetzgeber sich bei der
Beurteilung verschiedener Vergleichsgruppen im Rahmen des Art.
3 GG konsequent zu verhalten hat. Hier ist aber festzustellen, dass eine ganze Reihe von besonderen Fallgestaltungen in § 1152 Abs. 2 Satz 3
RVO und in den nachfolgenden Absätzen 3 bis 6 geregelt worden sind, ohne dass der Gesetzgeber Gründe der Verwaltungsvereinfachung
in einer staatlichen Ausnahmesituation als entgegenstehend angesehen hat. Darüber hinaus ist festzustellen, dass die hier
streitgegenständlichen Anpassungsentscheidungen in ihrer ganz überwiegenden Mehrzahl viele Jahre nach der "heißen Phase" der
Herstellung der Einheit Deutschlands zu treffen waren, weil - wie vorliegend auch geschehen- das Ausbildungsende abzuwarten
war. So kann eine besondere Ausnahmesituation in der Staatsverwaltung im Jahre 1991 nicht herangezogen werden, um das Unterlassen
einer Entscheidung im Jahre 1995 aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung zu rechtfertigen. Dies gilt umso mehr, als für die
nur ein Jahr nach dem hier streitigen Zeitraum verunglückten Schüler (z.B. die des Jahres 1992) ohne weiteres die hier streitige
Anpassungsentscheidung nach § 1152 Abs. 1 i.V.m. 573
RVO zu treffen war.
Damit wäre kein sachlicher Grund ersichtlich, die genannten Vergleichsgruppen unterschiedlich zu behandeln, was der Gesetzgeber
nach Auffassung des Senats einerseits nicht getan hat, andererseits auch nicht hätte tun dürfen.
Nur abschließend sei angemerkt, dass der Beklagten zuzugeben ist, dass die im hier fraglichen Zeitraum im Beitrittsgebiet
verunfallten Schüler in den Genuss eines JAV von 60 v.H. der Bezugsgröße-Ost hätten kommen können, die Schüler der alten Bundesländer
und die ab 1992 verunfallten Schüler des Beitrittsgebiets sich dagegen mit 40 v.H. der Bezugsgröße West bzw. Ost begnügen
mussten. Dieser Vorteil, von dem aus den Gesetzesmaterialien nicht einmal bekannt ist, ob er beabsichtigt war, fällt allerdings
so gering aus, dass er nicht in der Lage ist, vor dem Hintergrund des Art.
3 Abs.
1 GG die gegebenenfalls ausfallende JAV-Anpassung zum Ausbildungsende zu kompensieren. Dies zeigen schon die Zahlen des vorliegenden
Falles:
Nach Auffassung der Beklagten hätte sich der Kläger lebenslang ohne die Möglichkeit der hier streitigen Anpassung mit einem
JAV auf der Grundlage von 11.088,- DM begnügen müssen. Der Vorteil, der mit diesem JAV im Vergleich zu einer Berechnung mit
40 v.H. der Bezugsgröße verbunden gewesen wäre, hätte 3.696,- DM (11.088 - 7.392) betragen. Der auf das Ende der Ausbildung
bezogene JAV betrug demgegenüber nach den Ermittlungen der Beklagten 32.150,- DM, der dem Kläger überschlägig erwachsende
Vorteil daher rund 21.000,- DM, also knapp das 6-fache. Für eine derartige Ungleichbehandlung wäre kein sachlicher Grund zu
finden.
Damit steht im Ergebnis fest, dass die mit Bescheid vom 21. Juni 1995 vorgenommene Anpassung des JAV rechtmäßig war. Die Voraussetzungen
des § 48 Abs. 3 SGB X liegen nicht vor. Der Bescheid vom 5. November 2003 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 27. April 2006 erweist
sich als rechtswidrig.
Die Berufung des Klägers musste daher Erfolg haben. Soweit der Kläger im Verfahren angedeutet hat, er sei der Auffassung,
der der Rente zu Grunde liegende JAV müsse an sein Einkommen als Rechtsanwalt angepasst und erhöht werden, ist ein solcher
Anspruch nicht Gegenstand dieses Verfahrens, da es insoweit bereits an einer Verwaltungsentscheidung der Beklagten fehlt.
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§
160 Abs.
2 Nr.
1 und
2 SGG). Die Sache hat entgegen der Auffassung der Beklagten keine grundsätzliche Bedeutung. Mit Beschluss vom 2. Dezember 1998
(B 2 U 256/98 B) hat das BSG zu § 1152 Abs. 2
RVO bereits ausgeführt, dass eine grundsätzliche Bedeutung einer Rechtssache nicht angenommen werden kann, wenn dieser außer
Kraft getretene Rechtsnormen oder Übergangsvorschriften zu Grunde liegen. Eine Ausnahme liegt nur dann vor, wenn eine erhebliche
Anzahl gleich gelagerter Fälle der Entscheidung harrt. Der Vertreter der Beklagten hat in der Sitzung von etwa vier abgeschlossenen
Widerspruchsverfahren zur gleichen rechtlichen Thematik berichtet. Dies vermag eine grundsätzliche Bedeutung nicht zu rechtfertigen,
zumal der Verweis auf § 24 Renten-VO mindestens seit 1997 Thema der Rechtsprechung war.