Tatbestand
Die 1969 geborene Klägerin begehrt die Zuerkennung der Merkzeichen G und B.
Sie beantragte mit Änderungsantrag vom 28.09.2017 bei der Beklagten die Zuerkennung der Merkzeichen G und B. Zuletzt war im
Oktober 2016 für sie ein Gesamtgrad der Behinderung von 60 festgestellt worden. Nach Einholung von Befundberichten gab der
versorgungsärztliche Dienst der Beklagten hinsichtlich der bei der Klägerin vorliegenden Gesundheitsstörungen am 11.01.2018
folgende Stellungnahme ab:
1. Seelische Störung, posttraumatische Belastungsstörung Einzel-GdB 50,
2. Wirbelsäulenschaden, Bandscheibenschaden Einzel-GdB 20,
3. Bluthochdruck Einzel-GdB 10,
4. Reflux, Magen- und Speiseröhrenschleimhautentzündungen Einzel-GdB 10,
5. Ohrgeräusche, Hörstörung Einzel-GdB 10,
6. Allergisches Asthma bronchiale. Einzel-GdB 10.
Mit Bescheid vom 25.01.2018 stellte die Beklagte dem versorgungsärztlichen Vorschlag entsprechend der Klägerin gegenüber einen
Gesamtgrad der Behinderung von 60 fest und lehnte gleichzeitig die Zuerkennung der beantragten Merkzeichen ab. Den dagegen
am 16.02.2018 eingelegten Widerspruch begründete die Klägerin damit, dass sie durch den Tinnitus und die Ohrgeräusche eine
Störung der Orientierungsfähigkeit habe. Erschwerend kämen die Ängste aufgrund der Dissoziationsstörung hinzu, so dass sie
ohne Begleitung das Haus nicht verlassen könne. Die Familie sei berufstätig und könne sie nicht begleiten. Es sei zunehmend
schwierig, da sie viele Therapien und Arzttermine nicht wahrnehmen könne. Die Bezirksregierung N wies den Widerspruch der
Klägerin mit Widerspruchsbescheid vom 02.03.2018 zurück.
Die Klägerin hat am 21.03.2018 Klage erhoben. Das Sozialgericht (SG) hat zunächst Befundberichte der behandelnden Ärzte eingeholt. Mit Beschluss vom 19.12.2018 hat das SG Beweis erhoben durch Einholung eines psychiatrisch-neurologischen Sachverständigengutachtens des Dr. L.
Dieser hat ausgeführt:
"Jetziges Beschwerdebild: Die Gutachtenpatientin gab an, dass sie dissoziierte, sie wisse nicht, in solchen Situationen, wo
sie dann sei und wer sie sei. Sie spüre dies nicht immer, merke es zumeist, wenn sie abgedriftet sei. Diese Dissoziationen
würden plötzlich Auftreten oder auch im Rahmen eines Gedankenflusses. Z.B. würden diese Symptome auftreten, wenn ihr jemand
zu nahe komme. So sei sie schon knapp vor einer Straßenbahn angetroffen worden. Manchmal dauere so ein Zustand bis zu 5 Minuten,
aber auch schon mehrere Stunden lang bis ein ganzes Wochenende. Sie wisse dann nicht mehr, was alles geschehen sei. Sie könne
sich dann auch nicht erinnern, wisse einfach vieles von dem, was möglicherweise passiert sei, nicht mehr. Wenn sie in einem
Geschäft einkaufen gehe, entwickele sie in Menschenansammlungen Panikgefühle. Diese Symptome würden nicht jeden Tag in gleicher
Stärke auftreten, aber an manchen Tagen könne sie es nicht aushalten. Auch habe sie Angstzustände beim Verlassen des Hauses
(es handele sich um ein Einfamilienhaus). Allein, wenn sie sie das Tor aufschließen müsse, dabei handele es sich aber um eine
ruhige Straße mit nur wenigen Menschen. Den Müll könne Sie wegbringen, weil dieser auf ihrem Gelände vorhanden sei. Angstzustände
bekomme sie auch, wenn sie alleine in öffentlichen Verkehrsmitteln sei oder in neuer, ungewohnter Umgebung oder wenn fremde,
unbekannte Personen ihr zu nah kommen würden. Z.B. an der Kasse in einem Geschäft oder in Warteräumen oder beim Schwimmen.
Sie brauche dadurch ständig Begleitung, um sich sicherer zu fühlen. Da nicht jeder aus ihrem Bekannten- oder Freundeskreis
ein Auto besitze, zahle sie natürlich für die Begleitung auch immer Fahrgeld mit. Ihr Mann sei als Schichtarbeiter in 3 Schichten
tätig und könne im Grunde sie nur selten begleiten. Ihr Sohn studiere noch, wohne auch nicht mehr zu Hause, sondern in einem
Studentenzimmer in der Universität. Bedingt durch ihren chronischen Tinnitus nach einem Hörsturz, der auch psychisch bedingt
war, Vorfall in Trauma-Klinik in Bad I, leide sie in Stresssituationen unter Schwindel und Gleichgewichtsstörungen. Dies alles
würde es ihr gerade nicht erleichtern am sozialen Umfeld teilzunehmen. Oft müsse sie Termine mit Freunden oder Bekannten absagen.
Sie könne überhaupt nicht alleine Bahnfahren. Ohne Begleitung wäre sie auch nicht zur Untersuchung gekommen. Wenn sie jemand
begleiten würde, sei es wichtig, dass Sie denjenigen, auch kenne, Dieser ihr sozusagen vertraut wäre. Schwimmen würde sie
gehen, weil sie etwas für ihren Rücken tun müsse. Im Weiteren gab die Patientin an, dass sie sich in der Vergangenheit durch
eine Mitpatientin sehr an ihre Mutter erinnert fühlte. Schließlich hatte sie einen Hörsturz entwickelt und leide seitdem an
einem Tinnitus des rechten Ohres.
Zur Krankenvorgeschichte gab die Patientin an, dass im Grunde alles 2013 begonnen habe. Sie habe gemerkt, dass irgendetwas
nicht richtig stimmen würde. So sollte der Stiefvater durch die Patientin gepflegt werden. Im Verlauf habe die Patientin festgestellt,
dass sie immer weniger Kraft gehabt habe. Im April 2013 hatte sich ein älterer Mann neben sie gestellt und ihr etwas ins Ohr
geflüstert. Sie wisse gar nicht mehr den Inhalt. Danach habe es bei ihr angefangen. Der erste Auslöser sei der Sohn gewesen,
da dieser betrunken nach Hause kam, das habe sie allzu sehr an ihre Mutter erinnert, die Alkoholikerin war. Es sei so gewesen,
als wenn diese plötzlich vor ihr gestanden habe. Der 2. Auslöser wäre der Schwiegervater gewesen als dieser verstarb.
Im Laufe der Zeit seien alle möglichen Symptome aufgetreten. Schließlich habe sie im Pkw Angstzustände entwickelt. Laut der
Therapeutin hätte sie dann dissoziative Zustände entwickelt, die früher für sie eine Art Schutz gewesen seien, aber später
nicht mehr.
Biografische Daten. Ihre Mutter habe vermehrt Alkohol getrunken, dadurch sei sie sehr aggressiv gewesen, verbal wie auch psychisch,
allerdings vor allem nur bei ihr, nicht bei den Geschwistern. Letztendlich wurde die Patientin für alles Mögliche verantwortlich
gemacht. Auch habe die Mutter zu ihr gesagt: "Wärst du doch damals verstorben." Wahrscheinlich hätte man sie vertauscht. Auch
sei sie mit dem Gürtel, mit dem Kleiderbügel geschlagen worden, wurde von der Mutter nachts aus dem Haus geworfen, die im
Übermaß Alkohol getrunken hätte. Durch den Vater gab es sexuellen Missbrauch, welcher dann im Alter von 7 Jahren aufgehört
habe, nachdem die Patientin aus der Kinder-Jugend-Psychiatrie damals herausgekommen war. Schließlich habe die Mutter die Patientin
an die Bekannten weitergereicht. Die Patientin sei schließlich im Alter von 13 Jahren in ein Heim gekommen, dort sei sie l1/2
Jahre gewesen im Grunde war es für sie die beste Zeit. Dann habe ihre Mutter sie aber wieder dort rausgeholt. Die Patientin
sei dann von Fremden missbraucht worden. Die Mutter habe irgendwann "die Schnauze voll gehabt" und habe die Patientin in ein
Jugendheim in der Pfalz geschickt. Dort hätten sich aber die Leute menschenfreundlich und aufmerksam verhalten. Im Weiteren
berichtete die Gutachtenpatientin von einem Autounfall, den die Mutter unter Alkoholeinfluss verursacht habe. Ihr 11 Jahre
alter Bruder lag infolge des Unfallgeschehens damals verletzt im Graben, während die Mutter dabei saß und aufgrund ihres Alkoholkonsums
lallte. Der ältere Bruder der Patientin sei sehr schwierig und sei im Grunde genau wie der Vater ein "Arschloch".
Zum Tinnitus gab die Patientin an, dass dieser auftrete, wenn die Patientin in Stress gerate, sie habe dann Schwindel. Dieser
Tinnitus sei bisher durch das Schwerbehindertenamt nicht berücksichtigt worden. Die Patientin gab an, dass sie als Kind schon
Kontakte gepflegt habe, sie hatte auch gute Kontakte. Darüber hinaus habe sie nur wenige Kontakte gepflegt. Während der Schulzeit
seien die anderen Mitschüler nicht besonders nett zu ihr gewesen. Bzgl. ihrer Lebenssituation gab sie an, dass sie sich in
ihrem eigenen Bereich sicher fühlen würde. Sie mache den Haushalt und habe schließlich die Möglichkeit, sich die einzelnen
Abläufe in Ruhe einzuteilen. Sobald sie aber draußen sei, wäre das Leben für sie mehr als anstrengend.
Privat würde sie gern lesen, basteln und häkeln. Dies mache sie vor allem dann, wenn sie sich einigermaßen gut konzentrieren
könne. Sie habe auch eine Katze, welche ihr einfach guttue.
(Die Patientin trägt während der Untersuchung einen Stein mit sich herum, auf dem ein Engel gezeichnet ist. Sie gab an, dass
das ständige Drehen des Steins sie beruhigen würde. Sie halte sich im Grunde an diesem Stein fest. Dies habe sie mit ihrer
Psychotherapeutin ausprobiert. Das Miteinander mit ihrem Ehemann verlaufe gut. Dieser sei verständnisvoll und könne gut auf
sie eingehen.
Bzgl. der Tinnitus-Behandlung sei es schwierig. Den Hörsturz habe sie 2016 gehabt damals im Klinikaufenthalt in Bad I. Im
Grunde würden Tinnitusbeschwerden nach 3 Monaten, wenn sie nicht weggegangen seien, chronisch. Vorläufig sei kein Klinikaufenthalt
geplant.
Körperlicher Befund:54 Jahre alte Patientin, in adipösem EZ und gutem AZ. Die Patientin ist 175 cm groß. Gewicht 106 kg. Blutdruck
150/100 mm/Hg. Puls 87/min. Die Patientin sieht altersentsprechend aus. Die Haut ist blass. Die sichtbaren Schleimhäute sind
gut durchblutet. Es finden sich keine Ödeme, keine Exantheme, keine vergrößerten Lymphknoten. Kein Ikterus, keine Ruhedyspnoe.
Der Schädel ist normal konfiguriert, das Gesicht ist symmetrisch. Augen, Nasen und Ohren sind äußerlich unauffällig. Das Gebiß
ist saniert, die Zunge ist feucht und nicht belegt. Am Hals sind keine tastbare Struma o- der andere Lymphdrüsenvergrößerungen
palpabel. Die Schilddrüse ist schluckverschieblich. Carotispulse sind beide tastbar. Eine obere Einflußstauung besteht nicht.
Der Brustkorb ist symmetrisch geformt. Über beiden Lungenabschnitten findet sich ein vesikuläres Atemgeräusch. Keine RG s.
Seitengleiche Beatmung. Am Herzen finden sich keine path. Geräusche. Die Herztöne sind rein und schlagen leise. Das Abdomen
ist weich, Resistenzen sind nicht tastbar. Die Darmtätigkeit ist auskultatorisch rege. Leber und Milz sind nicht vergrößert.
Die Bruchpforten sind geschlossen. Die Wirbelsäule ist nicht klopfempfindlich. Die Extremitäten sind uneingeschränkt beweglich.
Neurologischer Befund:
Kopf: Bei normaler Konfiguration nach allen Seiten frei beweglich, keine Klopfempfindlichkeit über der Kalotte.
Hirnnervenaustrittspunkte: Frei
Fazialisinnervation: Funktionsfähig
Mimik: Normal
Augen: Die Lidspalten sind seitengleich. Augenmuskelparesen stellen sich nicht dar. Kein Nystagmus. Pupillen sind rund und
mittelweit. Seitengleiche Reaktion auf Licht und Konvergenz.
Augenhintergrund: Keine Stauungspapille, keine Papillenablassung und keine Blutung. Das Gesichtsfeld ist bei grober Prüfung
intakt.
Cornealreflexe: Seitengleich auslösbar.
Trigeminus: Motorisch und sensibel intakt.
Gehör: Beeinträchtigungen finden sich nicht.
Geruch und Geschmack: Kein Hinweis für eine Störung.
Gaumensegel: Das Gaumensegel wird beim Anlauten seitengleich gehoben.
Schluckakt: Verläuft normal.
Hypoglossus: Zunge wird gerade hervorgestreckt und ist ohne Einschränkung gut beweglich.
Obere Extremitäten: Tonus bds. normal. Die Muskulatur ist gut ausgeprägt. Keine Atrophiezeichen. Die Motilität ist nicht gestört.
Insbesondere besteht kein Tremor. Die grobe Kraft ist bds. erhalten. Die MER sind seiten- gleich schwach bis mittellebhaft
auslösbar. Der Trömner ist bds. o.B. FNV und FFV sind sicher. Eudiadochokinese.
Hautmuskelreflexe: Die Bauchhautreflexe sind seitengleich nur schwach auslösbar.Untere Extremitäten: Tonus und Trophik beider
Beine sind gut ausgeprägt. Die PSR sind seitengleich schwach bis mittellebhaft auslösbar. Die ASR sind seitengleich nur schwach
auslösbar. Das Vibrationsempfinden beträgt bimalleolär 6/8. Die path. Babinskizeichen sind bds. negativ. Zehen- und Fersengang
sind sicher durch- führbar. Seiltänzer- und Blindgang sind sicher. KHV bds. ist sicher. Lasègue ist negativ. Romberg ist negativ.
Die Prüfung der Sensibilität für Wärme-, Kälte-, Spitz- und Stumpfempfindung ist insgesamt ohne pathologischen Befund.
Psychischer Befund.
Die Gutachtenpatientin erschien in Begleitung pünktlich in geordnetem und gepflegtem Zustand zum Untersuchungstermin. Sie
war wach und allseits orientiert. Es fanden sich keine schwerwiegenden kognitiven oder mnestischen Störungen. Der formale
Gedankengang war soweit logisch und geordnet aufgebaut. Inhaltlich fanden sich keine Hlinweise auf Psychosezeichen i.S. von
Wahnerlebnissen, Ich- Erlebnissstörungen oder Sinnestäuschungen. Der Antrieb war etwas vermindert. Im Affekt war die Patientin
eher vermindert schwingungsfähig, es zeigte sich aber auch eine gewisse Labilität und verstärkte Anspannung. Das Stimmungsbild
wirkte eher depressiv. Im Verhalten war die Gutachtenpatientin soweit freundlich und kooperativ. Anamnestisch fanden sich
Hinweise auf erhebliche Dissoziationen mit unterschiedlichen Phasenlängen. Die von der Patientin geschilderten und auch im
Verlauf nachvollziehbaren Angstzustände in Sinne von Panikattacken und sozialphobischen Auslösern konnte ebenfalls gut nachvollzogen
werden.
Psychologische Testungen.
BDI: Beck sches Depressionsinventar Das BDI ist eine Mischform von Fremd- und Selbstbeurteilungsverfahren, wobei der Fragebogen
im Dialog zwischen Psychiater und Patient beantwortet werden kann.
Das Depressionsinventar von Beck besteht aus 21 depressionstypischen Symptomen, die in jeweils vier bis fünf Aussagen unterteilt
sind, welche verschieden starke Depressionsintensitäten anzeigen sollen.
Durch Addition der Punkte eines jeden Items erhält man die Gesamtpunktzahl. Die Höchstzahl ist 62. Für die Depressionsausprägungen
werden folgende Durchschnittswerte angeben: Keine Depression (10,9 Punkte), Milde Depression (18,8 Punkte), Mäßige Depression
(25,4 Punkte) und Schwere Depression (30,0 Punkte). Ergebnis:
Der Gutachtenpatient erreichte einen Summenwert von 36. Dieser Wert spricht für eine ausgeprägte depressive Symptomatik von
Krankheitswert.
State-Trait- Angstinventar (STAI)
Das State-Trait-Angstinventar besteht aus 2 voneinander unabhängigen Selbstbeschreibungsskalen. Die eine wird zur Erfassung
der Zustandsangst (State-Angst) und die andere zur Erfassung von Angst als Eigenschaft (Trait-Angst) verwendet. Beide Skalen
bestehen aus je 20 Fragestellungen.
In der Anleitung zur State-Angstskala (Form X 1; Items 1-20) wird der Proband gebeten, zu beschreiben, wie er sich jetzt,
d.h. in diesem Moment, fühlt. Die State-Angst ist definiert als ein emotionaler Zustand, der gekennzeichnet ist durch Anspannung,
Besorgtheit, Nervosität, innere Unruhe und Furcht vor zukünftigen Ereignissen sowie durch eine erhöhte Aktivität des Autonomen
Nervensystems.
Die Anleitung zur Trait-Angstskala (Form X 2; Items 21-40) fordert auf, zu beschreiben, wie man sich im Allgemeinen fühlt.
Angst als Eigenschaft bezieht sich auf relativ stabile interindividuelle Differenzen in der Neigung, Situationen als bedrohlich
zu bewerten und hierauf mit einem Anstieg der Angst zu reagieren.
Ergebnis:
Im STAI erzielt Fr. Sch. einen Rohwert von 59. Nach der Transformation auf die T-Skala (Mittelwert = 50, Standardabweichung
= +/-10) ergibt dieser Rohwert einen T-Wert von 71.
In Bezug auf die Stanineskala von 1 bis 9 bei einem durchschnittlichen Normbereich von 4 bis 6 ergibt der Rohwert einen Staninewert
von 9.
Dieses deutlich überdurchschnittliche Ergebnis spricht für eine erhöhte Ängstlichkeit bzw. Angst als Eigenschaft der Testperson.
In diesem Sinne besitzt Fr. Sch. eine überdurchschnittliche Neigung, Situationen als bedrohlich zu bewerten und hierauf mit
einem Anstieg der Zustandsangst zu reagieren.
III. Zusammenfassung und Beurteilung.
Die Gutachtenpatientin wuchs in einem Familienklima auf, was zum einen vom übermäßigen Alkoholkonsum der Mutter geprägt gewesen
war, die sich unter diesem Einfluss sehr aggressiv verhalten habe, sowohl verbal wie auch psychisch, so wurde sie erheblich
verbal entwertet. Darüber hinaus gab es bis zum 7. Lebensjahr sexuellen Missbrauch durch den Vater. Später wurde die Patientin
als Lustobjekt von ihrer Mutter an Bekannte weitergereicht bis sie schließlich im Alter von 13 Jahren in ein Heim kam, wo
sie erstmalig in ihrem Leben anderthalb ruhigere und freundliche Jahre verbrachte. Danach lebte die Patientin kurzfristig
wieder bei der Mutter, wurde darüber hinaus ein weiteres Mal sexuell von einem Fremden missbraucht und landete dann in einem
Jugendheim, wo sie aber auf ein menschenfreundliches Klima stieß. Trotz der unglücklichen Kindheits- und Jugendentwicklung
bemühte sich die Patientin um Kontakte zu anderen Kindern, wobei Mitschüler ihr gegenüber eher ausgrenzend gewesen seien.
Nach der Klasse 10 arbeitete sie als Büfett-Kraft in einem Hotel, machte von 82-84 eine Ausbildung zur Fachgehilfin im Gastgewerbe,
welche sie erfolgreich abschloss, arbeitete bis 87 als Hotelgehilfin, dann infolge von 87- 89 im Wachdienst der Kunstsammlung.
Es folgten Tätigkeiten in Discountern und bei J. Letztendlich erhalte sie aufgrund ihrer psychischen Erkrankung, einer komplexen
posttraumatischen Belastungsstörung seit 2013 Erwerbsunfähigkeitsrente.
Die Gutachtenpatientin, die seit 1986 durchgehend verheiratet ist und Mutter eines 25-jährigen Sohnes ist, klagte in der Untersuchungssituation
über Dissoziationszustände, dass sie die Orientierung für sich selbst verliere, diese Zustände 5 min aber auch tagelang anhalten
könnten. Sie habe danach häufig keine Erinnerung an solche Situationen, wisse nicht was geschehen sei.
Darüber hinaus beschrieb sie Panikgefühle in Menschenansammlungen in unterschiedlicher Ausprägung. Auch das Verlassen des
Hauses verursache bei ihr Angstzustände. Darüber hinaus habe sie Angstzustände beim Benutzen öffentlicher Verkehrsmittel und
in ungewohnten Umgebungen, vor allem aber auch, wenn Fremde, unbekannte Personen ihr zu nah kommen würden. Dies kann natürlich
auch in Geschäften an der Kasse passieren. Darüber hinaus klagte sie über Schwindelgefühle und Gleichgewichtsstörungen, einem
Z.n. Tinnitus. Auch müsse sie häufig geplante Termine mit Freunden und Bekannten aufgrund ihrer immer wieder unverhofft auftretenden
Symptome absagen. Letztendlich hätte die Symptomatik massiv 2013 begonnen, nachdem sie ihren Stiefvater versucht habe zu pflegen,
aber immer weniger Kraft dabei erlebte und letztendlich sich durch ein Ereignis getriggert fühlte, nachdem ein älterer Mann
im Jahr 2013 sich neben sie gestellt und ihr etwas ins Ohr geflüstert hatte. Hierdurch bedingt sei sie erheblich verunsichert
gewesen und zusätzlich dadurch, nachdem ihr Sohn einmal betrunken nach Hause kam, wodurch sie sich allzu sehr an das Verhalten
ihrer Mutter während ihrer Kindheit erinnert fühlte.
Die körperlich-neurologische Untersuchung ergab aus psychiatrischer Sicht keine weiteren pathologischen Befunde von Bedeutung.
Im psychischen Befund war der Antrieb war etwas vermindert. Im Affekt war die Patientin vermindert schwingungsfähig, es zeigte
sich aber auch eine Labilität und verstärkte Anspannung. Das Stimmungsbild wirkte depressiv. Anamnestisch fanden sich Hinweise
auf erhebliche Dissoziationen mit unterschiedlichen Phasenlängen. Die von der Patientin geschilderten und auch im Verlauf
nachvollziehbaren Angstzustände in Sinne von Panikattacken und sozialphobischen Auslösern konnte ebenfalls gut nachvollzogen
werden.
Die psychologische Testung mithilfe eines BDI zeigt auf das Vorliegen einer ausgeprägten depressiven Symptomatik hin.
Die psychologische Testung mithilfe des STAI zeigte bei der Patientin eine überdurchschnittliche Neigung, Situationen als
bedrohlich zu bewerten und hierauf mit einem Anstieg der Zustandsangst zu reagieren.
Diagnose. Posttraumatische Belastungsstörung mit psychischen Folgen. Dissoziative Störung. Rezidivierende depressive Störung,
mittelgradige Episode. Essstörung.
Diskussion. Die Untersuchung zeigt eine Patientin mit einer ausgeprägten Traumafolgestörung, als komplexe traumatische Belastungsstörung.
Diese Krankheit beruht auf nahezu durchweg erlebten Traumatisierungen in ihrer Kindheit und Jugend durch psychische Misshandlung
durch ihre Mutter, was zu erheblichen Entwertungserleben führte sowie auch emotionale Verwahrlosung und zusätzlich sexuellen
Missbrauch während Kindheit und Jugend, wobei die Mutter statt ihr Kind zu schützen dieses an verschiedene Männer (sexuellem
Mißbrauch) selbst vermittelt hat und die Patientin durchweg schutzlos aufwuchs. Lediglich ein kurzfristiger Aufenthalt in
einem Fleim für den Zeitraum von IV2 Jahren bot ihr eine umgrenzte Auszeit von den erlebten Misshandlungen und Missbrauch.
Für einen größeren Zeitraum konnte die Patientin ein Großteil ihrer traumatisierten Erlebnisse relativ verdrängen, jedoch
traten nach Triggerung entsprechende Symptome, die zweifelsohne als Folge der schweren Traumatisierung zu werten sind, ab
2011 zunehmend auf. Symptomatisch fanden sich und findet sich eine ängstlichdepressive Symptomatik eine schwer ausgeprägte
Dissoziationsstörung, zusätzlich atypische Essstörung.
Diese Krankheitsentwicklung und vorliegende Symptomatik wurde bisher eingehend behandelt und ist gut dokumentiert durch den
Aufenthalt in der Rheinklinik Bad I, durch die traumaspezifische Behandlung bei Frau Dr. M und zusätzlich psychiatrisch-psychotherapeutische
Behandlung bei Frau Dr. L1.
Bzgl. der aktuellen Fragestellung sind vor allem die Dissoziationsstörungen hervorzuheben, die unberechenbar und teils auch
gehäuft auftreten und maßgeblich in den normalen Tagesablauf pathologisch eingreifen, in dem die Patientin von einem auf den
anderen Moment in einen dissoziativen Zustand verfällt, indem sie sich nicht mehr kontrolliert verhalten kann. Nach Beendigung
eines solchen Zustands ist sie häufig nicht klar orientiert, muss sich erst zurechtfinden und hat keine Erinnerung über den
Zeitraum des dissoziativen Geschehens. Hinzu kommt die wechselhafte Ausprägung dieser Zustände, auch was den Zeitablauf betrifft,
in dem die Patientin einen solchen Zustand entweder nur relativ kurz, wenige Minuten oder Stunden hat oder bis zu mehreren
Tagen anhaltend. Das größere Problem ist die Unberechenbarkeit dieser Zustände und der Länge zeitlich gesehen. Hieraus ergibt
sich eindeutig die Notwendigkeit einer Begleitung, die die durch die Dissoziation entstandenen Defizite auffangen kann und
somit für eine Sicherheit jeweils in diesen Situationen sorgen kann. Vor dem Hintergrund dieses Krankheitsbildes ist somit
eine das Merkzeichen B uneingeschränkt gerechtfertigt.
Es wurde von Seiten der Beklagten darauf hingewiesen, dass es Phasen gebe, in denen die Patientin doch in der Lage sei, sich
entsprechend alleine außer Haus fortzubewegen. Das ist richtig, die Unberechenbarkeit des Auftretens solcher dissoziativen
Zustände ist in diesem Fall aber der entscheidende Faktor bei der Frage nach dem Merkzeichen B.
Bzgl. des Merkzeichens G besteht jedoch keine entsprechende Gehbehinderung.
Bzgl. der Antwort muss im Weiteren differenziert werden, dass die Orientierungsstörung im Rahmen dissoziativer Zustände erheblich
leidet, leiden kann und die Patientin in solchen Situationen auch nicht unbedingt den realistischen Kontakt zu dem direkten
Geschehen um sich herum hat. Das unregelmäßige Auftreten solcher Dissoziationszustände, siehe unter Abschnitt Diskussion,
ist der maßgebliche beeinträchtigende Anteil im Alltag. Diese Unberechenbarkeit macht die Begleitung notwendig um größere
Not von der Patientin fernzuhalten, da Gefahr für sich selbst als auch für den öffentlichen Straßenverkehr etc. hieraus bestehen
kann."
Die Klägerin hat im Rahmen der mündlichen Verhandlung zur Begründung ihrer Klage ergänzend ausgeführt, dass sie fast täglich
unter dissoziativen Anfällen leide. Diese dauerten zum Teil Minuten, zum Teil auch eine halbe Stunde und maximal bis zu 2-3
Tagen. Sie habe einmal versucht, mit dem Bus zu einer Freundin zu gelangen, und habe dies jedoch nicht geschafft. Sie sei,
obwohl sie wisse, wo die Freundin wohne, zwei Haltestellen zu früh ausgestiegen und habe dann dort von der Freundin abgeholt
werden müssen. Sie fahre auch nicht mehr Auto, seit sie nach einer Therapiestunde einen Unfall verursacht habe, bei dem es
Gott sei Dank nur zu Blechschaden gekommen sei. Einmal sei sie fast vor eine Straßenbahn gelaufen, als ein Trigger sie "erwischt"
habe. Sie laufe dann einfach weg. Im Rahmen dieser Anfälle dissoziiere sie, d. h. sie wisse dann nicht mehr, wer und wo sie
sei. Sie habe Angstzustände beim Verlassen des Hauses und wenn ihr Menschen zu nahe kommen. Sie brauche ständig Begleitung,
um sich sicher zu fühlen. Sie könne überhaupt nicht alleine Bahn fahren.
Die Beklagte hat vorgebracht, dass es sich bei den dissoziativen Zuständen der Klägerin nur um vorübergehende Zustände von
begrenzter Zeitdauer handele, und ihr Krankheitsbild in keiner Weise mit Einschränkungen der geistigen Leistungsfähigkeit
einhergehe. Ein besonderer Einzelfall gemäß Teil D Nummer 2 Buchst. f der Versorgungsmedizinverordnung (VersMedV), bei dem auch bei einem GdB unter 80 das Merkzeichen G infrage komme, sei daher nicht zu prüfen. Auch könne keine Gleichsetzung
der funktionellen Auswirkungen der dissoziativen Zustände mit hirnorganischen Anfällen erfolgen gemäß Buchst. e, da eine Gefahr
von Stürzen und Selbstverletzungen, wie beim epileptischen Anfall, nicht vorliege. Selbst wenn die Häufigkeit der dissoziativen
Zustände der Anzahl der epileptischen Anfälle entsprechen würde, wäre nur ein deutlich geringerer GdB anzunehmen wegen erheblich
weniger schwerwiegender Auswirkungen als beim epileptischen Anfall. So sei für die psychische Erkrankung bei der Klägerin
auch nur ein GdB von 50 angenommen worden. Ein GdB von mindestens 70, der auch bei analoger Anwendung gemäß Buchst e gefordert
werden müsse, liege hier nicht vor.
Das SG hat der Klage mit Urteil vom 18.12.2019 als begründet stattgegeben und dazu ausgeführt:
"Die zulässige Klage hat Erfolg.
Gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Dauerverwaltungsakt für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim
Erlass eines solchen Verwaltungsaktes vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Eine solche liegt hier vor.
Die Klägerin hat gegen die Beklagte Anspruch auf Feststellung der Merkzeichen G und B für die Zeit ab Antragstellung.
Gemäß §
152 Abs.
1 Satz 1
SGB IX stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden auf Antrag des behinderten Menschen das Vorliegen einer Behinderung und den Grad der Behinderung fest.
Gemäß §
2 Abs.
1 Satz 1
SGB IX sind Menschen mit Behinderungen Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie
in Wechselwirkungen mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft
mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Eine Beeinträchtigung nach Satz 1 liegt nach Satz 2 vor,
wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen. Nach §
152 Abs.
1 Satz 5
SGB IX sind die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft als Grad der Behinderung nach 10er Graden abgestuft festzustellen.
Wenn mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vorliegen, wird nach §
152 Abs.
3 Satz 1
SGB IX der Grad der Behinderung nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen
Beziehungen festgestellt. Gemäß §
151 Abs.
5 SGB IX gelten, solange noch keine Rechtsverordnung nach §
153 Abs.
2 SGB IX erlassen worden ist, weiterhin die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 BVG und der aufgrund des § 30 Abs. 16 BVG erlassenen Rechtsverordnung entsprechend.
Vorliegend sind die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens G erfüllt. Gemäß Teil D Nummer 1 Buchst. b Satz 1
der Versorgungsmedizinverordnung (VersMedV) ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens,
auch durch innere Leiden, oder infolge von Anfällen oder Störungen der Orientierungsfähigkeit nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten
oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß
zurückgelegt werden. Für die Bewegungseinschränkung ist nicht die Dauerhaftigkeit entscheidend (vgl. BSG, Urteil vom 11.08.2015, B 9 SB 1/14 R m. w.N.) Gemäß Teil D Nummer 1 Buchst. b Satz 3 VersMedV sind bei geistig behinderten Menschen - der zuvor aufgeführten Gruppe der Seh- und Hörbehinderten - entsprechende Störungen
der Orientierungsfähigkeit vorauszusetzen, wenn die behinderten Menschen sich im Straßenverkehr auf Wegen, die sie nicht täglich
benutzen, nur schwer zurechtfinden können. Nach S. 4 ist unter diesen Umständen eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit
bei einer geistigen Behinderung mit einem GdB von 100 immer und mit einem GdB von 80 oder 90 in den meisten Fällen zu bejahen.
Nach S. 5 kommt bei einem GdB unter 80 eine solche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit nur in besonders gelagerten ein
Einzelfällen in Betracht.
Selbst wenn man bei Orientierungsstörungen infolge von geistiger Behinderung grundsätzlich nur ab einem Behinderungsgrad von
wenigstens 70 eine Merkzeichenrelevanz bejaht (vergleiche BSG, Urteil vom 11.08.2015, a. a. O.), können psychische Störungen, die sich speziell auf das Gehvermögens auswirken, zu einer
erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr führen, auch wenn sie Anfallsleiden oder Orientierungsstörungen
nicht gleichzusetzen sind (vergleiche BSG, Urteil vom 11.08.2015, a. a. O.). Anspruch auf den Nachteilsausgleich G hat über die in den Regelbeispielen genannten Fallgruppen
hinaus auch der schwerbehinderte Mensch, der nach Prüfung des einzelnen Falls aufgrund anderer Erkrankungen mit gleich schweren
Auswirkungen auf die Gehfunktion und die zumutbare Wegstrecke dem beispielhaft aufgeführten Personenkreis gleichzustellen
ist, da Teil D Nr. 1 VersMedV keine abschließende Listung der in Betracht kommenden Behinderungen aus dem Formenkreis einzelner medizinischer Fachrichtungen
enthält, sondern etwa auch psychische Behinderungen erfasst (vergleiche BSG, a. a. O.). Es handelt sich insoweit lediglich um Regelbeispiele, und der umfassende Behindertenbegriff des §
2 Absatz
1 S. 1
SGB IX gebietet im Lichte des verfassungsrechtlichen Diskriminierungsverbotes die Einbeziehung aller körperlichen, geistigen und
seelischen Beeinträchtigungen, so dass die erwähnten Behinderungen den nicht erwähnten Behinderungen als Vergleichsmaßstab
dienen (vgl. BSG, a. a. O.). Derzeit sind die Voraussetzungen des Merkzeichens G auch nicht insoweit eingeschränkt, als für Fälle psychischer
Gehbehinderungen ein Einzel-GdB von 70 verlangt werden müsste (vgl. BSG, a. a. O.).
Es kommt also allein darauf an, ob die psychische Erkrankung der Klägerin gleich schwere Auswirkungen auf das Gehvermögen
und die zumutbare Wegstrecke hat wie die in Teil D Nummer 1 Buchst. d bis f beispielhaft aufgeführten Personenkreise.
Dabei kommt es - wie bereits ausgeführt - entgegen der Rechtsauffassung der Beklagten darauf, ob eine Bewegungseinschränkung
dauerhaft vorliegt, nicht an.
Für die Klägerin ist hinsichtlich der Psyche ein Grad der Behinderung von 50 festgestellt worden. Die aus der psychischen
Erkrankung der Klägerin resultierenden Beeinträchtigungen für das Gehvermögen sind jedoch in ihren Auswirkungen vergleichbar
mit hirnorganischen Anfällen, die in Teil D Nummer 1 VersMedV formuliert und berücksichtigt sind. Zwar leidet die Klägerin nicht unter hirnorganischen Anfällen im engeren Sinne. Vergleichbar
hirnorganischen Anfällen liegt bei der Klägerin jedoch ein Krankheitsgeschehen vor, das sie durch unvorhersehbare Trigger
von einer Minute auf die andere in die Situation versetzt, dass sie nicht mehr Herr ihres Handelns ist und insbesondere ungesteuert
wegläuft. Die damit insbesondere für sie selbst eintretenden Gefahren sind mit den im Rahmen eines hirnorganischen Anfalls
auftretenden Gefahren zwar nicht von den medizinischen Vorgängen, aber von den tatsächlichen Auswirkungen auf die Bewertung
des Gehvermögens nach Auffassung der Kammer vergleichbar.
Bei hirnorganischen Anfällen gemäß Teil D Nummer 2 Buchst. d VersMedV ist die Beurteilung von der Art und Häufigkeit der Anfälle sowie von der Tageszeit des Auftretens abhängig. Im Allgemeinen
ist auf eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit erst ab einer mittleren Anfallshäufigkeit mit einem GdB von
wenigstens 70 zu schließen, wenn die Anfälle überwiegend am Tage auftreten. Diese Voraussetzungen liegen hier im Rahmen der
Analogbewertung vor. Die Anfälle, die die Klägerin glaubhaft schildert, treten überwiegend am Tage auf. Epileptische Anfälle,
die in mittlerer Häufigkeit auftreten, d. h. generalisierte große und complex-fokale Anfälle mit Pausen von Wochen und kleine
und einfache fokale Anfälle mit Pausen von Tagen, werden mit einem Einzel-GdB von 60-80 bewertet gemäß Teil B Nummer 3.2.
Von solchen mindestens mittlerer Häufigkeit ist bei der Klägerin auszugehen, eher sogar an der Grenze zu häufigen Anfällen,
die mit einem GdB von 90-100 bewertet werden.
Dies entspricht im Ergebnis auch den Ausführungen des Sachverständigen. Die Ausführungen des Sachverständigen lassen nur den
Schluss zu, dass die Klägerin im Hinblick auf die bei ihr vorliegende Dissoziationsstörung in ihrer Gehfähigkeit gestört ist.
Der Gutachter stellt in seiner Zusammenfassung fest, dass vor allem die Dissoziationsstörungen, die unberechenbar und teils
auch gehäuft auftreten würden, maßgeblich in den normalen Tagesablauf eingreifen, und die Klägerin von einem auf den anderen
Moment in einen dissoziativen Zustand verfalle, in dem sie sich nicht mehr kontrolliert verhalten könne. Nach Beendigung der
jeweiligen Anfälle sei sie oft nicht klar orientiert. Der Sachverständige bejaht dementsprechend auch eine sich daraus ergebende
eindeutige Notwendigkeit einer Begleitung und bejaht die Voraussetzung für das Merkzeichen B uneingeschränkt. Er verneint
zwar eine entsprechende Gehbehinderung bezüglich des Merkzeichens G. In dem Zusammenhang ist jedoch anzumerken, dass sich
die seinerzeit erlassene Beweisanordnung im Hinblick auf die Zuerkennung des Merkzeichens G nur auf die im Regelfall bei Bejahung
des Merkzeichens G vorliegenden Voraussetzungen orthopädischer oder internistischer Leiden beschränkt. Fragestellungen zu
den weiteren regelbeispielhaft genannten Voraussetzungen, wie Störungen der Orientierungsfähigkeit oder infolge geistiger
Behinderung oder der Frage etwaiger anderer ebenso sich auf das Gehvermögen auswirkender Funktionsstörungen waren in der Beweisanordnung
nicht enthalten.
Infolge der bei der Klägerin vorliegenden Dissoziationsstörung und dem Umstand, dass es jederzeit durch entsprechende Trigger
bei der Klägerin zu nicht vorhersehbaren und gefährlichen Reaktionen unter Verkennung vorliegender Gefährdungen kommen kann,
wie z. B. bei plötzlichen Fluchttendenzen unter anderem auch mit unbedachtem Überqueren der Fahrbahn, war daher das Merkzeichen
G zu bejahen (vgl. ähnlich und ebenfalls das Merkzeichen G bejahend: Landessozialgericht - LSG - Berlin-Brandenburg, Urteil
vom 27.11.2015, L 13 SB 82).
Die Klägerin hat auch Anspruch auf Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des Merkzeichens B. Nach § 229 Abs. 2 Satz 1
SGB IX sind zur Mitnahme einer Begleitperson schwerbehinderte Menschen berechtigt, die bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel
infolge ihrer Behinderung regelmäßig auf Hilfe angewiesen sind. Dies ist bei der Klägerin der Fall. Da die Voraussetzungen
für die Zuerkennung des Merkzeichens G nach Auffassung der Kammer vorliegen, ist damit auch die Voraussetzung für die Zuerkennung
des Merkzeichens B gemäß Teil D Nummer 2 Buchst. c zu bejahen. Denn gemäß Teil D Nummer 2 Buchst. c ist die Berechtigung für
eine ständige Begleitung unter anderem anzunehmen bei geistig behinderten Menschen und Anfallskranken, bei denen die Annahme
einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr gerechtfertigt ist. Dies gilt auch bei der hier
vorgenommenen Analogbewertung und entspricht im Ergebnis - wie bereits im Zusammenhang mit dem Merkzeichen G ausgeführt -
den Feststellungen des Sachverständigen."
Dagegen richtet sich die rechtzeitige Berufung der Beklagten, die ihr erstinstanzliches Vorbringen in vollem Umfang aufrecht
hält.
Das erkennende Gericht hat die Klägerin am 03.07.2020 persönlich angehört. Die Klägerin hat Folgendes vorgetragen:
"Mir ist die Entscheidung über die Merkzeichen wichtig, weil ich nicht mehr Autofahren kann. Ich habe zwar den Führerschein
noch, ich fahre aber nicht mehr Auto. Ich hatte einmal einen Unfall wo das Auto dann hinterher Schrott war. Ich fahre seit
2 Jahren nicht mehr Auto. Unser Auto ist auf meinen Mann zugelassen. Mein Mann fährt mich auch zu Therapien oder sonst überall
hin, je nachdem wie es möglich ist."
Auf Befragen des Berichterstatters, wer als Zeuge für Ereignisse mit Dissoziieren oder Bewusstlosigkeit bzw. beinahe-Bewusstlosigkeit
in Frage komme, hat die Klägerin erklärt:
"Sicherlich mein Mann. Ferner mein Sohn, ferner eine andere Freundin, die des Öfteren dabei war. Es handelt sich um Frau M1
O, wohnhaft in E, Straße und Hausnummer reiche ich nach. "Es ist auch bei Ärzten und in Kliniken passiert. Ich habe die Unterlagen
ja alle eingereicht."
Auf Fragen des Berichterstatters wie oft derartige Ereignisse vorkämen, hat die Klägerin erklärt:
"Manchmal ist es selten, manchmal auch oft. Manchmal passiert es auch zuhause, so dass ich dort alles Mögliche kaputt mache
und hinterher nicht mehr weiß was ich getan habe. Ich könnte auf keinen Fall alleine mit dem Bus, z.B. wie heute zum Gericht
kommen."
Auf Nachfrage des Berichterstatters was die Klägerin mit "oft" im Gegensatz zu "selten" meine, hat die Klägerin erklärt:
"Es ist schon mehrmals die Woche passiert."
Auf Nachfrage des Berichterstatters wie derartige Ereignisse aussähen, hat die Klägerin erklärt:
"Es ist z.B. so gewesen, als ich zur Apotheke ging meine Beine versagten und ich nicht mehr Laufen konnte.Es ist so, wenn
mich etwas anstößt, wenn mir jemand zu nahe komme oder ich mich bedrängt fühle, dann reagiert mein Körper so. Ich erstarre
dann entweder oder laufe weg. Die Dauer ist unterschiedlich. Manchmal 2 Minuten manchmal auch 5 Minuten als es bei der Apotheke
passiert ist, ist der Apotheker herausgekommen und hat mir geholfen. Er kennt den Medikamentencocktail den ich nehme. Wenn
ich weglaufe, dann ist es so, dass ich kopflos meist nach Hause laufe, z.B. war ich im Geschäft und habe dann beim Bezahlen
erlebt, dass mir jemand zu nahe kam, habe dann an der Kasse alles dagelassen, einschließlich der Handtasche und bin nach Hause
gelaufen."
Die Nachfrage des Berichterstatters, ob die Klägerin bei solchen Ereignissen bewusstlos werde, hat die Klägerin verneinend
beantwortet.
Auf Nachfrage des Berichterstatters, ob die Klägerin dabei zu Boden falle, hat die Klägerin erklärt:
"Das ist vielleicht ein- oder zweimal passiert."
Auf Nachfrage, ob sie sich verletzt habe und in Behandlung gewesen sei als dies geschehen sei, hat die Klägerin erklärt:
"Verletzt habe ich mich schon, in Behandlung war ich nicht. Letztens bin ich gefallen. Ich habe hier zwei blaue Flecken."
Die Klägerin hat dabei ihren Unterarm gezeigt, wobei für den Berichterstatter keine blauen Flecken erkennbar waren.
Auf Nachfrage des Berichterstatters wie es zu solchen Ereignissen komme, hat die Klägerin nochmals erklärt:
"Das hängt mit einem äußeren Reiz zusammen, wenn mir z.B. jemand zu nahe kommt. Das hängt wiederum mit meiner Kindheit zusammen."
Auf Nachfrage des Berichterstatters ob es zu den von der Klägerin geschilderten Ereignissen in der Kindheit behördliche oder
strafrechtliche Feststellungen gebe, hat die Klägerin erklärt:
"Nein, das ist nicht der Fall."
Auf weitere Nachfrage, wie die Behandlung der Klägerin aussehe, hat die Klägerin erklärt:
"Ich bin weiterhin in therapeutischer Behandlung. Eigentlich müsste es alle 14 Tage sein. Ich habe aber nicht immer jemanden,
der mich fahren kann. So dass es manchmal auch nur alle 3 Wochen stattfindet. Es handelt sich um eine tiefenpsychologische
Therapie."
Nach Hinweis des Berichterstatters, dass nach den bisherigen Schilderungen der Klägerin keine spezifischen straßenverkehrsrechtlichen
Gefahren ersichtlich seien, hat die Klägerin erklärt:
"Ich bin auch schon einmal vor die Straßenbahn gelaufen. Da hat mich Gott sei Dank jemand zurückgezogen. Den betreffenden
Menschen kann ich allerdings nicht als Zeugen benennen. Es wurde auch kein Unfallprotokoll aufgenommen."
Die Beteiligten sind vom Berichterstatter darauf hingewiesen worden, dass das erkennende Gericht angesichts bekannt gewordener
Umstände über systematische Vortäuschung insbesondere psychischer Krankheitsbeschwerden zu Zwecken der Erlangung von Sozialleistungen
die Anforderungen an die Überprüfung von medizinischen Gutachten deutlich verschärft hat, um einem sonst möglichen Sozialbetrug
einen wirksamen Riegel vorzuschieben,
vgl. Frigelj in: DIE WELT vom 20.4.2017, abrufbar unter:
https://www.welt.de
wobei dies insbesondere das Erfordernis an die Behörden und erstinstanzlichen Gerichte beinhalte, die nicht-juristischen entscheidungserheblichen
Tatsachen vor der Beauftragung eines Gutachtens selbst zu ermitteln und ferner das Erfordernis an die Gutachten, die darin
getroffenen Aussagen durch objektivierte Befunde zu belegen.
Die Beteiligten beantragen übereinstimmend,
das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 18.12.2019 aufzuheben und die Sache zur erneuten Beweiserhebung und Entscheidung
an das Sozialgericht Düsseldorf zurückzuverweisen.
Beide Beteiligten haben einer Entscheidung durch den Berichterstatter als Einzelrichter zugestimmt. Im Anschluss an die Verkündung
des Urteils haben beide Beteiligte auf Rechtsmittel verzichtet. Im Übrigen wird auf die Gerichts- und Verwaltungsakten verwiesen.
Das SG konnte hier angesichts der in Frage stehenden Beweislage nicht ohne weitere Ermittlungen über den geltend gemachten Anspruch
entscheiden. Auch genügt die Beweiswürdigung des SG nicht den grundlegenden rechtlichen Anforderungen.
1. Der rechtliche Ausgangspunkt des SG ist dabei allerdings zutreffend:
Gemäß Teil D Nummer 1 Buchst. b Satz 1 der Versorgungsmedizinverordnung (VersMedV) ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens,
auch durch innere Leiden, oder infolge von Anfällen oder Störungen der Orientierungsfähigkeit nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten
oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß
zurückgelegt werden. Für die Bewegungseinschränkung ist nicht die Dauerhaftigkeit entscheidend (vgl. BSG, Urteil vom 11.08.2015, B 9 SB 1/14 R m. w.N.) Gemäß Teil D Nummer 1 Buchst. f Satz 3 VersMedV sind bei geistig behinderten Menschen - der zuvor aufgeführten Gruppe der Seh- und Hörbehinderten - entsprechende Störungen
der Orientierungsfähigkeit vorauszusetzen, wenn die behinderten Menschen sich im Straßenverkehr auf Wegen, die sie nicht täglich
benutzen, nur schwer zurechtfinden können. Nach S. 4 ist unter diesen Umständen eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit
bei einer geistigen Behinderung mit einem GdB von 100 immer und mit einem GdB von 80 oder 90 in den meisten Fällen zu bejahen.
Nach S. 5 kommt bei einem GdB unter 80 eine solche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit nur in besonders gelagerten ein
Einzelfällen in Betracht.
Es kommt also allein darauf an, ob eine psychische Erkrankung der Klägerin gleich schwere Auswirkungen auf das Gehvermögen
und die zumutbare Wegstrecke hat wie die in Teil D Nummer 1 Buchst. d bis f der VersMedV beispielhaft aufgeführten Personenkreise.
Bei hirnorganischen Anfällen gemäß Teil D Nummer 1 Buchst. d VersMedV ist die Beurteilung von der Art und Häufigkeit der Anfälle sowie von der Tageszeit des Auftretens abhängig. Im Allgemeinen
ist auf eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit erst ab einer mittleren Anfallshäufigkeit mit einem GdB von
wenigstens 70 zu schließen, wenn die Anfälle überwiegend am Tage auftreten.
Gemäß Teil D Nummer 2 Buchst. b ist die Berechtigung für eine ständige Begleitung unter anderem anzunehmen bei geistig behinderten
Menschen und Anfallskranken, bei denen die Annahme einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr
gerechtfertigt ist.
2. Die Beweiserhebung und Beweiswürdigung des SG weisen entscheidungserhebliche Mängel auf, die den gesetzlichen Anforderungen an die Sicherheit medizinischer Feststellungen
nicht genügen, die vor dem aktuellen Hintergrund systematischer Täuschungsskandale nochmals hervorzuheben sind:
Für die Beweisaufnahme ist zwischen Anknüpfungstatsachen, also Umständen, die nicht in das Fachgebiet des Sachverständigenbeweises
fallen, und den Tatsachen zu unterscheiden, die ein Sachverständiger ermitteln soll. Die Anknüpfungstatsachen muss das Gericht
vorgeben. Das betrifft insbesondere die Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen oder Beteiligtenvorbringen.
Bei der wissenschaftlichen Feststellung der in sein Fachgebiet fallenden Tatsachen durch medizinische Sachverständige geht
es um objektive Messdaten. Subjektive Beschwerdeangaben reichen für einen Vollbeweis nicht aus. Bei der Überprüfung subjektiver
Beschwerde-Angaben ist - schon aus Rechtsgründen - immer von der sog. "Nullhypothese" auszugehen. Das heißt alle subjektiven
Angaben einer vor Gericht gehörten Auskunftsperson sind solange als unwahr anzusehen, bis ein denkgesetzlich zwingender Nachweis
für ihre Richtigkeit vorliegt. Inhaltliche Beschwerdeschilderungen eines Menschen beweisen daher für sich genommen lediglich,
dass der betreffende sie (aus-) sprechen kann. Es geht für die Gutachten vielmehr um die wissenschaftliche Prüfung des geschilderten
Beschwerdeinhalts.
Dazu hat der Sachverständige dazu Stellung zu nehmen, ob und aufgrund welcher objektivierbaren Fakten die von dem betreffenden
Menschen geklagten Funktionsbeeinträchtigungen zur subjektiven Gewissheit des Gutachters im geklagten Umfang auch tatsächlich
bestehen. Diese Abklärung erfordert eine eingehende Konsistenzprüfung durch kritische Zusammenschau von Exploration, Untersuchungsbefunden,
Verhaltensbeobachtung und Aktenlage. Niemals genügt allein die Beschwerdeschilderung eines Probanden, um hieraus eine Diagnose
abzuleiten. Entscheidend ist nur der vom Sachverständigen erhobene wissenschaftlich messbare Befund.
Bei der Beurteilung sind folgende zwei Leitfragen zur Berücksichtigung zugrunde zu legen:
1. Sind die beklagten Erkrankungen und Funktionsstörungen ohne vernünftige Zweifel nachweisbar (Konsistenzprüfung) und 2.
sind die Schilderungen von Krankheiten und Funktionsstörungen auch alternativ erklärbar (Alternativprüfung).
Bei der Alternativprüfung muss dazu Stellung genommen werden, ob eine willentliche Steuerung der geklagten Beschwerden und
Beeinträchtigung in Betracht kommt. Hierbei geht es um (Selbst-) Täuschungsphänomene, Aggravation, Simulation und / oder Verdeutlichungstendenzen.
Simulation ist das bewusste und ausschließliche Vortäuschen einer krankhaften Störung zu bestimmten, klar erkennbaren Zwecken.
Aggravation ist die bewusste, verschlimmernde bzw. überhöhende Darstellung einer krankhaften Störung zu erkennbaren Zwecken.
Dissimulation beschreibt in der Medizin das absichtliche Herunterspielen bzw. das Verbergen von Krankheitsanzeichen um für
gesund gehalten zu werden.
Verdeutlichungstendenzen sind dem gegenüber legitime Bemühungen einer Probandin / eines Probanden, der Gutachterin oder dem
Gutachter das Krankheitsempfinden klarzumachen.
Aspekte, die bei diesem Prozess in die Abwägung einbezogen werden müssen, sind insbesondere:
1. Es besteht eine Diskrepanz zwischen dem Verhalten des Betroffenen in der Untersuchung und subjektiver Beschwerdeschilderung.
2. Die subjektiv geschilderte Intensität der Beschwerden steht im Missverhältnis zur Vagheit der Schilderung der einzelnen
Symptome. 3. Angaben zum Krankheitsverlauf sind wenig oder gar nicht präzisierbar. 4. Das Ausmaß der geschilderten Beschwerden
steht nicht in Übereinstimmung mit einer entsprechenden Inanspruchnahme therapeutischer Hilfe. 5. Ungeachtet der Angabe schwerer
subjektiver Beeinträchtigungen erweist sich die Alltagsbewältigung des Betroffenen als weitgehend intakt. 6. Die Angaben des
Probanden weichen erheblich von fremdanamnestischen Informationen und der Aktenlage ab.
Gerade die Posttraumatische Belastungsstörung ist eine besonders täuschungsanfällige Diagnose. Sie muss daher vor Gericht
besonders kritisch überprüft werden. Auch die Weltgesundheitsorganisation geht mittlerweile von einer Hyperinflation des Traumabegriffs
aus, weshalb die Diagnosekriterien in der ICD 11 sehr viel strenger gefasst werden, als das bislang der Fall war (siehe hierzu
Maercker: Traumafolgestörungen, 5. Auflage, 2019, Seite 5). Das beruht auch darauf, dass fingierte Traumafolgestörungen in
der Begutachtung seit 2002 immer mehr Bedeutung erhalten haben und sich auch die aktuellere psychotraumatologische Fachliteratur
mit diesem Phänomen beschäftigt. So schreiben Sack et al. in "Komplexe Traumafolgestörungen", Seite 120: "Der Opferstatus
des Traumatisierten verspricht Anerkennung, Zuwendung und gelegentlich sogar materielle Entschädigung." Ausdrücklich weisen
die Autoren darauf hin, dass Hinweise, die eine vorgetäuschte posttraumatische Belastungsstörung vermuten lassen, u.a. eine
besondere Schwere und Dramatik der geschilderten Symptomatik umfassen sowie vage und unspezifische Angaben und Antworten,
inkonsistente Beschwerdeschilderungen, widersprüchliche Veränderungen und Symptomwechsel, fehlende Schuldgefühle oder Selbstanklagen
sowie die Weigerung des Patienten, Vorbefunde einzuholen zu lassen. Dabei kann eine fingierte Traumafolgestörung - wie einer
der bekanntesten Traumaforscher, Prof Sachsse, in "Trauma und Justiz", 2007 dargestellt hat - für den Betroffenen ein "sinnstiftendes
Narrativ" sein, mit dem soziale oder persönliche Problemlagen vermeintlich gelöst werden können (vgl. ferner: Frommberger,
Angenendt, Berger: Die posttraumatische Belastungsstörung — eine diagnostische und therapeutische Herausforderung, Deutsches
Ärzteblatt 2014 Seiten 59 ff und Dreßling, Meyer-Lindenberg: Simulation bei posttraumantischer Belastungsstörung, Versicherungsmedizin
2008, Seite 8 ff).
Gefordert ist im Ergebnis immer eine eingehende sozialmedizinische Epikrise: Sie ist eine zusammenfassende und kritische Interpretation
der Krankengeschichte und der veranlassten Therapie. Diese sozialmedizinische Epikrise muss alle wichtigen Angaben zur Vorgeschichte
und Beschwerdeschilderung, zum Verlauf, zu den erhobenen Befunden und zu den endgültig festgestellten Krankheiten bzw. Diagnosen
sowie zu den möglichen Differentialdiagnosen, zur empfohlenen Therapie und/oder Medikation, zur Heilung oder Linderung der
Krankheit sowie auch zur Prognose enthalten. Sozialmedizinisch muss der Mensch, der aus Leib und Seele besteht, dabei unter
Mitberücksichtigung der Gesamtpersönlichkeit in Längsschnittbetrachtung von Biographie und Lebenssituation betrachtet werden.
Zur wissenschaftlichen Redlichkeit jedes Gutachtens gehört aber auch, die jeweiligen Messgenauigkeiten der verwandten Messmethoden
sowie ihren jeweiligen Messfehler offenzulegen. Das bedeutet, dass zu jeder angewandten Methode anhand der dazu wissenschaftlich
veröffentlichten Daten anzugeben ist, in wie vielen Fällen falsch positive bzw. falsch negative Ergebnisse gemessen werden.
Bei allen Begutachtungen, bei denen es um eine retrospektive Analyse geht, hat der Sachverständige zu bedenken, dass nicht
der Befund zum Untersuchungszeitpunkt ausschlaggebend ist. Vielmehr besteht seine Aufgabe darin, aufgrund aller erreichbaren
Informationen retrospektiv eine möglichst sichere Diagnose für den zu beurteilenden Zeitraum zu stellen. Bei allen Begutachtungen,
die prognostische Überlegungen beinhalten, muss anhand der zum Untersuchungszeitpunkt erhobenen Befunde umgekehrt eine möglichst
sichere Prognose für die Zukunft erstellt werden.
Bei der abschließenden sozialmedizinischen Beantwortung der Beweisfragen ist ferner auf die Frage einzugehen, ob alternativ
zu medizinischen Ursachen auch andere, z. B. im sozialen Bereich oder in der Beziehungswelt liegende Ursachen für die geklagten
Beschwerden in Frage kommen. Darüber hinaus ist abzuklären, ob Erkrankungen vorliegen, welche noch behandelbar sind und ggf.
durch welche Therapien und / oder therapeutischen Maßnahmen und / oder Hilfsmittel sowie ob bzw. mit welchem genauen Ergebnis.
D. h. es ist immer auch zu prüfen, ob die von der gesetzlichen Krankenversicherung für die betroffenen Leiden vorgesehenen
Behandlungsmöglichkeiten und/oder Hilfsmittel innerhalb von sechs Monaten bei motivierter Mitwirkung eines betroffenen Patienten
zu einer Heilung oder Linderung des betreffenden Leidens führen können. Für den Fall, dass sich eine solche Heilung oder Linderung
allgemein nicht sicher ausschließen lässt, liegt - unabhängig von der Motivation des konkret untersuchten Klägers - ein sogenanntes
Behandlungsleiden vor, das für die Feststellung eines sozialmedizinischen Dauerzustandes grundsätzlich außer Betracht bleiben
muss. Nur dann also, wenn mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststeht, dass der Zustand des Betroffenen auch
bei optimaler Therapie unveränderbar ist, darf er als Dauerzustand bewertet werden.
Es ist schließlich darzulegen, ob bzw. inwieweit die getroffenen Aussagen auch dann mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit
zutreffen, falls den Eigenangaben des Betroffenen nicht gefolgt werden kann. Denn auch insoweit ist die Beurteilung der Glaubwürdigkeit
allein Sache des erkennenden Gerichts. Dem gegenüber ist es Aufgabe von sachverständigen Gutachtern, sich allein auf evidenzbasierte,
d. h. wissenschaftliche vor Gericht anerkannte Messergebnisse zu stützen.
Sofern keine sichere Diagnose gestellt und/oder die Beweisfragen des Gerichts nicht sicher beantwortet werden können, ist
darzulegen, ob sich die gestellte Beweisfrage des Gerichts anhand ergänzender weiterreichender Untersuchungsverfahren mit
an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit beantworten lässt, z. B. durch stationäre Beobachtung. Sollte dies nach dem heutigen
Stand der medizinischen Erkenntnisse schlechthin unmöglich sein, so ist auch dies unter der genauen Angabe der Gründe darzulegen.
Diesen grundlegenden Anforderungen an ein Sachverständigengutachten genügt das neurologisch-psychiatrische Gutachten von Dr.
L nicht. Schon bezüglich der Voraussetzungen der von ihm gestellten PTBS-Diagnose fehlt es an einer juristisch belastbaren
Feststellung der Grundvoraussetzungen, d.h. einer Gewalttat, die geeignet ist, eine PTBS hervorzurufen (sog. A-Kriterium).
Die von der Klägerin angegebene Vergewaltigung und der sexuelle Missbrauch kommen nämlich grundsätzlich als Ursache einer
PTBS in Betracht. Das SG hat diese Umstände jedoch nicht als Anknüpfungstatsache für die weitere Beweiserhebung bindend vorgegeben. Nur dann aber
hätte Dr. L diese Schilderung überhaupt berücksichtigen dürfen. Er selber konnte und durfte hierzu als Arzt gar nichts feststellen,
weil es um einen nicht-medizinischen Sachverhalt geht. Dr. L hat auch nicht - was medizinisch und rechtlich zulässig für Fragestellungen
des Schwerbhindertenrechts wäre, bei denen es wie hier allein um die finale Feststellung von kranheitsbedingten Teilhabeeinschränkungen
geht - im Sinne einer Wahlfeststellung offen gelassen, auf welcher Diagnose die von ihm angenommenen Krankheitseinschränkungen
beruhen (wobei freilich alle in Betracht kommenden nicht-medizinischen Umstände hierfür sicher auszuschließen sein müssten).
Vielmehr hat er sich auf die Diagnose einer PTBS festgelegt, und das SG ist ihm hierin gefolgt. Diese Diagnose aber setzt definitionsgemäß als sog. A-Kriterium die vorangegangene objektiv lebensbedrohliche
oder gleichwertige traumatisierende Belastung voraus. Diese muss daher dann auch für das Schwerbehindertenrecht sicher festgestellt
werden.
Das SG wird also für diese zwingend erforderliche Feststellung zunächst hierzu umfangreich ermitteln müssen, insbesondere durch
Zeugenvernehmungen, Beiziehung der alten Akten über die Heimunterbringung der Klägerin und aller seit dieser Zeit vorhandenen
medizinischen Unterlagen, Akten und Dokumenten. Nur wenn sich danach der von der Klägerin behauptete Sachverhalt mit an Sicherheit
grenzender Wahrscheinlichkeit feststellen lässt, kann er Grundlage einer PTBS-Diagnose sein. Im Schwerbehindertenrecht gibt
es insoweit - anders als im Recht der Opferentschädigung - keine Beweiserleichterung bei schuldloser Beweisnot.
Im Gutachten des Dr. L fehlen aber auch bei Feststellbarkeit des A-Kriteriums objektivierte Daten zu den weiteren Kriterien
einer PTBS. Das gilt insbesondere zum sogenannten B-Kriterium des Wiedererlebens der erlittenen Traumatisierung durch klinische
Feststellungen. Ferner gilt das zum C-Kriterium des Vermeidungsverhaltens (auch insofern finden sich im Gutachten keine Befunde,
die einen Rückschluss auf ein Vermeidungsverhalten erlauben und auch das SG hat dazu nichts ermittelt, z.B. durch Befragung des Ehemannes als Zeugen). Die vom Gutachter Dr. L verwendeten psychologischen
Testungen reichen dazu nicht aus, denn es handelt sich dabei letzten Endes nur um Selbstauskünfte und Eigenangaben der Klägerin,
die nicht objektiv überprüfbar sind.
Auch zum D-Kriterium der Übererregbarkeit gibt es bislang nur die Eigenangaben der Klägerin. Es fehlen insoweit in medizinischer
Hinsicht sowohl für die Vergangenheit Beweise für die von der Klägerin angegebenen Vorfälle von Dissoziieren und Desorientierung
im Straßenverkehr. Auch hierzu müssen Zeugen gehört werden, insbesondere die von der Klägerin genannte Freundin wie auch ihr
Apotheker sowie die Ärzte und Kliniken, die solche Vorfälle nach Angabe der Klägerin klinisch beobachtet haben.
Schließlich fehlt zu den für die Entscheidungsfindung wesentlichen Ohrgeräuschen und Höreinschränkungen, die die Klägerin
angegeben hat, bislang an einer fachärztliche Überprüfung durch ein Hals-Nasen-Ohrenärztliches Gutachten anhand objektiver
Messdaten und Verfahren.
Das SG wird also zunächst die oben genannten Akten und Vorbefunde beizuziehen haben, d.h. einschließlich der Rentenakten der Klägerin
und eines vollständigen Verzeichnisses ihrer zuständigen Krankenkasse/n über alle ihr gewährten medizinischen Leistungen.
Sodann wird das SG zur Frage der Traumatisierung der Klägerin und zur Frage von der Klägerin ggf. im Straßenverkehr erlittener gefährdender
Vorfälle durch Zeugenvernehmungen zu ermitteln haben, d.h. insbesondere wann, wo und wie genau die Klägerin in der Vergangenheit
im Straßenverkehr ggf. Vorfälle von Desorientierung erlebte und welche Auswirkungen diese Vorfälle hatten. Erst im Anschluss
hieran lässt sich medizinisch klären, welche objektivierbaren Tatsachen es unter Umständen sicher machen, dass und wie oft
sich solche Vorfälle im Straßenverkehr in Zukunft wiederholen, ob sie damit einem der in der VersMedV genannten Regelbeispiel gleichen und ob deswegen die Voraussetzungen der Merkzeichen G und B gegeben sind.
IV.