Unfallversicherungsrecht
Anforderungen an den Beweismaßstab
Hinreichende Wahrscheinlichkeit
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Folgen eines Arbeitsunfalls.
Der 1960 geborene Kläger begann nach seinem Hauptschulabschluss im Jahre 1974 eine Maurerlehre, die er 1978 durch Erwerb des
Gesellenbriefes abschloss. Danach ließ er sich zum Bautechniker und Maurermeister ausbilden und legte im März 1984 seine Meisterprüfung
ab. Von Mitte März 1983 bis Ende Juni 1984 arbeitete er bei einem Architektenbüro und vom 1. August 1984 bis 31. März 1987
als Techniker beim Stadtbauamt in C-Stadt. Danach war er als selbstständiger Techniker und Maurermeister im eigenen Betrieb
tätig.
Am 9. Dezember 1994 erlitt der Kläger einen Arbeitsunfall, als beim Betreten eines 1,50 m hohen Bockgerüstes die vordere Bohle
brach. Der Kläger stürzte von der Gerüstlage auf den Boden. Dabei verlor er seinen Schutzhelm und ein abgebrochenes Bohlenstück
schlug ihm auf die rechte Kopfseite. Seine Mitarbeiter brachten den Kläger in die unfallchirurgische Ambulanz des St. Vinzenz
Krankenhauses in Limburg. Dort wurden ein Kopfschwartenhämatom rechts und Schürfwunden am linken Zeige- und Mittelfinger festgestellt.
Der Chefarzt Dr. D. teilte in einem Befundbericht vom 12. Dezember 1994 mit, der Kläger habe bei der Aufnahme angegeben, er
habe zuvor erbrochen, über Schwindel habe er nicht geklagt, habe sich auch an das Unfallgeschehen komplett erinnern können.
Die direkte und indirekte Pupillenreaktion sei seitengleich gewesen, ein Anhalt für knöcherne Verletzungen habe sich nicht
ergeben. Der Kläger wurde stationär aufgenommen. Weil er über Gefühlsstörungen im Bereich des linken Armes klagte, wurde ein
Schädel-CT durchgeführt. Dabei fand sich kein Anhalt für intracerebrale Blutungsherde, auch ein am 10. Dezember 1994 durchgeführtes
neurologisches Konsil erbrachte keinerlei pathologische Befunde. Der Kläger wurde am 10. Dezember 1994 nach Hause entlassen
mit der Bitte um Wiedervorstellung in der unfallchirurgischen Ambulanz am 16. Dezember 1994. Nach Auskunft des Facharztes
für Neurologie und Psychiatrie Dr. E. hatte der Kläger am 10. Dezember 1994 über Kopfschmerzen, Kopfdruck rechts mit ausstrahlenden
Beschwerden in die Kiefergelenke rechts, Nackenschmerzen links, ein Taubheitsgefühl im linken Arm bis in den 5. Finger und
über Schwindelbeschwerden bei Änderung der Körperlage geklagt. Außerdem hatte er angegeben, er sehe auf dem linken Auge verschwommen
und das linke Auge zucke. Eine weitere Untersuchung durch Dr. E. erfolgte am 20. Dezember 1994, der Kläger beschrieb ein Flimmerskotom
am linken Auge, klagte weiterhin über ein Unterlidzucken links und anfallsweise auftretendes Taubheitsgefühl im Bereich der
linken Gesichtshälfte und des linken Armes. Diese Zustände träten während der Kopfschmerzanfälle auf. Die von Dr. E. erhobenen
neurologischen Befunde sowie der EEG-Befund waren ohne Auffälligkeiten. Eine weitere neurologische Untersuchung erfolgte durch den Neurologen und Psychiater Dr.
F., BX Stadt, am 17. Januar 1995. Als Beschwerden wurden Kopfschmerzen, Schwindel, Gleichgewichtsstörungen, Angstzustände,
Reizbarkeit, Konzentrationsstörung, Sprachstörung, Halswirbelsäulen(HWS)-Schmerzen und eine Taubheit des 2. ulnaren Fingers
links genannt. Dr. F. diagnostizierte neben einer Commotio cerebri und einem HWS-Syndrom eine traumatische Angstneurose. Die
objektivierbaren neurologischen Befunde, das Hirnstrombild, die somato-sensorisch evozierten Potentiale und die Befunde einer
nadelmyographischen Untersuchung der Arme waren regelrecht. Aufgrund der von dem Kläger geklagten Störungen wurden weitere
radiologische Untersuchungen veranlasst, so ein Kernspintomogramm des Schädels am 30. Juni 1995 sowie ein Kernspintomogramm
der HWS am 3. Juli 1995. Diese Untersuchungen ergaben keine von der Norm abweichenden Befunde. Auch eine hals-nasen-ohren-ärztliche
Untersuchung durch Dr. G., die wegen der anhaltenden Gleichgewichtsstörungen veranlasst worden war, erbrachte keinen krankhaften
Befund. Am 12. September 1995 erfolgte auf Anraten der Neurochirurgen Prof. Dr. H. und Dr. J. eine Untersuchung durch den
Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. K. Der Kläger gab an, er leide unter frontal lokalisierten Kopfschmerzen, die zum
Teil mit einem Taubheitsgefühl in der linken Gesichtshälfte verbunden seien, zeitweise komme es auch zu Nackenschmerzen, die
bis hinter das Ohr strahlten, immer wieder träten Missempfindungen im Bereich des linken Armes auf, die schon zum Verdacht
eines Herzinfarktes geführt hätten, zumal er auch starke Angstprobleme habe. Autogenes Training und Ähnliches habe nur vorübergehend
eine Besserung gebracht. Er sei so stark beeinträchtigt, dass er sich überhaupt nicht mehr konzentrieren könne, er erschrecke
bei der geringsten Leistungsanforderung ganz stark, habe einen richtigen Totstellreflex, könne einem Kunden nicht einmal die
einfachsten bautechnischen Dinge mehr erklären und könne nicht mehr beraten. Sein Geschäft habe er zum 1. August verkauft.
Es hätten so viele Aufträge vorgelegen, die hätten erfüllt werden müssen. Dies sei nicht gegangen, zumal er sich ohnehin nicht
zutraue, wieder eingegliedert zu werden. Dr. K. äußerte die Auffassung, aufgrund der seit dem Unfalltag vorliegenden Untersuchungsergebnisse
sei davon auszugehen, dass der Kläger bei dem Arbeitsunfall allenfalls eine Schädelprellung mit vegetativer Begleitsymptomatik
erlitten habe. Eine Unterbrechung des Bewusstseinskontinuums sei nicht dokumentiert. In der Initialphase seien auch keine
massiven Schwindelerscheinungen vorhanden gewesen, lediglich eine geringfügige subjektive Kopfschmerzsymptomatik. Erstaunlich
sei, dass der behandelnde Neurologe seine Diagnose ständig dem subjektiven Beschwerdebild neu anpasse. Hinsichtlich der subjektiv
geklagten Schwindelsymptomatik lasse sich weder ein Lagenschwindel noch ein cervikogener Schwindel mit den neurologischen
Untersuchungsmethoden feststellen. Aufgrund des neurologischen Befundes und der durchgeführten elektrophysiologischen Untersuchungen
sei davon auszugehen, dass keinerlei relevante Schädigung eingetreten sei. Auffällig sei der psychische Befund. Es liege offensichtlich
eine erhebliche depressive Reaktion mit Anklammerungsfunktion und regressiv kindlichem Verhalten vor, die völlig im Gegensatz
zu der ursprünglich bestehenden Leistungsbetontheit und Leistungsfähigkeit stehe. Seines Erachtens spielten persönlichkeitsimmanente
Faktoren hier die Hauptrolle. Was den organischen Teil anbelange, sei aus neurologisch-psychiatrischer Sicht festzuhalten,
dass das Unfallereignis nicht geeignet gewesen sei, das bestehende Beschwerdebild einschließlich der angeblich bestehenden
Migräne accompagnée hervorzurufen.
Mit Bescheid vom 6. November 1995 teilte die Beklagte dem Kläger mit, eine unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit liege nicht mehr
vor, berufsfördernde Maßnahmen seien aufgrund der Unfallfolgen nicht erforderlich. Der Arbeitsunfall habe nach dem Wegfall
der Arbeitsunfähigkeit im Sinne der Krankenversicherung keine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) in rentenberechtigendem
Grade hinterlassen. Die Gutachten auf neurochirurgischem Fachgebiet, HNO-ärztlichem Fachgebiet und neurologisch-psychiatrischem
Fachgebiet hätten ergeben, dass Unfallfolgen von Krankheitswert nicht vorlägen. Als Folgen des Unfalls würden nicht anerkannt:
"Depressive Verstimmung mit erhöhtem Leidensdruck und subjektiv empfundener deutlicher Leistungsminderung als Folge persönlichkeitsbestimmter
Faktoren, migräneartige Kopfschmerzen, Missempfindungen in der linken Gesichtshälfte und im linken Arm, Schwindelerscheinungen,
gering behinderte Nasenatmung links."
Der Kläger legte gegen diesen Bescheid am 23. November 1995 Widerspruch ein.
Im Widerspruchsverfahren holte die Beklagte von der Techniker Krankenkasse ein Vorerkrankungsverzeichnis ein und beauftragte
den Chefarzt der Abteilung für Psychotherapie und Psychosomatik am Zentrum der Psychiatrie der Johann Wolfgang Goethe-Universität
Frankfurt am Main, Prof. Dr. L., ein Gutachten zu erstellen.
In dem Vorerkrankungsverzeichnis der Techniker Krankenkasse sind Arbeitsunfähigkeitszeiten in dem Zeitraum vom 15. März 1983
bis zur Selbstständigkeit des Klägers vermerkt. Vom 9. April 1984 bis 19. April 1984 bestand Arbeitsunfähigkeit wegen einer
"Depression" und vom 16. September 1986 bis 5. Oktober 1986 wegen "Überforderungssyndrom, Zustand nach Kollaps", vom 2. März
1987 bis 21. März 1987 ist eine Arbeitsunfähigkeit wegen Gastritis vermerkt. In der Folgezeit bestand eine Versicherung ohne
Anspruch auf Krankengeld, so dass Arbeitsunfähigkeitszeiten nicht mehr bescheinigt werden konnten. Die Zeiten vom 15. Dezember
1992 bis 15. März 1993 und vom 10. Dezember 1993 bis 27. Februar 1994 sind als "vorübergehend stellenlos" gekennzeichnet.
Der Kläger gab hierzu an, er habe sich im Jahr 1984 von seiner Frau und den zwei Kindern getrennt, 1986 sei es zur Scheidung
gekommen. Die psychischen Erkrankungen aus den Jahren 1984 und 1986 seien Ausdruck der damaligen Situation gewesen.
Prof. Dr. L. gelangte in seinem Gutachten vom 25. März 1996 zu der Beurteilung, die Charakteristik des Arbeitsunfalls lasse
keinerlei Anhaltspunkte erkennen, die die Entstehung einer posttraumatischen Störung nahe legten. Es habe keine Beteiligung
Dritter gegeben, keine Gewalteinwirkung, keine Aggression oder Freiheitsberaubung durch andere Menschen. Es könne auch nicht
davon ausgegangen werden, dass bei dem Sturz aus dieser Höhe eine Todesangst entstanden sei. Auch eine Angst vor einer gravierenden
körperlichen Verletzung sei angesichts der geringen Verletzungen nicht zu erwarten. Es habe auch seitens Dritter nach dem
Unfall keine unangemessenen kränkenden Reaktionen gegeben. Es habe sich um einen leichten Arbeitsunfall gehandelt, der glimpflich
verlaufen sei und offensichtlich keine organischen Verletzungen und Beeinträchtigungen nach sich gezogen habe. Der Arbeitsunfall
könne folglich für das komplexe und sich im Verlauf wandelnde Beschwerdebild des Klägers nicht ursächlich verantwortlich gemacht
werden. Eine gewisse Zeit organischer Beschwerden sei selbstverständlich anzunehmen, aber die psychosomatischen Beschwerden
und vor allem die sich nach drei bzw. sechs Monaten einstellenden massiven neurotischen Verhaltensweisen ließen sich mit dem
Arbeitsunfall nicht in einen plausiblen Zusammenhang bringen.
Die Beklagte wies den Widerspruch des Klägers durch Bescheid vom 4. April 1996 zurück.
Der Kläger hat hiergegen am 24. April 1996 beim Sozialgericht Wiesbaden (SG) Klage erhoben.
Das SG hat von dem St. Vinzenz Krankenhaus Limburg, wo sich der Kläger vom 11. September bis 17. September 1996 in stationärer Behandlung
befunden hatte, einen Entlassungsbericht eingeholt. Darin wird unter dem 28. Oktober 1996 mitgeteilt, der Kläger habe morgens
plötzlich ein retrosternales Druckgefühl mit in den linken Arm ausstrahlenden Schmerzen und etwas Atemnot verspürt, gleichzeitig
sei ein perorales Taubheitsgefühl, später seien diffuse Kopfschmerzen aufgetreten. Die Untersuchungen hätten keinen Hinweis
auf eine coronare Herzkrankheit oder auf höhergradige Herzrhythmusstörungen ergeben. Der Kläger leide an einer Angstneurose.
Von dem Direktor der Klinik und Poliklinik für psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universität Mainz, Prof. Dr.
M., hat das SG ein psychosomatisch-psychotherapeutisches Fachgutachten eingeholt. In seinem Gutachten vom 27. Januar 1997 hat Prof. Dr.
M. ausgeführt, bei dem Kläger liege keine posttraumatische Belastungsstörung vor. Der eher leichte Arbeitsunfall lasse, selbst
die subjektive Bewertung des Klägers in Rechnung gestellt, diese diagnostische Einordnung nicht zu. Der Unfall sei im Wesentlichen
glimpflich verlaufen und ganz offensichtlich ohne gravierende organische Verletzungen und Beeinträchtigungen geblieben. Der
Einschätzung des Vorgutachters sei insoweit zuzustimmen. Richtig scheine auch die Feststellung, dass der Unfall für das komplexe
und sich im Verlauf wandelnde Beschwerdebild nicht ursächlich verantwortlich sein könne. Der Unfall sei allerdings der auslösende
Faktor für die nachfolgende Entwicklung. Die Chronifizierung und Verstärkung der Symptome werde aber entscheidend von der
Behandlungsführung auf der Basis der Persönlichkeitsstruktur und aktuellen Partnerschaft des Klägers bedingt. Ohne die vorbestehende
- und gut kompensierte - Persönlichkeitsstruktur sei diese regressive Entwicklung des Klägers nach einem solchen Unfall nicht
denkbar. Nicht auszuschließen sei, dass andere Ereignisse, etwa ein Autounfall etc., zu ähnlichen Entwicklungen hätten führen
können, also als Auslöser in Frage gekommen wären. Die Persönlichkeitsstruktur des Betroffenen könne im Sinne eines prädisponierenden
Faktors gewertet werden. Die Schwelle, eine entsprechende Reaktion zu zeigen, werde durch die vorbestehende Persönlichkeitsstruktur
gesenkt und der weitere Verlauf deutlich beeinflusst. Die Chronifizierung der Beschwerdesymptomatik habe überwiegend psychogene
Ursachen und sei eng mit der vorbestehenden Persönlichkeitsstruktur des Klägers verbunden. Der Verlust von Antrieb, Interesse,
Libido und eine allgemeine Rückzugs- und Schonungstendenz seien Bestandteile dieser Angstsymptomatik. Beteiligt an der Chronifizierung
und Aufrechterhaltung der Erkrankung sei, neben dem schützenden und auf Schonung bedachten Verhalten der Partnerin, auch die
bisherige insuffiziente Behandlung. Ein weiterer Chronifizierungsfaktor sei der Stress und die Belastung durch das ständige
Beschäftigen mit der Erkrankung und Leistungsinsuffizienz, die häufigen Arztbesuche, die gescheiterten oder nicht greifenden
Behandlungsversuche, die Gutachtentermine und Auseinandersetzungen. Hier würden ständig die Zukunftsängste und Unsicherheit
verstärkt und unterhalten. Prof. Dr. M. diagnostizierte bei dem Kläger eine Agoraphobie mit Panikstörung sowie Somatisierungsstörung
bei überwiegend ängstlich-abhängiger Persönlichkeitsstruktur.
In einer ergänzenden Stellungnahme vom 27. März 1998 hat der Sachverständige zu Fragen des SG Stellung genommen und seine Diagnose, der Kläger habe eine ängstlich-abhängige Persönlichkeitsstruktur, nochmals erläutert.
Zum Kausalzusammenhang hat der Sachverständige ausgeführt, die unmittelbar nach dem Unfallereignis erfolgte Mitteilung der
Partnerin, sie sei schwanger, sei ein wesentlicher Faktor. Die zufällige Zeitnähe zum Unfallereignis sei auf der Basis einer
Persönlichkeitsdisposition entscheidend. Auch spiele die Situation der unsicheren und unklaren Wartezeit auf das Ende der
gewohnten Winterpause eine Rolle. Durch den Unfall würden Versorgungswünsche, regressive Bedürfnisse, etwa nach Schonung und
Rückzug, Wünsche nach Zuwendung und Aufmerksamkeit aktiviert (Suche nach Unterstützung und Zuwendung). Der gleiche Grundkonflikt,
im konkurrierenden Sinne, werde durch die Mitteilung der Schwangerschaft der Ehefrau aktiviert (Wegfall von Unterstützung
und Zuwendung sowie zusätzlich weitere Verantwortungsübernahme). Diese auslösende oder aktivierende Funktion des Unfalls hätten
auch andere Ereignisse übernehmen können, ein Autounfall oder ein Sportunfall. Das Unfallereignis sei im naturwissenschaftlichen
Sinne mitauslösend für die Entwicklung der beschriebenen, manifesten Angsterkrankung (Agoraphobie mit Panikstörung und die
somatisierten Beschwerden). Der Unfall sei für das Entstehen der manifesten Angsterkrankung sicherlich nicht "ursächlich"
verantwortlich. Ohne die prädisponierende Persönlichkeitsstruktur sei das Entstehen der geschilderten Erkrankung nicht denkbar.
Eines der genannten Ereignisse (der Unfall oder die Mitteilung über die Schwangerschaft oder auch die Tatsache der Winterpause
mit der bekannten Behandlungssituation) alleine, zusätzlich zur Persönlichkeitsstruktur, hätte wahrscheinlich nicht ausgereicht,
um das Krankheitsbild hervorzurufen. Die prämorbide Persönlichkeit zu diesem Zeitpunkt, ohne die beiden den Grundkonflikt
aktivierenden Ereignisse und/oder die Wartesituation der Winterpause wiederum, wäre wahrscheinlich folgenlos geblieben. Wenn
der Unfall nicht stattgefunden hätte und es auch keine vergleichbare andere Belastung gegeben hätte, was rein fiktiv sei,
dann wäre das jetzige Störungsbild nicht aufgetreten. Dieser fiktiven Annahme stehe jedoch die Wahrscheinlichkeit gegenüber,
dass früher oder später bei einer vergleichbaren Belastung oder Konstellation die Erkrankung ausgelöst worden wäre.
Das SG hat von dem Internisten und Facharzt für psychotherapeutische Medizin Dr. N., der den Kläger während eines stationären Aufenthaltes
vom 25. Februar 1997 bis 8. April 1997 in der Hohenfeld-Klinik, Bad Camberg und auch danach psychotherapeutisch betreut hat,
einen Befundbericht eingeholt. Darin hat Dr. N. bei dem Kläger eine Panikstörung und Somatisierungsstörung bei ängstlich-abhängiger
Persönlichkeitsstruktur diagnostiziert.
Das SG hat durch Urteil vom 11. März 1999 die Beklagte unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide verurteilt, "eine Panikstörung
und Somatisierungsstörung des Klägers als Unfallfolge anzuerkennen und in gesetzlichem Umfang zu entschädigen."
Gegen dieses ihr am 19. Mai 1999 zugestellte Urteil hat die Beklagte mit Schriftsatz vom 11. Juni 1999 am 14. Juni 1999 beim
Hessischen Landessozialgericht Berufung eingelegt.
Der Senat hat auf Antrag des Klägers von dem Ärztlichen Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Gießen, Prof.
Dr. O., ein Gutachten vom 20. Juni 2002 eingeholt, das Prof. Dr. O. unter Mitarbeit der Assistenzärztin P. erstattet hat.
Ein testpsychologisches Teilgutachten zur Beurteilung der intellektuellen Leistungsfähigkeit und des Persönlichkeitsprofils
wurde von der Dipl.-Psych. Q. vom 28. Januar 2002 erstellt. Prof. Dr. O. hat Behandlungsunterlagen des Klägers beigezogen.
Diesbezüglich wird auf Bl. 346 bis 363 der Gerichtsakte verwiesen.
Prof. Dr. O. diagnostizierte bei dem Kläger eine Agoraphobie mit Panikstörung im Sinne einer chronischen posttraumatischen
Belastungsreaktion und Somatisierungsstörung im Sinne einer somatoformen autonomen Funktionsstörung des cardiovasculären Systems,
mittelgradige depressive Episoden und eine ängstlich-abhängige Persönlichkeitsstruktur. Er gelangte zu dem Ergebnis, der Arbeitsunfall
sei grundsätzlich geeignet, die beschriebene Störung bei dem Kläger hervorzurufen. Die Persönlichkeitsstruktur des Klägers
sei bis zu dem Zeitpunkt des Unfalls als unauffällig zu werten, er sei bis zum Unfallzeitpunkt in keiner Weise aufgrund seiner
Persönlichkeitsstruktur leistungsbehindert oder auf therapeutische oder ärztliche Hilfe angewiesen gewesen. Die ängstlich-abhängige
Persönlichkeitsstruktur habe sich nach dem Unfallereignis in der beschriebenen Form entwickelt, die vor dem Zeitpunkt des
Unfallereignisses bestandene Disposition sei diesbezüglich klinisch unauffällig gewesen, d.h. sie habe keinen Krankheitswert
besessen. Es sei davon auszugehen, dass ohne das Unfallereignis die Persönlichkeitsstruktur des Klägers ohne klinische Folgen
geblieben wäre, es keine Behandlungsnotwendigkeit gegeben hätte. Das Unfallereignis sei für die vorhandene Störung des Klägers
verantwortlich, die dadurch bedingte MdE betrage 100 %.
In Bezug auf die Persönlichkeit des Klägers finde sich vor dem Unfallereignis eine unauffällige Persönlichkeit, die leistungsorientiert,
zielstrebig und sozial integriert erscheine. Abhängiges Verhalten und ängstliche Verhaltensmuster würden biographisch nicht
sichtbar. Dies stünde auch im Gegensatz zu dem beruflichen Werdegang des Klägers, der seine Ziele mit den Wünschen nach mehr
Eigenständigkeit in der Verwirklichung in einem eigenen Unternehmen verfolgt und erreicht habe. Es finde sich kein Knick-
oder Leistungsabfall nach Ereignissen von Trennungen im familiären Bereich oder von seiner ersten Ehefrau und den Kindern.
Auch sein Freizeitverhalten scheine nicht von einem besonders überängstlichen Menschen geprägt gewesen zu sei. Seine Urlaubsreisen
zeigten eher eine gewisse Abenteuerlust und Freude an Unbekanntem. Deswegen sei davon auszugehen, dass die Persönlichkeitsstruktur
aufgrund des Unfallereignisses eine Änderung erfahren habe. Aus der medizinischen Fachliteratur sei bekannt, dass Traumatisierungen
so erhebliche Stressoren seien, dass biochemische, psycho-physiologische und sogar morphologische Veränderungen als Reaktion
auf anhaltenden Stress auftreten könnten. Psychodynamische, kognitive und verhaltenstheoretische Konstrukte betonten sowohl
die Relevanz der objektiven Eigenschaften des Traumas wie auch die große Bedeutung der subjektiven Interpretation des Traumas
für die Genese einer posttraumatischen Belastungsstörung. Gelinge die Integration objektiver sowie subjektiver Faktoren des
Erlebten in das bisherige emotionale, kognitive und Beziehungsgefüge des Patienten nicht, so entwickelten sich intensive und
anhaltende posttraumatische Reaktionen. Es bestehe weitgehende Übereinstimmung, dass die Folgen des Traumas und die Symptomatik
der posttraumatischen Belastungsstörung zu überdauernden Persönlichkeitsveränderungen führen könnten. Studien, die retrospektiv
Traumaopfer untersuchten, sollten daher dieses Problem ausreichend berücksichtigen, um nicht prämorbide Persönlichkeitseigenschaften
und Traumafolgen zu verwechseln. Es bestehe ein direkter Zusammenhang mit dem Arbeitsunfall am 9. Dezember 1994 und der Erkrankung
des Klägers. Ohne den Unfall habe der Kläger die posttraumatische Belastungsreaktion nicht entwickeln können. Erschwerend
komme hinzu, dass der Kläger von seinem eigenen Krankheitsverständnis auf eine organische Fixierung festgelegt erscheine.
Der langjährige Rechtsstreit, der wiederholte Untersuchungen nach sich ziehe, trage zu einer Krankheitsfixierung und Verunsicherung
bei. Dies sei bei somatoformen Störungen eine häufig beobachtete negative Verstärkung und trage zu einem chronifizierten ungünstigen
Verlauf bei. Die zugrunde liegende Persönlichkeitsstruktur des Klägers scheine, wie die Dipl.-Psych. Q. in ihrem Teilgutachten
beschreibe, dazu zu neigen, in Belastungssituationen mit mannigfaltigen körperlichen Beschwerden zu reagieren. Diese Reaktionsweise
sei durch den Arbeitsunfall gefördert und ausgelöst worden.
Die Dipl.-Psych. Q. führte in ihrem Teilgutachten aus:
"Die zugrunde liegende Persönlichkeitsstruktur basierend auf der Selbstschilderung des Probanden zeichnet sich durch eine
Trias von ausgeprägter Hysterie, Depression und Hypochondrie aus. Personen mit einer solchen Struktur neigen dazu, in Belastungssituationen
mit der Entwicklung mannigfaltiger körperlicher Beschwerden und depressiver Symptome zu reagieren und sich in übertriebener
Weise mit Körperfunktionen zu beschäftigen und um ihren Gesundheitszustand zu sorgen. Die Weltsicht ist stark geprägt von
depressiven Zügen mit Pessimismus, emotionaler Verstimmung, Gefühlen der Wertlosigkeit und mangelndem Selbstvertrauen. Eine
derart gelagerte Persönlichkeitsstruktur muss nicht zwangsläufig zur Entwicklung von entsprechenden Symptomen führen, es handelt
sich hierbei vielmehr um eine individuell erhöhte Bereitschaft (Vulnerabilität), aufgrund von fehlenden angemessenen Bewältigungsmechanismen
auf Belastungssituationen durch die Entwicklung psychosomatischer und depressiver Symptome zu reagieren. Hinzu kommt bei Herrn
H. eine sehr stark ausgeprägte Erregbarkeit und emotionale Labilität, so dass er dazu neigt, auch auf weniger schwere alltägliche
Schwierigkeiten und Belastungen schon empfindlich, reizbar, ängstlich und unbeherrscht zu reagieren.
Insgesamt ergeben sich aufgrund der testpsychologischen Untersuchung ernstzunehmende Hinweise auf eine massive kognitive Leistungsbeeinträchtigung
mit schweren Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen und ausgeprägten psychischen Problemen. Falls ausgeschlossen werden kann,
dass es sich um hirnorganisch bedingte Persönlichkeitsveränderungen handelt, sprechen die Ergebnisse der Persönlichkeitsdiagnostik
dafür, dass Herr A. bedingt durch seine Primärpersönlichkeit eine erhöhte Bereitschaft hatte, bereits auf weniger schwere
Belastungen massiv zu reagieren, und aufgrund fehlender alternativer Bewältigungsmöglichkeiten auch dazu neigte, auf solche
Belastungen durch die Entwicklung psychosomatischer und depressiver Symptome zu reagieren. Dennoch muss eine derart erhöhte
individuelle Vulnerabilität nicht zwangsläufig zur Entwicklung einer psychischen Störung führen. Es bedarf zusätzlich eines
auslösenden belastenden Ereignisses, welche mit den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten nicht mehr kompensiert werden
kann."
Die Beklagte hat hierzu eine Stellungnahme des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. Q., Q-Stadt, vom 8. September
2002 vorgelegt.
Der Kläger hat geltend gemacht, das vorgelegte Gutachten des Dr. Q. unterliege einem datenschutzrechtlichen Verwertungsverbot
und müsse aus der Gerichtsakte entfernt werden, weil es unter Verstoß gegen datenschutzrechtliche Bestimmungen zustande gekommen
sei. Gemäß §
200 Abs.
2, 1. Halbsatz Sozialgesetzbuch - 7. Buch (
SGB VII) müsse die Beklagte dem Kläger mehrere Gutachter vorschlagen, außerdem sei sie gemäß §
200 Abs.
2, 2. Halbsatz
SGB VII verpflichtet, den Kläger auf sein Widerspruchsrecht nach § 76 Abs. 2 Nr. 1 SGB X hinzuweisen. Die Beklagte hat hierzu geltend gemacht, im sozialgerichtlichen Verfahren finde §
200 Abs.
2 SGB VII keine Anwendung.
Der Kläger hat einen Entlassungsbericht des St. Vinzenz Krankenhauses Limburg vom 11. April 2003 und Entlassungsberichte der
Dr. Horst-Schmidt-Kliniken in Wiesbaden vom 7. Januar 2003 und 29. März 2003 zu den Akten gereicht.
Der Senat hat am 11. August 2003 Prof. Dr. R., Leiter der Sektion Forensische Psychiatrie und Psychotherapie an der Universitätsklinik
für Psychiatrie und Psychotherapie in Tübingen mit der Untersuchung und Begutachtung des Klägers beauftragt. Nachdem der Kläger
eine nervenärztliche Bescheinigung des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie S. vom 4. September 2003 vorgelegt hatte,
wonach es ihm aufgrund des langjährigen Verfahrens, seiner gesundheitlichen Situation und der zahlreichen Vorgutachten nicht
zumutbar sei, sich einer erneuten Begutachtung zu unterziehen, wurde der Sachverständige gebeten, ein Gutachten nach Aktenlage
zu erstatten.
Der Kläger hat hierzu vorgetragen, das Gutachten des Prof. Dr. R. unterliege einem datenschutzrechtlichen Verwertungsverbot,
da es unter Verwendung und Bezugnahme auf das Gutachten des Dr. Q. zustande gekommen sei. Der Kläger reichte eine Stellungnahme
des Bundesbeauftragten für den Datenschutz vom 22. Dezember 2003 zu den Akten.
Der Kläger hat einen Konsiliarbericht der Dipl.-Psych. T. vom 4. Juni 2004 vorgelegt. Darin führt diese aus, der Kläger leide
unter einer posttraumatischen Belastungsreaktion mit Angst- und Panikattacken sowie somatoformen Störungen.
Nachdem das Gutachten des Dr. Q. auf Antrag des Klägers und im Einverständnis mit der Beklagten (siehe Schriftsatz vom 3.
Juni 2004) aus den Akten genommen worden war, wurden diese am 7. Juli 2004 an Prof. Dr. O. weitergeleitet mit der Bitte, zu
dem Gutachten des Prof. Dr. R. Stellung zu nehmen.
Prof. Dr. O. hat unter dem 8. August 2005 eine ergänzende gutachtliche Stellungnahme zu dem Gutachten des Prof. Dr. R. abgegeben.
Auf Antrag der Beklagten hat der Senat in der mündlichen Verhandlung vom 8. November 2005 beschlossen, die Stellungnahme des
Dr. Q. wieder in die Gerichtsakte aufzunehmen. Auf Antrag des Klägers wurden die Gerichtsakten erneut Prof. Dr. O. zugeleitet,
damit dieser auch zu der Stellungnahme des Dr. Q. seine Auffassung mitteilen kann. Prof. Dr. O. hat unter dem 28. April 2006
seine Auffassung bekräftigt. Der Kläger hat seine Auffassung, das Gutachten des Dr. Q. könne nicht Grundlage einer gerichtlichen
Entscheidung sein, nochmals wiederholt.
Der Senat hat mit Urteil vom 20. Juni 2006 auf die Berufung der Beklagten das Urteil des Sozialgerichts aufgehoben, die Klage
abgewiesen und die Anschlussberufung des Klägers, ihm eine Verletztenrente nach einer MdE von 100 v.H. zu zahlen, zurückgewiesen.
Auf die Revision des Klägers hat das Bundessozialgericht durch Urteil vom 5. Februar 2008 - B 2 U 8/07 R - das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 20. Juni 2006 wegen eines Verfahrensmangels in Form der Nichtbeachtung
eines Beweisverwertungsverbots aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht
zurückverwiesen. Das Gutachten des Dr. Q. sei aufgrund eines Verstoßes gegen §
200 Abs.
2 SGB VII in rechtlich unzulässiger Weise zu Stande gekommen. Dieser Rechtsverstoß habe ein Beweisverwertungsverbot nach sich gezogen,
das sich auf das Gutachten des Prof. Dr. R. erstrecke. In dem Gutachten von Prof. Dr. R., auf das sich das Landessozialgericht
ausdrücklich und unmittelbar stütze, werde das Gutachten von Dr. Q. wiedergegeben und das Ergebnis teilweise mit denselben
Überlegungen wie im Gutachten von Dr. Q. begründet.
Im weiteren Verfahren hat der Senat einen Befundbericht des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. U. und der psychologischen
Psychotherapeutin T. eingeholt und deren Behandlungsunterlagen zu den Akten genommen. Dr. U. hat in seinem Bericht vom 26.
Februar 2009 bei dem Kläger eine posttraumatische Belastungsstörung mit Angst- und Panikattacken sowie somatoforme Störungen
diagnostiziert und mitgeteilt, Ursache dieser Gesundheitsstörungen sei der Arbeitsunfall vom 9. Dezember 1994. Frau T. hat
in ihrem Bericht vom 16. Februar 2009 als Diagnosen eine Agoraphobie mit Panikstörung (F 40.01 G) und eine somatoforme autonome
Funktionsstörung (F 45.30 G) genannt.
Aufgrund eines Beschlusses des Senates vom 20. Juni 2011 wurden das Gutachten des Dr. Q. vom 8. September 2002 sowie das Gutachten
des Prof. Dr. R. vom 21. November 2003 und die ergänzenden Stellungnahmen des Prof. Dr. O. vom 8. August 2005 und 28. April
2006 aus der Gerichtsakte entfernt.
Der Senat hat von Amts wegen von dem Arzt für Neurologie und Psychiatrie sowie Psychotherapie Dr. V., Klinik für Psychiatrie
und Psychotherapie in V-Stadt, ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten vom 31. Januar 2013 eingeholt. Der Sachverständige
hat bei dem Kläger auf psychiatrischem Fachgebiet eine Agoraphobie mit Panikstörung (ICD-10: F 40.01) und eine undifferenzierte
Somatisierungsstörung (F 45.1) diagnostiziert. Er gelangte zu der Beurteilung, dass eine posttraumatische Belastungsstörung
im Sinne der ICD-10 (2011) F 43.1 bei dem Kläger nicht diagnostiziert werden könne. Ein Kausalzusammenhang zwischen der diagnostizierten
Agoraphobie mit Panikstörung als auch der undifferenzierten Somatisierungsstörung mit dem Arbeitsunfall könne im Fall des
Klägers nicht bejaht werden. Was für die Entstehung einer Agoraphobie ursächlich sei, sei noch immer unklar. Dies gelte auch
bezüglich einer Somatisierungsstörung. Im Falle einer Agoraphobie oder anderer Angststörungen würden verursachende Bedingungen
im Sinne von Risikofaktoren diskutiert wie erhöhte Vulnerabilität (unter anderem genetische Faktoren für eine erhöhte Ängstlichkeit),
Erziehungseinflüsse, Persönlichkeitsfaktoren; daneben auslösende Faktoren wie traumatische Lernerfahrungen, chronischer Stress,
körperliche Erkrankungen; des weiteren aufrechterhaltende Faktoren wie Vermeidungsverhalten, ungünstiger Umgang mit Angstreaktionen,
Entmutigung durch fehlende Angstkontrolle. Die Einschätzung des Sachverhaltes, ob ein ursächlicher Zusammenhang zwischen einem
Unfallereignis oder allgemeiner einem bestimmten Lebensereignis und einer nachfolgenden Angststörung bestehe bzw. bestehen
könne, sei uneinheitlich. Im Falle einer Somatisierungsstörung oder anderer somatoformer Störungen gebe es ebenfalls Hinweise
auf eine genetische Komponente als Vulnerabilitätsfaktor. Als psychische Risikofaktoren gälten traumatische Ereignisse und
schwierige Lebensbedingungen in der Kindheit und Adoleszenz. Ein so genannter Krankheitsgewinn, z.B. in Gestalt der Vermeidung
von als unangenehm erlebten Arbeitsverpflichtungen oder durch erwünschte Zuwendungen von Seiten der Familie, könne hinzutreten
und zur Aufrechterhaltung der Störungen beitragen. In der Literatur (Foerster und Widder) würden bezüglich der Entstehungsmechanismen
überhaupt denkbarer psychoreaktiver Störungen als Unfallfolgen zunächst als Bedingung gefordert, dass zwischen dem Inhalt
des belastenden Erlebnisses und dem Inhalt der Reaktion ein verständlicher Zusammenhang bestehe. Dies gelte somit auch für
die Frage eines Zusammenhangs zwischen geltend gemachten Unfallfolgen in Gestalt einer somatoformen Störung. Bei fehlenden
oder geringfügigen körperlichen Verletzungen müsse geklärt werden, ob ein psychischer Primärschaden vorgelegen habe, der vollbeweislich
gesichert sein müsse. Es müssten zwei Komponenten betrachtet werden, zum einen der objektive Schweregrad des Ereignisses,
zum anderen der subjektive Schweregrad. Bei Letzterem sei herauszuarbeiten, welche konkrete, außergewöhnliche seelische Beeindruckung
durch das Schadensereignis aufgetreten sei. Im Allgemeinen zwingende Voraussetzung für die Anerkennung eines "fassbaren" psychischen
Primärschadens sei der Nachweis von Symptomen einer akuten Belastungsreaktionen bzw. des A2-Kriteriums der posttraumatischen
Belastungsstörung mit "intensiver Furcht, Hilflosigkeit oder Entsetzen". Im Falle des Klägers sei der objektive Schweregrad
des Ereignisses gering gewesen. Ein psychischer Primärschaden könne nicht mit der nötigen Sicherheit bewiesen werden. Deshalb
sei auch die Diagnosestellung einer posttraumatischen Belastungsstörung nicht nachvollziehbar. Bei dem Kläger hätten sich
nach dem Arbeitsunfall, der praktisch ohne organisch erklärbare körperliche Folgen geblieben und objektiv als leicht zu bezeichnen
sei, körperliche und psychische Symptome entwickelt, die sich am ehesten im Sinne einer Agoraphobie (Angststörung) und einer
undifferenzierten Somatisierungsstörung (somatoforme Störung) festhalten ließen. Beide Störungen seien multifaktoriell bedingt.
Ob eine Agoraphobie überhaupt Unfallfolge sein könne, sei für sich genommen schon strittig. Im Sinne eines Zusammenhangs zwischen
dem Inhalt des Ereignisses und dem Inhalt der abnormen Reaktionen müsse im Falle des Klägers festgestellt werden, dass ein
solcher Zusammenhang nicht bestehe. So zeige er z.B. keine Angst, kein Vermeidungsverhalten gegenüber Baustellen, Gerüsten,
Bauarbeiten etc. sondern eine Angst u.a. vor engen Straßen, vor Menschenansammlungen, Situationen, die nichts mit dem Unfallereignis
gemein hätten. Eine unfallbedingte Verursachung der Agoraphobie lasse sich somit nicht annehmen und beweisen. Bezüglich der
somatoformen Störung gelte das Gesagte, dass hier der psychische Primärschaden nicht mit der nötigen Sicherheit nachzuweisen
sei. Beide Störungen ließen sich folglich ursächlich nicht auf den Unfall zurückzuführen.
Der Kläger hat hierzu geltend gemacht, er habe den Sachverständigen darauf hingewiesen, dass er unter Schlafstörungen leide,
bei denen er vom Unfallgeschehen träume. In solchen Träumen erlebe er den Unfall in Zeitlupe. Regelmäßig kurz vor dem Einschlafen
komme es zu einem starken Gefühl des Fallens und Absackens. Dieses Gefühl sei bis heute für ihn erschreckend. Es habe sich
schließlich eine Höhenangst entwickelt, also eine Angst Leitern und dergleichen zu besteigen. Dass dies vor dem Unfall anders
gewesen sei, erkläre sich von selbst, da er als Bauhandwerker tätig gewesen sei. Eine posttraumatische Belastungsstörung sei
von Prof. Dr. O. in seinem Gutachten, aber auch von Dr. E., Dr. S. und Dr. W. und Dr. N. diagnostiziert worden. Im Übrigen
bestätigte auch der Sachverständige Dr. V., dass das Unfallereignis vom 9. Dezember 1994 und den hieraus resultierenden Folgen
grundsätzlich geeignet sei, die festgestellten Gesundheitsstörungen, nämlich eine Agoraphobie mit Panikstörung und eine undifferenzierte
Somatisierungsstörung zu verursachen.
Der Kläger hat am 24. Juni 2014 ein nervenärztliches Gutachten des Prof. Dr. X. vom 21. Juni 2013 vorgelegt, das Prof. Dr.
X. nach Untersuchung des Klägers am 6. Juni 2013 und nach Befragung des Klägers und dessen Ehefrau erstattet hat.
Prof. Dr. X. ist zu der Beurteilung gelangt, der Kläger leide unter einer andauernden Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung
und damit einhergehenden Kopfschmerzen als Arbeitsunfallfolgen. Der Kläger habe am 9. Dezember 1994 einen Unfall erlebt, "welcher
für ihn eine außergewöhnliche Bedrohung dargestellt" habe. Der Kläger habe den Unfall aus seinem subjektiven Empfinden heraus
als ein Ereignis mit katastrophenartigem Ausmaß erlebt. Der Kläger habe - so seine Angaben - in den Wochen nach dem erlebten
Trauma, allmählich eine immer tiefere Verzweiflung bei sich festgestellt, was den Unfallhergang als solchen als auch die Unfallfolgen
im Einzelnen betreffen. Es hätten sich in der weiteren Folge bei dem Kläger Symptome etabliert, die die Annahme einer gravierenden
posttraumatischen Belastungsstörung gerechtfertigt haben. Hierzu zählten die bei dem Kläger aufgetretenen Erinnerungen, Träume
und Albträume, das Gefühl von Betäubtsein, ein allmählich aufkommendes Rückzugsverhalten, eine sich langsam darstellende Teilnahmslosigkeit
und Freudlosigkeit und vieles mehr. So zum Beispiel eine zunehmende Schreckhaftigkeit, persistierende Schlafstörungen, eine
Einengung der sog. affektiven Schwingungsbreite und auch eine zunehmend zur Belastung werdende Affektlabilität. Das subjektive
Erleben einer Extrembelastung habe bei dem Kläger zu einer andauernden Persönlichkeitsänderung geführt. Die von Dr. V. gestellten
Diagnosen seien auf keinen Fall gerechtfertigt. Die Befunddeskriptionen des Dr. V. erlaubten eine solche diagnostische Zuordnung
nicht. Dr. V. stelle eine Korrelation der von ihm diagnostizierten Störungen zu dem Unfallgeschehen nicht her. Im Fall des
Klägers habe sich erst im Laufe der Zeit die Polysymptomatik einer posttraumatischen Belastungsstörung bzw. einer andauernden
Persönlichkeitsänderung entwickelt. Diese hätten sich in den Jahren, die unmittelbar dem Trauma gefolgt seien, nicht erkennen
lassen. Erst Prof. Dr. O. (2002) habe versucht, diese zu erfassen. Die Kopfschmerzen des Klägers seien als Begleitsymptome
der posttraumatischen Belastungsstörung bzw. der andauernden Persönlichkeitsänderung zu verstehen und zu interpretieren.
Die Beklagte ist der Auffassung, der Arbeitsunfall des Klägers vom 9. Dezember 1994 sei nicht ursächlich für die bei dem Kläger
diagnostizierten psychische Störungen.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Wiesbaden vom 11. März 1999 aufzuheben und die Klage abzuweisen sowie die Anschlussberufung
des Klägers zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen und im Wege der Anschlussberufung die Beklagte zu verurteilen, ihm wegen der Folgen des Arbeitsunfalls
vom 9. Dezember 1994 Rente nach einer MdE von 100 v.H. ab 1. Mai 1995 zu gewähren,
hilfsweise,
a)
das Sachverständigengutachten des Dr. V. aus der Gerichtsakte zu entnehmen und die Abschriften von den Beteiligten herauszuverlangen,
b)
dem Kläger Gelegenheit zu geben, eine ergänzende Stellungnahme des Prof. Dr. X. zu den testpsychologischen Untersuchungsergebnissen
des Dr. V. einzuholen,
weiterhin hilfsweise,
c)
das Gutachten des Prof. Dr. X. dem Dr. V. mit der Bitte um ergänzende Stellungnahme vorzulegen.
Hinsichtlich des Sach- und Streitstandes im Übrigen wird auf die Gerichtsakte und die zum Verfahren beigezogene Verwaltungsakte
der Beklagten, deren Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, Bezug genommen.
Gründe
Die zulässige Berufung der Beklagten ist begründet. Folglich konnte die Anschlussberufung des Klägers keinen Erfolg haben.
Das erstinstanzliche Urteil war aufzuheben, weil nicht mit der notwendigen Wahrscheinlichkeit festgestellt werden kann, dass
der Kläger infolge des Arbeitsunfalls vom 9. Dezember 1994 unter psychischen Gesundheitsstörungen leidet. Deshalb besteht
auch kein Anspruch auf Verletztenrente gemäß § 581 Abs. 1
RVO (-
Reichsversicherungsordnung - deren Vorschriften hier noch anzuwenden sind, weil der Versicherungsfall vor dem 1. Januar 1997, vor Inkrafttreten des
Siebten Buches des Sozialgesetzbuches -
SGB VII -, eingetreten ist und der Kläger Rente ab 1. Mai 1995 begehrt, §§ 212, 214 Abs. 3 SBB VII).
Das Vorliegen eines Gesundheitsschadens (als Unfallfolge) muss ebenso wie die versicherte Tätigkeit, die Verrichtung zur Zeit
des Unfallereignisses und das Unfallereignis mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststehen (Vollbeweise), während
für die Feststellung des Kausalzusammenhangs zwischen Unfallereignis und dem Gesundheitsschaden eine "hinreichende" Wahrscheinlichkeit
genügt (vgl. Wagner in jurisPK -
SGB VII, §
8 Rdnr. 22). Der Nachweis mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit erfordert grundsätzlich die volle Überzeugung des
Gerichts vom Vorliegen oder Nichtvorliegen einer Tatsache. Absolute Gewissheit ist nicht erforderlich, ausreichend ist eine
an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit. Alle Umstände des Falles müssen nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses
des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sein, die volle richterliche Überzeugung zu begründen (vgl.
Keller in Meyer-Ladewig,
SGG, 11. Aufl., §
128 Rdnr. 3b). Eine "hinreichende" Wahrscheinlichkeit ist gegeben, wenn mehr Gründe für als gegen den Ursachenzusammenhang sprechen
(vgl. Keller a.a.O., Rdnr. 3c).
Fest steht, das ist unstreitig, dass der Arbeitsunfall vom 9. Dezember 1994 bei dem Kläger keine länger anhaltenden organischen
Gesundheitsstörungen hinterlassen hat. Der Sturz von dem 1,50 m hohen Bockgerüst hinterließ als sichtbare Verletzungen ein
Kopfschwartenhämatom rechts und Schürfwunden am linken Zeige- und Mittelfinger. Sichere Hinweise auf das Vorliegen einer Gehirnerschütterung
gibt es nicht. Aus dem Durchgangsarztbericht geht hervor, dass weder eine Schwindelsymptomatik noch andere neurologische Auffälligkeiten
nach dem Arbeitsunfall bestanden haben. Auch eine kurzzeitige Gedächtnisstörung lag nicht vor, denn der Kläger konnte in seinem
Schreiben vom 16. Dezember 1994 den Unfallhergang und die nachfolgenden Ereignisse detailliert schildern. Für die von dem
Kläger am 10. Dezember 1994 anlässlich der neurologischen Untersuchung geklagten Beschwerden fand sich aufgrund der durchgeführten
klinischen, röntgenologischen und elektroenzephalographischen Untersuchungen kein erklärender Befund. Zu weiteren Beschwerden
kam es im Januar 1995. Der Neurologe Dr. F. hielt Klagen über Kopfschmerzen, Schwindel, Gleichgewichtsstörungen, Angstzustände,
Reizbarkeit, Konzentrationsstörungen, Sprachstörungen, HWS-Beschwerden und eine Taubheit fest. In der Folgezeit kam es auch
zu herzphobischen Attacken, die zur stationären Aufnahme des Klägers im September 1996 im St. Vinzenz Krankenhaus Limburg
führten. Gegenüber dem Sachverständigen Prof. Dr. M. schilderte der Kläger anlässlich der Untersuchung am 6. und 19. November
1996 Höhenängste, Angst in Aufzügen, Angst in Menschenmengen, beim Einkaufen, beim Busfahren, beim Benutzen von Treppen, beim
Autofahren, Schwindel, Kopfschmerzen, gastrointestinale Beschwerden, Missempfindungen im Bereich der Speiseröhre, Schluckauf,
Blasenstörungen und Störungen der sexuellen Funktion. Die vielfältigen von dem Kläger geklagten Beschwerden haben keinen organischen
Ursprung. Der Kläger leidet vielmehr unter psychischen Gesundheitsstörungen.
Der Sachverständige Dr. V. hat bei dem Kläger eine Agoraphobie mit Panikstörung (ICD-10: F 40.01) und eine undifferenzierte
Somatisierungsstörung (F 45.1) diagnostiziert. Auch Prof. Dr. M. ist in seinem Gutachten davon ausgegangen, dass der Kläger
unter einer Agoraphobie mit Panikstörung und einer Somatisierungsstörung leidet. Frau Y., die den Kläger bis Anfang 2009 ca.
acht Jahre behandelt hatte, diagnostizierte bei dem Kläger in ihrem Bericht vom 16. Februar 2009 eine Agoraphobie mit Panikstörung
und eine somatoforme autonome Funktionsstörung.
Die diagnostische Beurteilung des Dr. V., der die Diagnosekriterien in seinem Gutachten dargelegt hat, ist für den Senat aufgrund
der im Laufe der Jahre seitens der behandelnden Ärzte und Therapeuten des Kläger dokumentierten Beschwerden und Symptome nachvollziehbar
und überzeugend. So wird z.B. im Entlassungsbericht der Hohenfeld-Klinik vom 5. Mai 1997, verfasst von dem Chefarzt Dr. Z.
und der Diplom-Psychologin CC. mitgeteilt, dass es nach den Angaben des Klägers ca. zwei Monate nach dem Unfall zum ersten
Panikanfall mit Herzrasen, Beklemmungs- und Engegefühl im Brustkorb, Atemnot, Schwindel, Schweißausbruch und schließlich Todesangst
gekommen ist, als er während einer Autofahrt als Beifahrer durch einen Tunnel gefahren ist. Seither waren die Angstanfälle
sehr häufig, zunächst nahezu täglich und mit steigender Intensität aufgetreten. Die Panikattacken hatten sich dann auf zuvor
völlig unproblematische Situationen und Orte wie z.B. Kaufhaus, Autofahrten, Menschenmengen, räumliche Enge, Flugzeug ausgeweitet
und es hatte "oft der bloße Gedanke an diese Situationen" gereicht, dann ist es schon losgegangen, so der Bericht des Klägers.
Die psychologische Psychotherapeutin T. führt in ihrem "Bericht an den Gutachter" zur Verlängerung der Psychotherapie (Bl.
493 ff. der Gerichtsakte) aus, der Kläger vermeide Tunnel, Kaufhäuser, allein mit dem Auto unterwegs zu sein und Orte, wo
Ängste erstmals aufgetreten seien. Die Somatisierungsstörung wird belegt durch die ärztlichen Berichte über zahlreiche körperliche
Beschwerden des Klägers, für die keine organische Ursache gefunden wurde.
Eine psychische Gesundheitsstörung in Form einer posttraumatischen Belastungsstörung kann hingegen bei dem Kläger nicht festgestellt
werden. Denn Gesundheitsstörungen müssen - wie bereits dargelegt - im Vollbeweis nachgewiesen werden, d.h. mit an Sicherheit
grenzender Wahrscheinlichkeit (§
128 Abs.
1 SGG), um überhaupt als Unfallfolge in Betracht zu kommen. Dieser Nachweis gelingt hier bezüglich des Vorliegens einer posttraumatischen
Belastungsstörung nicht.
Damit die Feststellung einer psychischen Gesundheitsstörung nachvollziehbar ist, ist eine exakte Diagnose der Krankheit nach
einem der international anerkannten Diagnosesysteme erforderlich (z.B. ICD-10 = Zehnte Revision der internationalen statistischen
Klassifikation der Krankheit und verwandter Gesundheitsprobleme der WHO aus dem Jahre 1989, vom Deutschen Institut für medizinische
Dokumentation und Informationen - DIMDI - ins Deutsche übertragen, herausgegeben und weiter entwickelt; DSM-IV = diagnostisches
und statistisches Manual psychischer Störungen der Amerikanischen psychiatrischen Vereinigung aus dem Jahre 1994, deutsche
Bearbeitung herausgegeben von Saß/Wittchen/Zaudisch, 3. Auflage 2001) unter Verwendung der dortigen Schlüssel und Bezeichnungen
(BSG, Urteil vom 9. Mai 2006 - B 2 U 1/05 R - in Juris).
Dr. V. hat anhand dieser Diagnosekriterien für den Senat überzeugend dargelegt, dass eine posttraumatische Belastungsstörung
bei dem Kläger nicht vorliegt.
Für eine posttraumatische Belastungsstörung wird nach ICD-10 (2011) F 43.1 gefordert:
A. Die Betroffenen sind einem kurz oder lang anhaltenden Ereignis oder Geschehen von außergewöhnlicher Bedrohung oder mit
katastrophalem Ausmaß ausgesetzt, das nahezu bei jedem Menschen tiefgreifende Verzweiflung auslösen würde.
B. Anhaltende Erinnerungen oder Wiedererleben der Belastung durch aufdringliche Nachhallerinnerungen ("Flashbacks"), lebendige
Erinnerungen, sich wiederholende Träume oder innere Bedrängnis in Situationen, die der Belastung ähneln oder mit ihr in Zusammenhang
stehen.
C. Umstände, die der Belastung ähneln oder mit ihr in Zusammenhang stehen, werden tatsächlich oder möglichst vermieden. Dieses
Verhalten bestand nicht vor dem belastenden Ereignis.
D. Entweder 1. oder 2.
1. Teilweise oder vollständige Unfähigkeit, einige gewichtige Aspekte der Belastung zu erinnern.
2. Anhaltende Symptome einer erhöhten psychischen Sensibilität und Erregung mit zwei der folgenden Merkmale:
a) Ein- und Durchschlafstörungen
b) Reizbarkeit oder Wutausbrüche
c) Konzentrationsschwierigkeiten
d) Hypervigilanz
e) erhöhte Schreckhaftigkeit
E. die Kriterien B, C und D treten innerhalb von 6 Monaten nach dem belastenden Ereignis oder nach Ende einer Belastungsperiode
auf.
Nach der amerikanischen Klassifikation DSM-IV-TR (2003) 309.81 werden als Eingangskriterien aufgeführt:
A. Die Person wurde mit einem traumatischen Ereignis konfrontiert, bei dem die beiden folgenden Kriterien vorhanden waren:
1. Die Person erlebte, beobachtete oder war mit einem oder mehreren Ereignissen konfrontiert, das tatsächlichen oder drohenden
Tod oder ernsthafte Verletzung oder eine Gefahr der körperlichen Unversehrtheit der eigenen Person oder anderer Personen beinhaltete.
2. Die Reaktion der Person umfasste intensive Furcht, Hilflosigkeit oder Entsetzen.
Das Kriterium A1 ist weiter gefasst als das Kriterium A der ICD-10 und es kommen weniger schwere Ereignisse als Bedingung
einer posttraumatischen Belastungsstörung in Betracht. Die einzelnen Kriterien, die zur Diagnosestellung weiter erfüllt sein
müssen (Kriterien B bis D), entsprechen den Kriterien der ICD-10.
Das A2 Kriterium beinhaltet erlebnisbezogene Merkmale, die nach Aussage des Dr. V. als sogenannte Schockreaktion auf ein Ereignis
zu verstehen sind.
Dieses Kriterium stellt im rechtlichen Kontext den zu fordernden Primärschaden (Schockschaden) dar, aus dem heraus sich dann
im Verlauf die weiteren Beschwerden bzw. Symptome entwickeln (Kriterien B bis D), die als Folgeschaden aufgefasst werden können.
Wie jede andere Gesundheitsstörung muss auch das Vorliegen eines Primär- und Folgeschadens mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit
im Sinne des "Vollbeweises" nachgewiesen sein.
Der Kläger erfüllt schon nicht das Kriterium A, weder nach ICD-10 noch nach DSM IV TR. Der Arbeitsunfall vom 9. Dezember 1994
ist vom objektiven Schweregrad her eher als gering zu bezeichnen. Der Kläger stürzte nicht aus großer Höhe von einem Gerüst
oder einer Leiter. Auch die mit dem Unfall einhergehenden Verletzungen waren leichterer Art. In subjektiver Hinsicht, das
individuelle Erleben des Klägers betreffend, kann das Unfallereignis nicht als "schwer" beurteilt werden. In den Akten finden
sich keine Hinweise auf eine in unmittelbarer zeitlicher Nähe zum Unfallereignis erfolgte erhebliche ausgeprägte psychische
Primärreaktion. Insbesondere finden sich in den Akten keine Hinweise darauf, dass das Unfallereignis als solches bei dem Kläger
eine intensive Furcht, ein Gefühl der Hilflosigkeit oder ein Entsetzen ausgelöst hat. Den Schilderungen des Klägers in den
ärztlichen Befunderhebungen kann auch nicht entnommen werden, dass dieser nach dem Unfallereignis unter "Schock" gestanden
hätte. Dies gilt auch für die Schreiben des Klägers an die Beklagte vom 12. Dezember 1994 und 26. Dezember 1994. In den Schreiben
schildert der Kläger ausführlich den Unfallhergang und die dabei aufgetretenen Gesundheitsstörungen. Angaben über eine bei
oder kurz nach dem Unfallereignis erlebte erhebliche und beeinträchtigende psychische Primärreaktion der oben genannten Art
finden sich nicht.
Auch die unter B genannten Kriterien lassen sich bei dem Kläger nicht sicher feststellen: Die zahlreichen Beschwerdeschilderungen
des Klägers gegenüber den verschiedenen, ihn im Laufe der Jahre behandelnden Ärzte und Therapeuten enthalten auch keine Angaben
über ein angstbesetztes intensives Wiedererleben des Unfallereignisses, weder tagsüber noch im Laufe der Nacht. Solche Angaben
machte der Kläger auch nicht während seiner Untersuchung durch Prof. Dr. O. und die Stationsärztin P. In den ärztlichen und
therapeutischen Behandlungsberichten finden sich auch keine Angaben über ein themenspezifisches Vermeidungsverhalten des Klägers.
Die von dem Kläger geschilderten Ängste - Angstanfall bei der Fahrt durch einen Tunnel, Angst in Aufzügen, Angst beim Autofahren,
beim Durchfahren eines engen Tales, Angst in Menschenmengen, beim Einkaufen, beim Busfahren, beim Benutzen von Treppen und
Angst vorm Fliegen - haben keinen inhaltlichen Bezug zu dem Unfallereignis. Auch wenn der Kläger außerdem Angst verspürt,
auf Leitern zu steigen, kann dieser Umstand allein nicht als "Vermeidungsverhalten" im Sinne einer posttraumatischen Belastungsstörung
interpretiert werden, weil der Kläger daneben unter zahlreichen anderen Ängsten mit Vermeidungsverhalten leidet, bei denen
ein thematischer Zusammenhang mit dem Unfallereignis nicht festzustellen ist. Die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung,
wie sie von den Sachverständigen Prof. Dr. O. und den Neurologen Dr. E. und Dr. S. sowie Prof. Dr. X. gestellt wurde, kann
folglich nicht als gesichert gelten. Die jüngsten Angaben des Klägers - Schriftsatz vom 26. März 2013 - er leide unter Schlafstörungen,
bei denen er vom Unfallgeschehen träume, in solchen Träumen erlebe er den Unfall in Zeitlupe wieder und es komme regelmäßig
kurz vor dem Einschlafen zu einem starken Gefühl des Fallens und Absackens, führen zu keiner anderen Beurteilung. Denn solche
Angaben finden sich in den bisherigen zahlreichen Beschwerdeschilderungen des Klägers gegenüber den verschiedenen ihn im Laufe
der Jahre behandelnden Ärzte und Therapeuten nicht. Diesen Angaben kommt so viele Jahre nach dem Unfallereignis kein entscheidender
Beweiswert zu. Außerdem fehlen zur Feststellung einer posttraumatischen Belastungsstörung die Voraussetzungen des A1- und
A2-Kriteriums nach DSM-IV.
Die Beurteilung des Prof. Dr. X., der das Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung bei dem Kläger bejaht und eine
andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung diagnostiziert, konnte den Senat nicht überzeugen. Das Vorliegen eines
der A-Kriterien wird von Prof. Dr. X. nicht überzeugend dargelegt und begründet. So führt er aus, der Unfall habe für den
Kläger eine außergewöhnliche Bedrohung dargestellt, der Kläger habe den Unfall als ein Ereignis mit katastrophenartigem Ausmaß
erlebt. Prof. Dr. X. verwendet das nach ICD-10 F43.1 objektive A-Kriterium als subjektives. Er bezieht sich dabei allein auf
die Aussagen des Klägers, ohne dass transparent wird, weshalb das Unfallereignis als solches dieses subjektive Erleben des
Klägers hervorgerufen hat. Zudem wird nicht der Versuch unternommen, diese Angaben des Klägers durch zeitnah nach dem Unfallereignis
festgehaltene Beobachtungen ärztlicherseits oder zeitnahe Angaben des Klägers zu verifizieren. Hinsichtlich der unter B genannten
Kriterien führt Prof. Dr. X. aus, bei dem Kläger hätten sich nach dem Unfallereignis in der weiteren Folge Symptome wie auftretende
Erinnerungen, Träume und Albträume etabliert, ohne dass diese Angaben durch frühere Aussagen und Schilderungen des Klägers
belegt werden. Das tatsächliche Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung mit den hierfür typischen Symptomen wird
nicht belegt und überzeugend begründet. Der Beurteilung des Prof. Dr. X., der Kläger leide in Folge des Arbeitsunfalls an
einer posttraumatischen Belastungsstörung, kann der Senat deshalb nicht folgen. Dies gilt auch für die Auffassung des Prof.
Dr. X., die durch den Arbeitsunfall entstandene Extrembelastung habe bei dem Kläger zu einer Persönlichkeitsänderung geführt.
Da schon nicht erwiesen ist, dass der Arbeitsunfall bei dem Kläger eine psychische Primärreaktion verursacht hat, die zu einer
posttraumatischen Belastungsstörung geführt hat, fehlt auch das kausale Bindeglied zwischen Arbeitsunfall und einer andauernden
psychischen Extrembelastung.
Die bei dem Kläger bestehenden psychische Gesundheitsstörungen in Form einer Agoraphobie mit Panikstörung und undifferenzierter
Somatisierungsstörung können nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ursächlich auf das Unfallereignis vom 9. Dezember
1994 zurückgeführt werden. Denn es sprechen mehr Gründe gegen als für den Kausalzusammenhang. Dies gilt auch unter der Annahme,
dass ein ursächlicher Zusammenhang zwischen einem Unfallereignis oder einem bestimmten Lebensereignis und einer nachfolgenden
Angststörung bzw. Somatisierungsstörung grundsätzlich bestehen kann. Dr. V. hat unter Verweis auf die medizinisch-wissenschaftliche
Fachliteratur (Foerster und Widder, "Psychoreaktive Störungen", in: Widder, Gaidzik, "Begutachtung in der Neurologie", Thieme
2011, Seite 528) dargelegt, dass nach äußeren Einwirkungen neben den Hauptgruppen (akute Belastungsreaktionen, F 43.0; posttraumatische
Belastungsstörung, F 43.1; Anpassungsstörung, F 43.2 und andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung F 62.0) auch
weitere psychopathologische Syndrome nach äußeren Ereignissen auftreten können, jedoch bei fehlenden oder geringfügigen körperlichen
Verletzungen ein psychischer Primärschaden feststellbar sein muss. Auch muss zwischen dem Inhalt der belastenden Erlebnisse
und dem Inhalt der Reaktion ein verständlicher Zusammenhang bestehen. Hinsichtlich des psychischen Primärschadens "ist herauszuarbeiten,
welche konkrete, außergewöhnliche seelische Beeindruckung durch das Ereignis auftrat. Im Allgemeinen ist zwingende Voraussetzung
für die Anerkennung eines "fassbaren" psychischen Primärschadens der klare Nachweis von Symptomen einer akuten Belastungsreaktion
bzw. des A2-Kriteriums der posttraumatischen Belastungsstörung mit intensiver Furcht, Hilflosigkeit oder Entsetzen" (so das
Zitat des Sachverständigen aus der medizinischen Fachliteratur).
Im Falle des Klägers fehlt es, wie bereits dargelegt, an diesen Voraussetzungen. Das Unfallereignis hatte, worauf auch Prof.
Dr. M. hingewiesen hat, für die Psyche des Klägers an sich keine belastende bzw. verletzende, traumatisierende Folge.
Der Senat musste sich nicht veranlasst sehen, den Hilfsanträgen des Klägers stattzugeben.
Das Gutachten des Dr. V. war nicht aus der Akte zu entfernen. Das Gutachten unterliegt nicht einem Beweisverwertungsverbot.
Der Sachverständige hat in seinem Gutachten den Akteninhalt zusammenfassend dargestellt und dabei auch die Stellungnahmen
der Beteiligten wiedergegeben, darunter auch die Stellungnahmen der Beklagten vom 11. Oktober 2002, 10. Dezember 2003 und
22. Mai 2006. In den beiden ersten Schriftsätzen bringt die Beklagte zum Ausdruck, dass sie sich durch die Ausführungen des
Dr. Q. bzw. das Gutachten des Prof. Dr. R. in ihrer Auffassung bestätigt sieht, im letzten Schriftsatz bringt sie zum Ausdruck,
die ergänzenden Ausführungen des Prof. Dr. O. seien nicht geeignet, die Feststellungen des Dr. Q. und Prof. Dr. R. zu widerlegen.
Die Kenntnisnahme und die Wiedergabe des Inhalts dieser Stellungnahmen der Beklagten führt nicht zur Unverwertbarkeit des
Gutachtens Dr. V. Das Beweisverwertungsverbot, das sich auf die Gutachten des Dr. Q. und des Prof. Dr. R. erstreckt (vgl.
Urteil des BSG vom 5. Februar 2008 - B 2 U 8/07 R -), entfaltet keine Wirkung auf das bloße Vorbringen der Beklagten in deren Schriftsätzen. Denn eine mögliche Fernwirkung
eines Beweisverwertungsverbots kann nur (weitere) Beweismittel erfassen (so BSG, Urteil vom 11. April 2013 - B 2 U 34/11 R - in Juris). Die Kenntnisnahme von dem Vorbringen der Beklagten durch den Sachverständigen Dr. V. kann deshalb auch keine
Fernwirkung des die Gutachten Dr. Q. und Prof. Dr. R. betreffenden Beweisverwertungsverbots auf das Gutachten des Dr. V. entfalten.
Auch dem Antrag, das Gutachten des Prof. Dr. X. Dr. V. zur ergänzenden Stellungnahme vorzulegen, musste der Senat nicht folgen.
Der Senat hält die Beurteilungen des Dr. V. für nachvollziehbar und überzeugend begründet, das Gutachten des Prof. Dr. X.
konnte daran keine Zweifel wecken. Die Beurteilung des Dr. V., wonach bei dem Kläger die Diagnosekriterien einer posttraumatischen
Belastungsstörung nicht erfüllt sind, stimmt zudem überein mit den Beurteilungen des Prof. Dr. L. und des Prof. Dr. M., die
ihre Auffassung ebenfalls begründet haben.
Dem Kläger musste von dem Senat auch nicht Gelegenheit gegeben werden, eine ergänzende Stellungnahme des Prof. Dr. X. zu den
testpsychologischen Untersuchungsergebnissen des Dr. V. einzuholen. Der Sachverständige Dr. V. hat in seinem Gutachten Seite
41 - 44 die von ihn verwandten psychologischen Testverfahren jeweils namentlich benannt, deren diagnostische Ausrichtung,
die zu lösenden Aufgaben, die Testauswertung und das Ergebnis im Falle des Klägers im Einzelnen ausführlich beschrieben. Diese
Ausführungen, die Bestandteil des Gutachtens sind, lagen Prof. Dr. X. vor. Die von dem Sachverständigen Dr. V. seinem Gutachten
beigefügten Anlagen hat der Kläger seinen Angaben zufolge nicht mit dem Gutachten erhalten. Die Anlagen wurden dem Kläger
per Telefax am 20. Juni 2014 übermittelt. Unter den Anlagen befinden sich die zu den fünf durchgeführten Testverfahren gehörenden
einseitigen Auswertungsbögen, auf denen das jeweilige Testergebnis eingetragen wurde. Da die Auswertungsbögen keine über die
Erläuterungen des Testergebnisses im Gutachten selbst (Seite 41 - 44) hinausgehenden Informationen enthalten, hat es der Senat
nicht für notwendig erachtet, den Rechtsstreit zu vertagen, um dem Antrag des Klägers nachzukommen.
Da bei dem Kläger eine posttraumatische Belastungsstörung nicht sicher festgestellt werden kann und die bei dem Kläger vorliegenden
psychischen Gesundheitsstörungen nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ursächlich auf den Arbeitsunfall zurückgeführt
werden können, war auf die Berufung der Beklagten das Urteil des Sozialgerichts Wiesbaden vom 11. März 1999 aufzuheben und
die Klage abzuweisen. Die Anschlussberufung des Klägers konnte folglich keinen Erfolg haben und war zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus §
193 SGG, die über die Nichtzulassung der Revision aus §
160 SGG.