Abschließende Entscheidung über einen Antrag auf Gewährung von Grundsicherungsleistungen für Arbeitsuchende
Rechtmäßigkeit einer Zurückverweisungsentscheidung
Durchbrechung der grundsätzlichen Verpflichtung zur Selbstentscheidung
Tatbestand:
Streitig ist eine abschließende Entscheidung nach § 41a Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) und die Erstattung von Leistungen für die Zeit vom 1. Oktober 2016 bis 31. März 2017.
Die Kläger bezogen im Streitzeitraum SGB II-Leistungen, die der Beklagte vorläufig bewilligt hatte (Bescheide vom 10. November und 9. Dezember 2016), weil der Kläger
zu 1) Einkommen aus selbständiger Tätigkeit erzielte. Nach Anforderung der abschließenden EKS unter Belehrung über die Folgen
der Nichtvorlage, die bei dem Beklagten indes nicht einging, stellte der Beklagte mit Bescheid vom 4. Dezember 2017 fest,
dass kein Leistungsanspruch bestanden habe, weil der Kläger zu 1) sich nicht geäußert habe, und forderte mit vier weiteren
Bescheiden vom 4. Dezember 2017 die Erstattung von 1.490,63 EUR (Kläger zu 1), 1.493,65 EUR (reduziert auf 1.492,61 EUR mit
Bescheid vom 26. Februar 2018; Klägerin zu 2), 891,91 EUR (reduziert auf 891,15 EUR mit Bescheid vom 26. Februar 2018; Klägerin
zu 3) bzw 460,25 EUR (Klägerin zu 4). Der Kläger legte im anschließenden Widerspruchsverfahren zwei abschließende EKS für
den Streitzeitraum vor. Die Widersprüche wies der Beklagte - vorbehaltlich der rechnerischen Anpassung der Erstattungsbeträge
mit den Bescheiden vom 26. Februar 2018 - zurück, weil die Unterlagen nicht innerhalb der gesetzten Frist eingereicht worden
seien (Widerspruchsbescheide vom 16. März 2018).
Das Sozialgericht (SG) Berlin hat die angefochtenen Bescheide aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an den Beklagten zurückverwiesen
(Gerichtsbescheid vom 31. Oktober 2018): Entgegen der Ansicht des Beklagten seien die im Widerspruchsverfahren vorgelegten
Unterlagen zu berücksichtigen, weil § 41a Abs. 3 SGB II keine Präklusionsvorschrift enthalte. Mit der Berufung wendet sich der Beklagte gegen diesen Gerichtsbescheid. Er meint,
die Voraussetzungen einer Zurückverweisung nach §
131 Abs.
5 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) lägen nicht vor. Im Übrigen sei die Jahresfristregelung des § 41a Abs. 5 Satz 1 SGB II zu beachten.
Der Beklagte beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 31. Oktober 2018 aufzuheben und die Sache an das Sozialgericht zurückzuverweisen,
hilfsweise in der Sache selbst zu entscheiden, hilfsweise die Klage abzuweisen.
Der Kläger verteidigt die angegriffene Entscheidung und beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (vgl §§
153 Abs.
1,
124 Abs.
2 SGG).
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung des Beklagten ist sowohl im Haupt- als auch in den Hilfsanträgen unbegründet. Die von den Klägern beanspruchten
Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts sind nicht deshalb abschließend abzulehnen, weil der Kläger zu 1) die geforderten
Nachweise über die Einnahmen und Ausgaben aus selbständiger Tätigkeit erst im Widerspruchsverfahren vorgelegt hat. Die Zurückverweisungsentscheidung
des SG ist nicht zu beanstanden.
Gegenstand des Berufungsverfahrens sind neben dem Gerichtsbescheid des SG die Bescheide vom 4. Dezember 2017 in Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 16. März 2018, durch die der Beklagte die Bewilligung
von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts von Oktober 2016 bis März 2017 gestützt auf § 41a Abs. 3 Satz 3 und 4 SGB II idF des Neunten Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch - Rechtsvereinfachung - sowie zur vorübergehenden Aussetzung der Insolvenzantragspflicht 9. SGB II-ÄndG) vom 26. Juli 2016 (BGBl I 1824) mit der Festsetzung des Leistungsanspruchs auf 0,- Euro ("Nullfeststellung") der Sache
nach abschließend abgelehnt und die Kläger zur Erstattung der im Streitzeitraum vorläufig erbrachten Leistungen herangezogen
hat.
Mit der Klage hiergegen beanspruchen die Kläger eine Korrektur der Entscheidung des Beklagten über die abschließend festzustellenden
und die zu erstattenden vorläufigen Leistungen. Demgemäß richtet sich das Klageziel neben der Änderung der Bescheide darauf,
den Beklagten zu verpflichten auszusprechen, dass ihnen abschließend höhere Leistungen zustehen als mit dem Bescheid vom 4.
Dezember 2017 festgesetzt. Für eine isolierte Anfechtung des abschließenden Leistungsbescheids mit dem Ziel, die vorläufig
bewilligten Leistungen weiter behalten zu dürfen, fehlt dagegen das Rechtsschutzbedürfnis, weil der Beklagte die eingeleitete
abschließende Feststellung des Leistungsanspruchs für den streitbefangenen Zeitraum durch Verwaltungsakt abzuschließen hat
(vgl § 41a Abs. 5 Satz 1 SGB II und daher die Aufhebung der Nullfeststellungen allein den Rechtsstreit nicht dauerhaft beenden könnte (vgl zum fehlenden
Rechtsschutzinteresse an der isolierten Anfechtung eines Leistungsbescheids etwa Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 3.Oktober 1973 - 1 RA 61/72 - BSGE 36, 181, 183 = SozR Nr 4 zu § 1613
RVO S 5; BSG, Urteil vom 18. September 2012 - B 2 U 15/11 R = SozR 4-5671 §
3 Nr 6 Rn 16; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt,
SGG, 12. Aufl 2017, §
54 Rn 4a mwN).
Zutreffende Klageart hierfür ist die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§
54 Abs.
1 Satz 1, Abs.
4 SGG), soweit das Klagebegehren auf weitere Zahlungen über die vorläufig erbrachten Leistungen hinaus zielt, und ansonsten die
(kombinierte) Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 Satzvgl dazu BSG, Urteil vom 8. Februar 2017 - B 14 AS 22/16 R - juris - Rn 10 f). Dabei beschränkt sich der Streitstoff hier aufgrund der Zurückverweisungsentscheidung des SG nach §
131 Abs.
5 SGG auf die Frage, ob den Klägern - ähnlich der Situation beim Grundurteil im Höhenstreit (§
130 Abs.
1 SGG; vgl nur BSG vom 16. April 2013- B 14 AS 81/12 R = SozR 4-4225 § 1 Nr 2 Rn 10) - im streitbefangenen Zeitraum voraussichtlich existenzsichernde Leistungen abschließend
zuzuerkennen sein werden und ihre Bemessung weitere Sachverhaltsermittlungen erfordert (vgl BSG, Urteil vom 12. September 2018 - B 14 AS 7/18 R - juris - Rn 10).
Die Zurückverweisungsentscheidung des SG nach §
131 Abs.
5 SGG ist nicht zu beanstanden. Nach §
131 Abs.
5 Satz 1 und
5 SGG kann das Gericht, hält es eine weitere Sachaufklärung für erforderlich, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, den Verwaltungsakt
und den Widerspruchsbescheid innerhalb eines Zeitraums von sechs Monaten seit Eingang der Behördenakten aufheben, soweit nach
Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange
der Beteiligten sachdienlich ist. Das gilt nach §
131 Abs.
5 Satz 2 Halbsatz 1
SGG auch bei Klagen auf Verurteilung zum Erlass eines Verwaltungsakts und bei Klagen nach §
54 Abs.
4 SGG.
Die nach der Rspr des BSG zunächst auf die Fälle der reinen Anfechtungsklage beschränkt gewesene (BSG, Urteil vom 17. April 2007 - B 5 RJ 30/05 R = BSGE 98, 198 - Rn 8 ff) und durch das Gesetz zur Änderung des
SGG und des Arbeitsgerichtsgesetzes vom 26. März 2008 (BGBl I 444) ausdrücklich auf Anfechtungs- und Leistungsklagen sowie Verpflichtungsklagen erstreckte Regelung
des §
131 Abs.
5 SGG begründet eine Ausnahme von der Verpflichtung der Gerichte, die bei ihnen anhängigen Sachen grundsätzlich selbst spruchreif
zu machen. In Anlehnung an die Vorschriften des §
113 Abs.
3 Satz 1
Verwaltungsgerichtsordnung und § 100 Abs. 3 Satz 1 Finanzgerichtsordnung soll sie den Gerichten im Interesse einer zügigen Erledigung des Rechtsstreits eigentlich der Behörde obliegende zeit- und
kostenintensive Sachverhaltsaufklärungen ersparen und einer sachwidrigen Aufwandsverlagerung entgegenwirken, wenn die noch
erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich
ist (vgl BT-Drucks 15/1508 S 29, vgl zum Ganzen BSG, Urteil vom 12. September 2018 - B 14 AS 7/18 R - juris).
Hiernach ist die fristgerechte (§
131 Abs.
5 Satz 5
SGG) Zurückverweisungsentscheidung des SG im Rahmen seines Ermessens nach §
131 Abs
5 SGG ("kann es ... den Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid aufheben") nicht zu beanstanden. Vielmehr durfte es die weiteren
Ermittlungen für die zu treffende abschließende Entscheidung nach Art und Umfang als erheblich und den Beklagten dafür als
besser ausgestattet ansehen. Hinzu kommt, dass der Beklagte die Unterlagen des Klägers bislang ganz ungeprüft gelassen hat
und sie deshalb zur sachgerechten Prozessvertretung genauso durchzuarbeiten hätte, wenn das SG die Sachen selbst spruchreif machen würde. Dass die damit intendierte Entlastung des Gerichts mit den Interessen des Klägers
nicht vereinbar wäre, ist ebenfalls weder ersichtlich noch von ihm geltend gemacht. Den Ausnahmecharakter des §
131 Abs.
5 SGG hat das SG nicht verkannt. Es hat entgegen der Darstellung des Beklagten auch die Gründe für seine Ermessensentscheidung (vgl etwa Absatz
3 S 5 des Urteils), die ohnehin nur eingeschränkt überprüfbar ist (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt,
SGG, 12. Aufl §
131 Rn 20a), hinreichend dargelegt. Rechtsgrundlage der für den hier streitbefangenen Bewilligungszeitraum noch zu treffenden
abschließenden Entscheidung ist in materiell-rechtlicher Hinsicht § 19 iVm §§ 7 ff und §§ 20 ff SGB II idF, die das SGB II insoweit vor dem streitbefangenen Zeitraum durch das 9. SGB II-ÄndG erhalten hat (vgl Art 4 Abs 1 9. SGB II-ÄndG); denn in Rechtsstreitigkeiten über schon abgeschlossene Bewilligungszeiträume ist das zum damaligen Zeitpunkt geltende
Recht anzuwenden (Geltungszeitraumprinzip, vgl BSG, Urteil vom 19. Oktober 2016 - B 14 AS 53/15 R - SozR 4-4200 § 11 Nr 78 RdNr 15 mwN). Danach erlauben die bislang getroffenen Ermittlungen des Beklagten noch keine abschließende
Entscheidung über die den Klägern endgültig zuzuerkennenden Leistungen. Die Kläger erfüllen die Grundvoraussetzungen, um Alg
II zu erhalten (§ 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II); ein Ausschlusstatbestand lag ebenfalls nicht vor. Ebenso spricht nach den Angaben des Klägers zu 1) im Widerspruchsverfahren
über die betrieblichen Einnahmen und Ausgaben im Bewilligungszeitraum nichts dafür, dass die Kläger in dieser Zeit nicht hilfebedürftig
waren (§ 9 Abs. 1 SGB II); darauf stellt auch der Beklagte nicht ab. Das ist schließlich nicht deshalb unbeachtlich, weil die Kläger für diesen Zeitraum
mit den erst im Widerspruchsverfahren vorgelegten Angaben nach § 41a Abs. 3 Satz 4 SGB II vom Bezug von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ausgeschlossen wäre. Zwar findet die am 1. August 2016 in Kraft
getretene Regelung auf den hier streitbefangenen Bewilligungszeitraum von Oktober 2016 bis März 2017 uneingeschränkt Anwendung
(zur Maßgeblichkeit der alten Rechtslage für zuvor beendete Bewilligungszeiträume vgl BSG, Urteil vom 12. September 2018 - B 4 AS 39/17 R - juris - Rn 28 ff). Jedoch reicht die Vorlage der nach § 41a Abs. 3 Satz 2 SGB II vorzulegenden Unterlagen im Widerspruchsverfahren (vgl hierzu mit ausführlicher Begründung BSG aaO), um diese bei der abschließenden Entscheidung zu berücksichtigen. Hiernach kann das Tatbestandsmerkmal "Kommen die leistungsberechtigte
Person oder die mit ihr in Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen ihrer Nachweis- oder Auskunftspflicht nicht fristgemäß nach"
nicht dahin verstanden werden, dass es die Berücksichtigung von nach Fristablauf vorgelegten Nachweisen im Verwaltungsverfahren
ausschließt. Vielmehr kann der von dem Grundsicherungsträger gesetzten Frist nur die Bedeutung beigemessen werden, dass vor
ihrem Ablauf eine abschließende Entscheidung nicht ergeht und die Leistungsberechtigten sie zur Vorlage der angeforderten
Unterlagen ausnutzen können. Gehen bis zur letzten Verwaltungsentscheidung und damit bis zum Abschluss eines Widerspruchsverfahrens
noch Unterlagen ein, sind sie aber vom Grundsicherungsträger ungeachtet des Fristablaufs zu berücksichtigen, weil nach den
insoweit zu berücksichtigenden verfassungsrechtlichen Maßgaben im Zweifel der schonenderen Auslegung der Fristbestimmung der
Vorzug zu geben ist (vgl BSG, Urteil vom 12. September 2018 - B 14 AS 7/18 R - Rn 20 ff mwN). In welcher Höhe existenzsichernde Leistungen abschließend zuzuerkennen und inwieweit vorläufig erbrachte
Leistungen zu erstatten sind, erfordert daher weitere Ermittlungen insbesondere zu den Einnahmen und den davon abzusetzenden
betrieblichen Ausgaben des Klägers zu 1) anhand der im Widerspruchsverfahren vorgelegten abschließenden EKS. Der Verweis des
Beklagten auf § 41a Abs. 5 Satz 1 SGB II führt zu keiner anderen Beurteilung. Denn zum einen hatte der Beklagte eine abschließende Entscheidung innerhalb der dort
benannten Frist getroffen. Hinzu kommt, dass jedenfalls der Widerspruch der Kläger vom Januar 2018 als Antrag auf abschließende
Festsetzung iSv § 41a Abs. 5 Satz 2 Nr 1 SGB II anzusehen ist Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG. Gründe für eine Zulassung der Revision gemäß §
160 Abs.
2 SGG liegen im Hinblick auf die höchstrichterliche Klärung der entscheidungserheblichen Rechtsfragen nicht vor.