SGB-II-Leistungen
Fiktive Anrechnung von Unterhaltsvorschuss
Einstweiliger Rechtsschutz
Wahrnehmung von Mitwirkungspflichten gegenüber dem Träger einer vorrangigen Leistung
Inanspruchnahme einer vorrangigen Leistung
Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten im einstweiligen Rechtsschutz über die Gewährung höherer Leistungen im Zusammenhang mit der fiktiven
Anrechnung von Unterhaltsvorschuss.
Die am _. _______ 1986 geborene Antragstellerin zu 1. ist seit 8. Mai 2014 geschieden. Sie lebt zusammen mit ihrem am __.
___ 2014 geborenen Sohn, dem Antragsteller zu 2., in einer Bedarfsgemeinschaft. Die Antragstellerin zu 1. war bereits in der
Vergangenheit aufgefordert worden, Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz für ihren Sohn zu beantragen. Damals hatte der Kreis Pinneberg als Unterhaltsvorschusskasse einen entsprechenden Antrag abgelehnt,
weil die Antragstellerin zu 1. mitgeteilt habe, aus privaten Gründen die Vaterschaft zurzeit nicht feststellen lassen zu können
(Bescheid vom 18. August 2014).
Einen erneuten Antrag auf Unterhaltsvorschuss lehnte der Kreis Pinneberg mit Bescheid vom 9. März 2017 ab. Er führte zur Begründung
aus, dass die Voraussetzungen für die Leistungsgewährung nicht gegeben seien, weil die Antragstellerin zu 1. keine Bemühungen
habe nachweisen können, spätestens nach Bekanntwerden der Schwangerschaft die Person des Vaters ausfindig zu machen.
Mit Bescheid vom 23. März 2017 bewilligte der Antragsgegner den Antragstellern Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts
für den Zeitraum Mai 2017 bis April 2018 in Höhe von monatlich 481,24 EUR (Zeitraum Mai 2017 bis Dezember 2017) bzw. in Höhe
von 479,24 EUR (Zeitraum Januar 2018 bis April 2018). Dabei berücksichtigte er sonstiges Einkommen in Höhe von 150 EUR beim
Antragsteller zu 2. In der Begründung seines Bescheids führte der Antragsgegner aus, dass die Leistungen zur Sicherung des
Lebensunterhalts gemäß § 12a Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) in Verbindung mit § 9 Abs. 1 SGB II teilweise in Höhe von 150 EUR abgelehnt würden, da die vorrangige Leistung Unterhaltsvorschuss für den Antragsteller zu 2.
nicht in Anspruch genommen würde.
Gegen diesen Bescheid legten die Antragsteller am 5. April 2017 Widerspruch ein.
Am 19. April 2017 haben sie beim Sozialgericht Itzehoe um einstweiligen Rechtsschutz ersucht und beantragt,
den Antragsgegner im Wege einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihnen weitere Leistungen nach dem SGB II zu gewähren.
Sie haben zur Begründung geltend gemacht, dass die fiktive Berücksichtigung tatsächlich nicht vorhandenen Einkommens rechtswidrig
sei. Es sei um kurzfristige Korrektur der Bewilligungsentscheidung gebeten worden, darauf habe der Antragsgegner nicht reagiert,
so dass eine gerichtliche Eilentscheidung erforderlich sei.
Mit Beschluss vom 8. Mai 2017 hat das Sozialgericht Itzehoe den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt.
Es hat den Antrag der Antragsteller sinngemäß dahingehend ausgelegt, dass die Verpflichtung des Antragsgegners begehrt werde,
dem Antragsteller zu 2. weitere Leistungen nach dem SGB II in Höhe von monatlich 150 EUR für die Zeit ab 19. April 2017 bis 30. April 2018 zu gewähren. Zur Begründung hat es ausgeführt,
dass bereits die für den Anordnungsgrund erforderliche Eilbedürftigkeit nicht gegeben sei. Wenngleich mit 150 EUR im Monat
für Grundsicherungsverhältnisse ein erheblicher Betrag in Rede stehe, habe es die Antragstellerin zu 1. jedoch selbst in der
Hand, die Hilfebedürftigkeit des Antragstellers zu zweit zu beseitigen. Sie könne entweder den Vater des Antragstellers zu
2. benennen oder nachvollziehbar und glaubhaft darstellen, aus welchen Gründen ihr dies nicht möglich sei.
Dagegen haben die Antragsteller am 16. Mai 2017 Beschwerde zum Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht erhoben und zur
Begründung ihr erstinstanzliches Vorbringen vertieft. Sie haben weiteres Vorbringen zu der Frage der Bemühungen der Antragstellerin
zu 1. um Angaben zur Person des Vaters des Antragstellers zu 2. angekündigt; bis zur Entscheidung ist allerdings insoweit
nicht weiter vorgetragen worden.
II.
Die form- und fristgerecht erhobene Beschwerde (§
173 Satz 1
Sozialgerichtsgesetz [SGG]) ist auch im Übrigen zulässig. Sie ist statthaft; insbesondere steht §
172 Abs.
3 Nr.
1 SGG der Statthaftigkeit nicht entgegen. Danach ist die Beschwerde ausgeschlossen in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes,
wenn in der Hauptsache die Berufung der Zulassung bedürfte. Diese Situation liegt hier nicht vor.
Zwar entspricht es der ständigen Rechtsprechung des Senats, den für die Berechnung des Werts des Beschwerdegegenstands entsprechend
§
144 Abs.
1 Satz 1 Nr.
1 SGG maßgeblichen Zeitraum in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes auf sechs Monate zu begrenzen, wenn der Antrag lediglich
in zeitlicher Hinsicht unbestimmt auf einstweilige höhere Leistungen gerichtet ist (vgl. Senatsbeschluss vom 8. April 2014
- L 6 AS 44/14 B ER). An dieser - im Ausgangspunkt an die Länge eines Bewilligungszeitraums anknüpfenden - Rechtsprechung hält der Senat
trotz der Verlängerung des Regelbewilligungszeitraums auf 12 Monate seit 1. August 2016 (vgl. § 41 Abs. 3 Satz 1 SGB II i.d.F. des Gesetzes vom 26. Juli 2016 [BGBl. I S. 1824]) fest. Denn ein Verpflichtungszeitraum von einem Jahr würde - wie
auch die weitgehenden Ausnahmeregelungen des § 41 Abs. 3 Satz 2 SGB II zur Verkürzung des Bewilligungszeitraums auf sechs Monate zeigen - der Funktion des einstweiligen Rechtsschutzes gerade bei
dynamischen Sachverhalten nicht gerecht werden.
Ausgehend von diesen Maßstäben wäre der Beschwerdewert hier an sich nicht erreicht, da es - anders als es die Beteiligten
und das Sozialgericht Itzehoe meinen - lediglich um höhere Leistungen in Höhe von monatlich 120 EUR (und nicht in Höhe von
150 EUR) geht, so dass der Wert des Beschwerdegegenstands an sich (6 x 120 EUR =) 720 EUR betragen würde. Denn die (fiktive)
Berücksichtigung des Unterhaltsvorschusses in Höhe von 150 EUR bewirkt nach der Bewilligungsentscheidung des Antragsgegners
zusammen mit einem Kindergeldanteil von 87 EUR die Deckung des Bedarfs des Antragstellers zu 2., so dass der Rest des Kindergeldes
nach Maßgabe von § 11 Abs. 1 Satz 5 SGB II bei der Antragstellerin zu 1. angerechnet wird, allerdings nunmehr bereinigt um die Versicherungspauschale von 30 EUR (§
6 Abs. 1 Nr. 1 Arbeitslosengeld II/Sozialgeld-VO [Alg II-V]). Die begehrte Nichtberücksichtigung des fiktiv angerechneten
Kindergeldes wird daher zu einem höheren Anspruch beider Antragsteller (und nicht nur des Antragstellers zu 2.) führen, aber
aus den genannten Gründen eben nur in Höhe von monatlich insgesamt 120 EUR.
Der Senat berücksichtigt allerdings, dass das Sozialgericht über einen - von ihm so ausgelegten - Anspruch der Antragsteller
auf vorläufig höhere Leistungen für einen Zeitraum von mehr als einem Jahr (19. April 2017 bis 30. April 2018) tatsächlich
entschieden hat und diese Entscheidung die Antragsteller insgesamt beschwert. Dabei geht der Senat nach freier Würdigung des
Beschlusses des Sozialgerichts ungeachtet des aufgenommenen, enger gefassten Antrags, der sich nur auf Ansprüche des Antragstellers
zu 2. bezogen hat, davon aus, dass das Sozialgericht auch den Erlass einer einstweiligen Anordnung zugunsten der Antragstellerin
zu 1. abgelehnt hat, da nicht anzunehmen ist, dass das Sozialgericht lediglich eine Teilentscheidung hat erlassen wollen.
Die Beschwerde ist auch begründet. Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts liegen nach Überzeugung des Senats sowohl ein
Anordnungsgrund als auch ein Anordnungsanspruch vor.
Es fehlt insbesondere nicht an der für den Erlass einer einstweiligen Anordnung erforderlichen Eilbedürftigkeit. Es besteht
derzeit eine Unterdeckung des grundsicherungsrechtlichen Bedarfs der Antragsteller in einem Umfang von insgesamt monatlich
120 EUR. Das ist - wie auch das Sozialgericht anerkennt - im Bereich existenzsichernde Leistungen kein Bagatellbetrag. Soweit
das Sozialgericht meint, Eilbedürftigkeit bestehe gleichwohl deshalb nicht, weil es die Antragstellerin zu 1. in der Hand
habe, durch Mitwirkung im Verwaltungsverfahren nach dem Unterhaltsvorschussgesetz die Notlage ohne weiteres auf einfache Weise selbst zu beseitigen, verfängt diese Argumentation aus mehreren Gründen nicht.
Zunächst es schon nicht sichergestellt, dass, würde die Antragstellerin zu 1. ihr mögliche Mitwirkungshandlungen sofort nachholen,
der grundsicherungsrechtliche Bedarf noch im aktuellen Monat gedeckt werden könnte, weil auch die Zahlungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz regelmäßig einen zeitlichen Vorlauf benötigen.
Im Übrigen kann aber auch aus prinzipiellen Erwägungen ein Anordnungsgrund nicht mit Rücksicht auf die Wahrnehmung von Mitwirkungspflichten
gegenüber dem Träger einer vorrangigen Leistung verneint werden. Dies gilt schon deshalb, weil der einstweilige Rechtsschutz
nach Möglichkeit die Hauptsache nicht vorwegnehmen soll. Wäre eine leistungsberechtigte Person im Streit über die Pflicht
zur Inanspruchnahme einer vorrangigen Leistung wegen der Versagung gerichtlichen Eilrechtsschutzes aus wirtschaftlichen Gründen
dazu gezwungen, unter Hintanstellung ggf. auch berechtigter Interessen die vorrangige Leistung zu beantragen und in dem dortigen
Verwaltungsverfahren entsprechend mitzuwirken und würde die vorrangige Leistung daraufhin bewilligt werden, würde dies allerdings
die Hauptsache insoweit vorwegnehmen, als das Einkommen wegen des Zuflussprinzips zwingend auch dann zu berücksichtigen wäre,
wenn tatsächlich im Einzelfall keine Pflicht zur Beantragung der vorrangigen Leistung bestanden hätte.
Es besteht auch ein Anordnungsanspruch. Den Antragstellern stehen nach vorläufiger Würdigung um monatlich 120 EUR höhere Leistungen
für den im Tenor genannten Zeitraum zu. Sie verfügen tatsächlich nicht über das seitens des Antragsgegners fiktiv angerechnete
Einkommen in Höhe von monatlich 150 EUR aus Unterhaltsvorschuss. Nach § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II sind als Einkommen zu berücksichtigen allerdings nur Einnahmen in Geld. Nur eine tatsächlich zugeflossene Einnahme ist als
"bereites Mittel" geeignet, den konkreten Bedarf im jeweiligen Monat zu decken; die Anrechnung einer fiktiven Einnahme zur
Bedarfsminderung ist nach dem System des SGB II dagegen ausgeschlossen (LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 9. April 2014 - L 32 AS 623/14 B ER - zit. n. juris m.w.N.).
Von der fehlenden fiktiven Berücksichtigungsfähigkeit tatsächlich nicht zufließender Sozialleistungen geht - gerade bezogen
auf vergleichbare Konstellationen - auch der Gesetzgeber aus, der mit dem Neunten Gesetz zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch - Rechtsvereinfachung - sowie zur vorübergehenden Aussetzung der Insolvenzantragspflicht vom 26. Juli 2016
(BGBl. I S. 1824) m.W.v. 1. Januar 2017 den § 5 Abs. 3 SGB II um die Sätze 3-6 ergänzt hat. Danach hat das Jobcenter die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Fällen, in denen
eine vorrangige Leistung bestandskräftig entzogen oder versagt wird, so lange zu entziehen oder zu versagen, bis die leistungsberechtigte
Person ihrer Verpflichtung nach den §§
60-
64 SGB I gegenüber dem anderen Träger nachgekommen ist (§ 5 Abs. 3 Satz 3 SGB II). Dieses Instrumentariums bedürfte der Grundsicherungsträger nicht, könnte er die vorrangige Sozialleistung auch fiktiv anrechnen.
Ob das Instrumentarium des § 5 Abs. 3 SGB II hier - ungeachtet der ohnehin fehlenden Bestandskraft des Ablehnungsbescheids vom 9. März 2017 - vom Antragsgegner wirksam
eingesetzt werden könnte, kann offen bleiben, weil der Antragsgegner tatsächlich nicht so vorgegangen ist. Zweifel an der
Anwendbarkeit des § 5 Abs. 3 Satz 3 SGB II ergeben sich daraus, dass diese Vorschrift tatbestandlich eine Leistungsversagung mangels hinreichender Mitwirkung durch
den Träger der vorrangigen Leistung verlangt. Die Weigerung, bei der Feststellung der Vaterschaft oder des Aufenthalts des
anderen Elternteils mitzuwirken, führt allerdings zum Nichtbestehen des Anspruchs (§ 1 Abs. 3 UhVorschG), weshalb der Antrag
der Antragstellerin zu 1. auch hier mit Bescheid vom 9. März 2017 in der Sache abgelehnt (und die Leistung nicht lediglich
versagt) worden ist (dazu Groth/Siebel-Huffmann, NJW 2016, 3404).
Für die systemwidrige Berücksichtigung fiktiven Einkommens besteht - ungeachtet der Frage der Anwendbarkeit des Instrumentariums
des § 5 Abs. 3 SGB II auf den Unterhaltsvorschuss - aber auch deshalb kein Bedürfnis, weil das Jobcenter bei pflichtwidriger Vereitelung der Gewährung
von Unterhaltsvorschuss gegen die Antragstellerin zu 1. nach § 34 Abs. 1 Satz 1 und 2 SGB II vorgehen könnte.
Die Kostenentscheidung ergeht entsprechend §
193 Abs.
1 Satz 1
SGG. Sie orientiert sich am Ausgang des Verfahrens und berücksichtigt, dass dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
nach den Grundsätzen der Senatsrechtsprechung von vornherein nur für sechs Monate Aussicht auf Erfolg gehabt hat.
Prozesskostenhilfe ist zu bewilligen, weil die Rechtsverfolgung aus den genannten Gründen hinreichende Erfolgsaussichten gehabt
hat und die Antragsteller prozesskostenhilferechtlich bedürftig sind (§
73 a Abs.
1 Satz 1
SGG i. V. m. §
114 Satz 1
Zivilprozessordnung [ZPO]).
Dieser Beschluss ist gemäß §
177 SGG unanfechtbar.