Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist umstritten, ob die Klägerin Anspruch auf Altersrente für besonders langjährig Versicherte anstelle
der von der Beklagten bewilligten Altersrente für Frauen hat.
Die am ... 1951 geborene Klägerin arbeitete seit 1991 bei der Kreishandwerkerschaft S ... Mit Schreiben vom 29. November 2011
kündigte diese das Arbeitsverhältnis betriebsbedingt zum 30. Juni 2012. Hintergrund war ein Personalabbau aufgrund der Zusammenlegung
der Kreishandwerkerschaften Sa. und S. zum 1. Januar 2012.
Nach Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses war die Klägerin vom 1. Juli 2012 bis zum 30. Juni 2014 arbeitslos. Für diese
Zeit sind Pflichtbeitragszeiten aufgrund von durch die Bundesagentur für Arbeit gemeldeten Zeiten gespeichert. Mit Bescheid
vom 9. Juli 2014 bewilligte die Beklagte der Klägerin auf deren Antrag vom 30. April 2014 Altersrente für Frauen mit einem
Rentenbeginn am 1. Juli 2014 und einem Auszahlungsbetrag von 941,51 EUR. Den Antrag auf Altersrente für besonders langjährig
Versicherte lehnte die Beklagte mit Bescheid ebenfalls vom 9. Juli 2014 ab. Zur Begründung führte sie aus, das Versicherungskonto
der Klägerin enthalte bis zum 30. Juni 2014 statt der erforderlichen 540 nur 525 Wartezeitmonate. Auf die erforderliche Wartezeit
könnten Zeiten des Bezuges von Entgeltersatzleistungen der Arbeitsförderung in den letzten zwei Jahren vor Rentenbeginn nicht
angerechnet werden, es sei denn, der Leistungsbezug sei durch eine Insolvenz oder eine vollständige Geschäftsaufgabe des Arbeitgebers
bedingt.
Dagegen legte die Klägerin Widerspruch ein: Die gesetzliche Regelung, wonach Zeiten der Arbeitslosigkeit, die zwei Jahre vor
Rentenbeginn lägen, bei der Wartezeit nicht berücksichtigt würden, verstoße gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz aus
Artikel
3 Abs.
1 Grundgesetz (
GG). Es sei nicht mit dem Gleichheitssatz vereinbar, dass diese Zeiten unberücksichtigt blieben, die anderen Zeiten der Arbeitslosigkeit
im Berufsleben der Versicherten (noch dazu unabhängig von ihrer Dauer) angerechnet würden. Ein Verstoß gegen den allgemeinen
Gleichheitsgrundsatz liege auch insoweit vor, als die Arbeitslosigkeit zwei Jahre vor Rentenbeginn dann anerkannt werde, wenn
eine Insolvenz oder vollständige Geschäftsaufgabe des Arbeitgebers Ursache gewesen sei, jedoch nicht bei einer betriebsbedingten
Kündigung schlechthin. Es sei nicht nachvollziehbar, dass ein Arbeitnehmer, der wegen vollständiger Betriebsaufgabe entlassen
worden sei, anders behandelt werde, als z.B. ein Arbeitnehmer, der nur aufgrund der Auflösung einer Betriebsabteilung, einer
Umstrukturierung seines Betriebes oder einer Fusion seines Betriebes mit einem anderen Betrieb seinen Arbeitsplatz verliere.
In beiden Fällen habe der Arbeitnehmer keinen Einfluss auf das Entstehen der Kündigungsgründe. Die Folge der Arbeitslosigkeit
sei aber in beiden Fällen für den Arbeitnehmer gleich. Die Fusion der Kreishandwerkerschaften S. und Sa. zur Kreishandwerkerschaft
A. beinhalte in gewisser Weise auch die vollständige Geschäftsaufgabe des Arbeitgebers, denn nach der Fusion habe es den bisherigen
Arbeitgeber nicht mehr gegeben.
Mit Widerspruchsbescheid vom 24. Oktober 2014 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück. Gemäß §
50 Abs.
5 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (Gesetzliche Rentenversicherung -
SGB VI) sei die Erfüllung der Wartezeit von 45 Jahren (540 Monate) Voraussetzung für einen Anspruch auf Altersrente für besonders
langjährig Versicherte. Diese Wartezeit habe die Klägerin mit 525 Wartezeitmonaten nicht erfüllt. Dabei sei maßgeblich, dass
Zeiten des Bezuges von Entgeltersatzleistungen der Arbeitsförderung in den letzten zwei Jahren vor Rentenbeginn nur berücksichtigt
würden, wenn der Bezug durch eine Insolvenz oder vollständige Geschäftsaufgabe bedingt sei (§
51 Abs.
3a SGB VI). Entgeltersatzleistungen der Arbeitsförderung seien durch eine Insolvenz bedingt, sofern das Beschäftigungsverhältnis nach
einem Insolvenzantrag durch eine Kündigung von Seiten des Arbeitgebers bzw. Insolvenzverwalters gelöst werde. Das sei eindeutig
nicht der Fall gewesen. Der Begriff der vollständigen Geschäftsaufgabe im Gesetz sei eng auszulegen. Von einer vollständigen
Geschäftsaufgabe sei nur dann auszugehen, wenn der Arbeitgeber seine gesamte Betriebstätigkeit auf Dauer eingestellt habe.
Eine Einstellung der Tätigkeit eines einzelnen Betriebsteils, einer Filiale, eines Standorts sowie eine Zusammenlegung von
Betrieben oder eine Teilstilllegung sei nicht ausreichend, um den Tatbestand der vollständigen Geschäftsaufgabe zu begründen,
sofern der Arbeitgeber weitere Betriebsteile oder andere einzelne Betriebe weiterführe. Aus den vorliegenden Unterlagen ergebe
sich eindeutig, dass eine Zusammenlegung der Kreishandwerkerschaften vorgenommen worden sei. Damit sei die Zeit der Arbeitslosigkeit
vom 1. Juli 2012 bis zum 30. Juni 2014 nicht auf die Wartezeit von 45 Jahren anzurechnen. Soweit die Klägerin vortrage, dass
diese Regelung gegen Artikel
3 Abs.
1 GG verstoße, sei darauf hinzuweisen, dass sie - die Beklagte - bei ihrem Handeln an Recht und Gesetz gebunden sei. Dies schreibe
das
Grundgesetz in Artikel
20 Abs.
3 GG vor. Sie dürfe nicht prüfen, ob ein Gesetz verfassungsgemäß sei. Diese Prüfung erfolge nur durch das Bundesverfassungsgericht.
Dagegen hat die Klägerin am 11. November 2014 Klage beim Sozialgericht Magdeburg erhoben und im Wesentlichen die Widerspruchsbegründung
wiederholt. Ergänzend hat sie ausgeführt, die von ihr kritisierte Ungleichbehandlung empfinde sie in ihrem Fall als besonders
schwerwiegend, weil sie in ihrem gesamten Versicherungsverlauf nur in der Zeit ab dem 1. Juli 2012 arbeitslos gewesen sei.
Mit Urteil ohne mündliche Verhandlung vom 29. Juni 2017 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt,
die Beklagte habe die gesetzlichen Regelungen rechtsfehlerfrei umgesetzt. Der Beklagten sei zuzustimmen, dass die Zusammenlegung
der Kreishandwerkerschaften S. und Sa. zur Kreishandwerkerschaft A. weder eine Insolvenz noch eine vollständige Geschäftsaufgabe
darstellten. Die gesetzlichen Regelungen verstießen auch nicht gegen das
Grundgesetz. Das Sozialgericht hat zudem auf die Bundestagsdrucksache 18/1489, S. 26 verwiesen, nach der durch die Ergänzung in §
51 Abs.
3a Nr.
3 SGB VI Fehlanreize vermieden werden sollten, die sich aus der Anrechnung von Zeiten des Bezuges von Entgeltersatzleistungen der
Arbeitsförderung auf die Wartezeit von 45 Jahren bei der Altersrente für besonders langjährig Versicherte ergeben könnten.
Gegen das ihr am 19. Juli 2017 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 21. August 2017 Berufung beim Landessozialgericht (LSG)
Sachsen-Anhalt eingelegt. Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts beinhalte die Fusion der Kreishandwerkerschaften S. und
Sa. die Geschäftsaufgabe der Kreishandwerkerschaften. Die Fusion sei ein Sonderfall der Auflösung einer Kreishandwerkerschaft
gemäß §§ 76 Nr. 3, 89 Abs. 1 Nr. 5 Handwerksordnung (HwO), geschuldet der Verringerung der Zahl der Innungsbetriebe, die die Erfüllung der gesetzlichen Aufgaben der einzelnen Kreishandwerkerschaft
gefährdet erscheinen lassen habe. Mit der Fusion habe eine Auflösung der jeweiligen Kreishandwerkerschaft aus diesen Gründen
vermieden werden sollen. Durch sie hätten die ehemaligen Kreishandwerkerschaften S. und Sa. aufgehört zu existieren. Diese
Situation sei mit einer vollständigen Geschäftsaufgabe gleichzusetzen. Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts sei trotz
des weiten Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers eine Ungleichbehandlung der Versicherten in einem Maße gegeben, dass Artikel
3 GG als verletzt anzusehen sei. Mit keinem Wort werde in der vom Sozialgericht zitierten Bundestagsdrucksache erwähnt, ob denn
überhaupt Feststellungen zum Verhalten der Versicherten bei Beantragung der Altersrente getroffen würden, die den Schluss
zuließen, es würden derartige Fehlanreize bestehen. Mit anderen Worten: Der Gesetzgeber könne doch nur dann von Fehlanreizen
sprechen, wenn er festgestellt hätte, dass Versicherte vor dem Bezug der Altersrente verstärkt eine Arbeitslosigkeit anstelle
von Beschäftigung "anstreben" würden, wenn ihre Wartezeit noch nicht erfüllt sei. Eine derartige Feststellung könne wohl schwerlich
getroffen werden, denn ein Versicherter werde Beschäftigungszeiten Zeiten des Bezuges von Arbeitslosengeld immer "vorziehen",
da die Beschäftigungszeit zu höheren Rentenpunkten führe als der Bezug von Arbeitslosengeld. Der Bezug von Arbeitslosengeld
sei die Folge einer Entscheidung des Arbeitgebers, der das Arbeitsverhältnis mit dem Arbeitnehmer beendet habe. Die Gründe
hierfür könnten sehr verschieden seien und bekanntlich in der Person oder dem Verhalten des Arbeitnehmers liegen oder betriebsbedingt
sein. Würde ein Arbeitnehmer die Arbeitslosigkeit herbeiführen, würde gegen ihn eine Sperrfrist verhängt werden. Nur in diesem
Falle könne man ihm vorwerfen, die Arbeitslosigkeit "angestrebt" zu haben.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
das Urteil des Sozialgerichts Magdeburg vom 29. Juni 2017 sowie den Bescheid der Beklagten vom 9. Juli 2014 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 24. Oktober 2014 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr ab dem 1. Juli 2014 Altersrente
für besonders langjährig Versicherte zu bewilligen.
das Urteil des Sozialgerichts Magdeburg vom 29. Juni 2017 sowie den Bescheid der Beklagten vom 9. Juli 2014 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 24. Oktober 2014 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr ab dem 1. Juli 2014 Altersrente
für besonders langjährig Versicherte zu bewilligen.
Die Beklagte beantragt sinngemäß,
die Berufung zurückzuweisen.
Zur Begründung hat sie ausgeführt, das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 12. März 2019 (B 13 R 5/17 R) bestätige ihre Auffassung. Der ehemalige Arbeitgeber der Klägerin habe in der Kreishandwerkerschaft A. weiterbestanden.
Eine Geschäftsaufgabe habe somit nicht vorgelegen. Das Gegenteil sei der Fall gewesen. Die Geschäfte der Kreishandwerkerschaft
S. seien im Rahmen der vorgenommenen Fusionierung weitergeführt worden.
Das Verfahren ruhte von September 2017 bis März 2019, um den Ausgang des Verfahrens B 13 R 5/17 R beim BSG abzuwarten.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt
(Schriftsatz der Beklagten vom 11. März 2020 sowie Schriftsatz der Klägerin vom 18. März 2020).
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte sowie auf die Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen. Diese Akten
haben bei der Entscheidungsfindung des Senats vorgelegen.
Die gesetzliche Regelung ist auch nicht als verfassungswidrig anzusehen. Der Gesetzgeber hat bewusst ausschließlich die Tatbestände
der Insolvenz und der vollständigen Geschäftsaufgabe des Arbeitgebers als Rückausnahme vorgesehen. Die Beschränkung auf diese
Ausnahmen ist keinesfalls als willkürlich anzusehen. Denn diese Rückausnahmen können durch die Verwaltung einfach festgestellt
und umgesetzt werden. Alle anderen Lebenssachverhalte, die in ähnlicher Weise unverschuldet die Arbeitslosigkeit herbeigeführt
haben, hätten einen gegebenenfalls großen Ermittlungs- und Verwaltungsaufwand bedeutet und die Möglichkeit des Missbrauchs
nicht ausschließen können. Diese Beurteilung hat auch das BSG in seinen Urteilen vom 17. August 2017 (B 5 R 8/16 R und B 5 R 16/16 R, juris) und vom 12. März 2019 (B 13 R 5/17 R und B 13 R 19/17 R, juris) sowie in seinem Beschluss vom 16. Oktober 2019 (B 13 R 175/18 B, juris) vorgenommen.