LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 16.04.2015 - 5 KR 254/14
Anspruch auf Krankengeld in der gesetzlichen Krankenversicherung; Keine Beschränkung der Anspruchsdauer bei einer ärztlich
festgestellten Arbeitsunfähigkeit "bis auf Weiteres"
Bescheinigt der Arzt Arbeitsunfähigkeit ohne Angabe eines Endzeitpunkts bis auf Weiteres, so lässt sich der Angabe eines Wiedervorstellungstermins
nicht entnehmen, dass die Dauer der Arbeits- unfähigkeit bis zu diesem Termin beschränkt sein soll.
Bescheinigt der Arzt Arbeitsunfähigkeit ohne Angabe eines Endzeitpunkts bis auf Weiteres, so lässt sich der Angabe eines Wiedervorstellungstermins
nicht entnehmen, dass die Dauer der Arbeits- unfähigkeit bis zu diesem Termin beschränkt sein soll.
Fundstellen: NVwZ 2015, 7
Tenor 1.
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 14.10.2014 wird zurückgewiesen.
2.
Die Beklagte trägt auch die außergerichtlichen Kosten der Klägerin im Berufungsverfahren.
3.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Entscheidungstext anzeigen:
Tatbestand
Streitig ist, ob die Klägerin einen Anspruch auf Zahlung von Krankengeld über den 02.08.2013 hinaus bis zum 23.10.2013 hat.
Die 1963 geborene Klägerin, die bei der Beklagten krankenversichert ist, erkrankte am 05.04.2013 arbeitsunfähig. In der von
der Gemeinschaftspraxis Dr. M /Dr. S , Ärzte für Allgemeinmedizin, Sportmedizin- Phlebologie, Spezielle Schmerztherapie, ausgestellten
Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung wird als Diagnose M47.22G nach ICD 10 (Sonstige Spondylose mit Radikulopathie: Zervikalbereich)
genannt. Die Klägerin, die Arbeitslosengeld nach dem Dritten Buch Sozialgesetzbuch ( SGB III) bezog, erhielt zunächst Leistungsfortzahlung durch die Bundesagentur für Arbeit. Ab dem 23.05.2013 gewährte die Beklagte
ihr Krankengeld. Auf Anfrage der Beklagten teilten Dr. M und Dr. S am 10.06.2013 mit, die Dauer der Arbeitsunfähigkeit sei
unbestimmt. Am 11.07.2013 vermerkte der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK), die Klägerin habe am 23.07.2013
einen Termin bei einem Neurochirurgen, bis dahin sei Arbeitsunfähigkeit vorerst begründet. Im Auszahlschein der Gemeinschaftspraxis
Dr. M /Dr. S vom 24.07.2013 ist angegeben, die Klägerin sei bis auf Weiteres arbeitsunfähig. Sie sei zum 08.08.2013 wiederbestellt.
Am 29.07.2013 vermerkte Medizinaldirektor H , MDK, die Klägerin habe zuletzt bei einer Vorstellung letzte Woche über Schmerzen
geklagt. Sie habe einen Termin bei einem Facharzt für Neurochirurgie. Weitere Arbeitsunfähigkeit sei nur zu akzeptieren, wenn
sie vom Facharzt für Neurochirurgie begründet werde, ansonsten bestehe ein positives Leistungsbild. Mit Bescheid vom 29.07.2013
teilte die Beklagte der Klägerin mit, sie sei ab dem 03.08.2013 in der Lage, sich dem allgemeinen Arbeitsmarkt gemäß ihrem
Leistungsbild zur Verfügung zu stellen. Hiergegen legte die Klägerin Widerspruch ein. Sie legte einen weiteren Auszahlschein
der Praxis Dr. M /Dr. S vom 15.08.2013 vor, in dem bescheinigt wird, dass die Klägerin bis auf Weiteres arbeitsunfähig sei
und der letzte Tag der Arbeitsunfähigkeit nicht absehbar sei. In einem Auszahlschein vom 23.08.2013 werden die gleichen Angaben
gemacht. Ferner reichte die Klägerin ein Attest der Praxis Dr. M und Dr. S vom 29.08.2013 zu den Akten, in dem ausgeführt
wird, sie leide an einem chronischen Schmerzsyndrom mit Exacerbation der rechten Schulter im Sinne einer PHS (Periarthritis
humeroscapularis) sowie Lumboischialgie bei multiplen Bandscheibenvorfällen. Sie sei weiterhin arbeitsunfähig. Der MDK-Arzt
H bat in einer Stellungnahme vom 02.09.2013 um Überprüfung der Arbeitsunfähigkeit durch den MDK K . Dieser teilte der Beklagten
am 23.09.2013 mit, die Klägerin habe den Untersuchungstermin nicht wahrgenommen. Am 01.10.2013 bat die Beklagte den MDK um
die erneute Vergabe eines Untersuchungstermins. Die Klägerin reichte einen Bericht des Dr. B , Chefarzt der Abteilung für
Orthopädie und Unfallchirurgie, K krankenhaus W , vom 20.09.2013 über eine ambulante Behandlung am 16.09.2013 zu den Akten.
Es werden folgende Diagnosen genannt: Epicondylitis humeri radialis rechts, erhebliche Osteochondrosis und Spondylosis deformans
cervicalis punctum maximum HWK III/IV mit multiplen Protrusionen und Vorfällen der Halswirbelsäule (HWS), Zustand nach Kniegelenks-Arthroskopie
links, 2011, Nikotin-Abusus. Die HWS habe sich in der Beweglichkeit deutlich schmerzhaft gezeigt. Am 23.10.2013 wurde die
Klägerin vom Arzt im MDK Dr. S begutachtet. Er führte aus, bei der Untersuchung habe sich eine endgradige Bewegungseinschränkung
in beiden Schultern sowie in der HWS mit Angaben von Sensibilitätsstörungen im rechten Arm gezeigt. Unter Berücksichtigung
dieser Funktions- und Fähigkeitsstörungen könne die Klägerin ihre zuletzt ausgeübte Tätigkeit als Geschäftsführerin einer
Videothek derzeit nicht ausüben. Sie sei jedoch in der Lage, unter Berücksichtigung der genannten Einschränkungen eine zumindest
leichte körperliche Tätigkeit in wechselnder Körperhaltung auszuüben. Dieses Leistungsbild dürfte auch schon seit August 2013
vorgelegen haben. Durch Widerspruchsbescheid vom 09.12.2013 wies die Beklagte den Widerspruch zurück und führte zur Begründung
aus, die Arbeitsunfähigkeit der Klägerin habe nach den Feststellungen des MDK am 02.08.2013 geendet.
Hiergegen hat die Klägerin am 09.01.2014 Klage beim Sozialgericht Koblenz erhoben. Sie hat weitere ärztliche Unterlagen vorgelegt.
Dr. B , K krankenhaus W , diagnostizierte in einem Arztbrief vom 08.10.2013 eine akute Tendinitis calcarea links. In einem
weiteren Arztbrief vom 18.11.2013 empfahl er eine Vorstellung bei einem Neurochirurgen. Die Beklagte hat ein Gutachten des
Dr. S vom 10.02.2014 vorgelegt, der mitgeteilt hat, aus den vorgelegten Unterlagen ergäben sich auch weiterhin keine Begründungen
für ein "aufgehobenes Leistungsbild". Der Arzt im MDK L , Facharzt für Chirurgie und Sozialmedizin, hat in seinem Gutachten
vom 14.02.2014 ausgeführt, im Jahr 2013 seien bei der Klägerin meist nur geringfügige, zeitweise - im September bis Oktober
- auch erhebliche bzw. mittelgradige funktionelle Einschränkungen des Bewegungsapparats festgestellt worden, die aber jeweils
nur bestimmte Tätigkeiten verhinderten, niemals aber eine zum Beispiel vollschichtige leichte Tätigkeit zu ebener Erde ohne
Zwangshaltungen und bis Tischhöhe. Auf Anfrage hat die Klägerin mitgeteilt, dass sie ab dem 24.11.2013 aufgrund einer anderen
Erkrankung Krankengeld bezog. Das Sozialgericht hat ein Gutachten bei dem Facharzt für Orthopädie Dr. H vom 05.06.2014 eingeholt.
Dieser hat folgende Diagnosen gestellt: myostatisches und teils fortgeschrittenes degeneratives Halswirbelsäulensyndrom mit
Cervicobrachialgie rechts bei mehrsegmentalen Protrusionen, Prolaps; femoropatellares Schmerzsyndrom Kniegelenk rechts bei
initialen Verschleißerscheinungen, Patella bipatita, myostatisches Lendenwirbelsäulensyndrom ohne wesentliche Verschleißerscheinungen.
Dr. H ist zu dem Ergebnis gelangt, dass die Klägerin bis 23.10.2013 nicht mehr in der Lage war, vollschichtig irgendeine Tätigkeit
auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu verrichten. Dies gehe aus der körperlichen Untersuchung im K krankenhaus W vom 16.09.2013
hervor. Erst durch die Untersuchung des MDK am 23.10.2013 sei dokumentiert, dass nur noch eine endgradige Einschränkung der
HWS und der Schultern beidseits vorgelegen habe. Die Beklagte hat ein Gutachten des Arztes im MDK L vom 05.08.2014 vorgelegt,
die ausgeführt haben, vom Krankenhaus W sei am 16.09.2013 keine Bewegungseinschränkung, sondern nur eine Schmerzäußerung der
Klägerin dokumentiert worden. Aus den erhobenen Befunden könne keine "so erhebliche Funktionseinschränkung - streng genommen
eigentlich gar keine Funktionseinschränkung - gefolgert werden".
Durch Urteil vom 14.10.2014 hat das Sozialgericht Koblenz die Beklagte unter Aufhebung des angefochtenen Bescheides verpflichtet,
der Klägerin über den 02.08.2013 hinaus bis zum 23.10.2013 Krankengeld zu gewähren. Zur Begründung hat es im Wesentlichen
ausgeführt, die Klägerin sei im streitigen Zeitraum arbeitsunfähig im Sinne des § 44 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch ( SGB V) gewesen. Dies folge zunächst aus den von den behandelnden Ärzten Dr. M und Dr. S ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen.
Sie hätten ihre Einschätzung in ihrer Stellungnahme vom 29.08.2013 nochmals bekräftigt. Diese ärztlichen Feststellungen seien
durch die Ausführungen des MDK nicht widerlegt worden. In seiner Stellungnahme vom 29.07.2013 habe der MDK lediglich mitgeteilt,
dass eine weitere Arbeitsunfähigkeit nur dann zu akzeptieren sei, wenn der Facharzt diese begründen würde. Eigene Erhebungen
zum Leistungsbild der Klägerin durch den MDK fehlten. Der Bescheid vom 02.08.2013 beruhe daher nicht auf Feststellungen des
MDK. Auch der Sachverständige Dr. H sei von einer Arbeitsunfähigkeit der Klägerin bis zum 23.10.2013 ausgegangen.
Gegen das ihr am 03.11.2014 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 02.12.2014 Berufung eingelegt. Sie macht geltend, die Klägerin
habe die geklagten Beschwerden nie neurochirurgisch abklären lassen und keine objektivierbaren Befunde vorgelegt. Entgegen
der Auffassung des Dr. H lasse sich aus dem Krankenhausbericht des K krankenhauses W vom 20.09.2013 keine Arbeitsunfähigkeit
herleiten. Es sei nicht festgestellt worden, dass die Bewegung der Halswirbelsäule eingeschränkt gewesen sei. Am 08.10.2013
sei festgestellt worden, dass die Halswirbelsäule frei beweglich gewesen sei. Dass bei der Klägerin eine endgradige Bewegungseinschränkung
wegen der degenerativen Veränderungen der Halswirbelsäule und beider Schultern bestehe, stehe außer Frage. Wie jedoch der
MDK im Rahmen seiner persönlichen Begutachtung am 23.10.2013 festgestellt habe, sei aus diesen Einschränkungen keine Arbeitsunfähigkeit
herzuleiten. Darüber hinaus lägen die notwendigen ärztlichen Feststellungen bis zum 23.10.2013 nicht vor. Ausweislich des
Auszahlscheins vom 24.07.2013 sei die Klägerin zum 08.08.2013 wieder bestellt worden. Der nächste Auszahlschein sei jedoch
erst am 15.08.2013 ausgestellt worden. Bereits aus diesem Grund sei ein Krankengeldanspruch über den 02.08.2013 hinaus bis
zum 23.10.2013 zu verneinen.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 14.10.2014 aufzuheben und die Klage abzuweisen,
hilfsweise, die Revision zuzulassen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und macht geltend, sie habe lückenlose Krankmeldungen vorgelegt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes nimmt der Senat Bezug auf die Prozessakte und die Verwaltungsakte
der Beklagten. Der Inhalt der Akten war Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Beratung.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung ist unbegründet. Das Sozialgericht hat der Klage zu Recht stattgegeben. Die Klägerin hat Anspruch auf
Zahlung von Krankengeld über den 02.08.2013 hinaus bis zum 23.10.2014. Zur Begründung nimmt der Senat gemäß § 153 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz ( SGG) auf die zutreffenden Ausführungen des Sozialgerichts Bezug. Das Berufungsvorbringen der Beklagten rechtfertigt keine andere
Beurteilung.
Auch unter Berücksichtigung der Ausführungen der Beklagten steht zur Überzeugung des Senats fest, dass die Klägerin im streitigen
Zeitraum nicht in der Lage war, leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vollschichtig zu verrichten. Diese Einschätzung
stützt der Senat im Wesentlichen auf die Feststellungen der behandelnden Ärzte Dr. M und Dr. S sowie das Gutachten des Sachverständigen
Dr. H vom 05.06.2014. Wie schon das Sozialgericht dargelegt hat, bestehen keine Zweifel an der Beurteilung der behandelnden
Ärzte. Die Ausführungen des MDK, der die Klägerin erstmals am 23.10.2014 persönlich untersucht hat, vermögen die Beurteilung
des Dr. M und des Dr. S nicht zu widerlegen. Schließlich hat Dr. H in seinem überzeugenden Gutachten nach Auswertung sämtlicher
Unterlagen bestätigt, dass die Klägerin aufgrund ihrer Einschränkungen im Bereich der Halswirbelsäule und der Schulter arbeitsunfähig
war.
Soweit die Beklagte nunmehr erstmals im Berufungsverfahren geltend macht, die notwendige ärztliche Feststellung der Arbeitsunfähigkeit
habe nicht vorgelegen, trifft dies nicht zu. Nach § 46 Satz 1 Nr. 2 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch ( SGB V) entsteht der Anspruch auf Krankengeld von dem Tag an, der auf den Tag der ärztlichen Feststellung der Arbeitsunfähigkeit
folgt. Der Versicherte ist verpflichtet, rechtzeitig vor dem Ende der zuletzt bescheinigten Arbeitsunfähigkeit erneut einen
Arzt aufzusuchen, um die Fortdauer der Arbeitsunfähigkeit feststellen zu lassen (vgl. im Einzelnen BSG 04.03.2014 - B 1 KR 17/13 R, [...]). Vorliegend wurde der Klägerin im Auszahlschein vom 24.07.2013 Arbeitsunfähigkeit bis auf Weiteres bescheinigt. Zwar
wurde angegeben, dass die Klägerin zum 08.08.2013 wieder bestellt sei, dieser Angabe kann vorliegend indessen nicht entnommen
werden, dass die Dauer der Arbeitsunfähigkeit bis zu diesem Zeitpunkt beschränkt werden sollte. Im Übrigen kann auch dem Aktenvermerk
des MDK vom 29.07.2013 entnommen werden, dass sowohl Dr. S als auch der MDK von einer weiteren Arbeitsunfähigkeit, zumindest
bis zur Untersuchung der Klägerin durch einen Neurochirurgen, ausgegangen sind. Die behandelnden Ärzte haben sodann in Auszahlscheinen
vom 15.08.2013 und 23.08.2013 erneut Arbeitsunfähigkeit bis auf Weiteres festgestellt und angegeben, dass der letzte Tag der
Arbeitsunfähigkeit nicht absehbar sei (vgl. auch LSG Berlin-Brandenburg 02.10.2013 - L 1 KR 346/11, [...] Rn. 23 ff; LSG Rheinland-Pfalz 23.12.2011 - L 5 KR 309/11 B, [...] Rn. 7).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Revisionszulassungsgründe nach § 160 Abs. 2 SGG sind nicht gegeben.
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