Anspruch auf Erwerbsminderungsrente; Zulässigkeit der Herabsetzung des Zugangsfaktors vor Vollendung des 60. Lebensjahres
Gründe:
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob die der Klägerin bewilligte Hinterbliebenenrente mit dem ungeminderten Zugangsfaktor
von 1,0 oder mit einem Zugangsfaktor von 0,988 ("Abschlag" von 1,2 %) zu berechnen ist.
Der am 19.9.1946 geborene Ehemann der Klägerin (im Folgenden: der Versicherte) ist am 16.4.2001 verstorben; eine ihm ab September
2001 bewilligte Rente wegen voller Erwerbsminderung wurde nicht mehr ausbezahlt. Die Beklagte bewilligte der Klägerin mit
Bescheid vom 12.7.2001 ab dem 16.4.2001 große Witwenrente. Laut Anlage 6 des Bescheids wurde der Zugangsfaktor von 1,0 um
0,012 auf 0,988 vermindert; der Rentenberechnung wurden dementsprechend an Stelle von 59,2583 Entgeltpunkten (EP) nur 58,5472
EP zu Grunde gelegt. Dies hatte eine Absenkung der Rentenhöhe um 1,2 % zur Folge, wodurch sich (ab 1.1.2002) ein monatlicher
Zahlbetrag von 889,24 Euro (brutto) ergab. Zugleich wurde der Berechnung eine Zurechnungszeit von insgesamt 30 Monaten zu
Grunde gelegt. Weitere Bescheide betreffen den Abzug von Beitragsanteilen zur Kranken- und Pflegeversicherung sowie die Anrechnung
von Erwerbseinkommen.
Im Juli 2006 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Neuberechnung ihrer Witwenrente unter Hinweis auf das Urteil des
4. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 16.5.2006 (B 4 RA 22/05 R = BSGE 96, 209 = SozR 4-2600 § 77 Nr 3). Die Beklagte lehnte die Rücknahme des Bescheids vom 12.7.2001 mit Bescheid vom 14.8.2006 in Gestalt
des Widerspruchsbescheids vom 9.11.2006 ab, weil die Voraussetzungen des § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) nicht erfüllt seien. Der 4. Senat habe nicht über die Abschläge bei Hinterbliebenenrenten entschieden.
Die hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht Berlin (SG) mit Urteil vom 16.7.2007 abgewiesen und die Sprungrevision zugelassen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt:
Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Gewährung einer höheren Hinterbliebenenrente. Die Regelungen des §
77 Abs
2 Satz 2 und
3 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB VI) seien so zu verstehen, dass sich der Zugangsfaktor bei einer Hinterbliebenenrente (um höchstens 10,8 %) auch dann mindere,
wenn der Versicherte vor Vollendung seines 60. Lebensjahrs verstorben sei. Zwar ließe §
77 Abs
2 Satz 1 Nr
4 SGB VI bei isolierter Anwendung eine Verminderung des Zugangsfaktors bis auf 0 zu. Um dies zu verhindern, begrenze jedoch §
77 Abs
2 Satz 2
SGB VI den Abschlag auf maximal 10,8 %. Eine weitere Begrenzung des Rentenabschlags ergebe sich durch die Verlängerung der Zurechnungszeit
iVm der Übergangsvorschrift des §
264c SGB VI. §
77 Abs
2 Satz 3
SGB VI verhindere die rentenmindernde Wirkung auf eine zweite Rente, wenn der Versicherte in früheren Lebensjahren eine erste Erwerbsminderungsrente
zeitlich befristet bezogen habe. §
77 Abs
2 Satz 3
SGB VI enthalte keine inhaltliche Modifikation der allgemeinen Regelung des §
77 Abs
2 Satz 1 Nr
4 SGB VI; eine solche hätte gesetzestechnisch wesentlich einfacher in §
77 Abs
2 Satz 1 Nr
4 SGB VI aufgenommen werden können. Die Absenkung des Zugangsfaktors sei Teil eines gesetzgeberischen Gesamtpakets und durch die Verlängerung
der Zurechnungszeit abgemildert worden. Diese Auffassung werde auch durch die Gesetzesbegründung zum Rentenversicherungs-Altersgrenzenanpassungsgesetz
vom 20.4.2007 (BGBl I 554) bestätigt. Die entgegenstehende Auffassung des 4. Senats des BSG werde nicht geteilt. Die sich
aus dieser Gegenmeinung ergebende Minderung der laufenden und zunächst ungekürzt zu zahlenden Hinterbliebenenrente, wenn der
Versicherte das 60. Lebensjahr vollende, verstoße gegen den Grundsatz des §
88 SGB VI. Verfassungsrechtliche Bedenken gegen den Inhalt des §
77 Abs
2 SGB VI bestünden nicht. Ein Verstoß gegen Art
14 Abs
1 Satz 1
Grundgesetz (
GG) könne nicht vorliegen, da Hinterbliebenenrenten diesem Schutz nicht unterfielen. Auch eine Verletzung der allgemeinen Handlungsfreiheit
(Art
2 Abs
1 GG) liege nicht vor, weil eine Zwangsversicherung die allgemeine Handlungsfreiheit der Versicherten, nicht aber die ihrer Hinterbliebenen
tangiere. Schließlich liege auch kein Verstoß gegen Art
3 Abs
1 GG vor. Alle Empfänger von Hinterbliebenenrenten, bei denen der Versicherte vor dem 60. Lebensjahr verstorben sei, würden gleich
behandelt, wobei die Klägerin gegenüber den Hinterbliebenen, deren Rente ab Januar 2004 beginne, durch die Vorschrift des
§
264c SGB VI privilegiert werde. Im Hinblick auf andere Versichertengruppen sei es nicht willkürlich, sondern sachgerecht, auf das jeweilige
Lebensalter des Versicherten bei Eintritt des Versicherungsfalls abzustellen. Bei der Verschlechterung der Rechtslage gegenüber
den bereits vor dem Jahre 2001 in Anspruch genommenen Hinterbliebenenrenten sei zu berücksichtigen, dass die Abschlagsregelung
und die erweiterte Anrechnung der Zurechnungszeit als "Paketlösung" schrittweise eingeführt worden seien, sodass den Anforderungen
an die Verhältnismäßigkeit Genüge getan sei.
Mit der vom SG zugelassenen Sprungrevision rügt die Klägerin eine Verletzung von §
77 Abs
2 Satz 1 Nr
4, Satz 2 und 3
SGB VI. Danach sei ein Zugangsfaktor nicht abzusenken, wenn der Versicherte vor dem 60. Lebensjahr verstorben sei. Diese Rechtsauffassung
werde durch das Urteil des 4. Senats vom 16.5.2006 gestützt. Das SG übersehe, dass die Beklagte §
77 Abs
3 Satz 1
SGB VI in der Praxis nur anwende, wenn die Folgerente nahtlos an die frühere Rente anschließe. Setze §
77 Abs
3 Satz 1
SGB VI Nahtlosigkeit voraus, so sei jedoch eine ergänzende Regelung durch §
77 Abs
2 Satz 3
SGB VI zu Renten, die vor dem 60. Lebensjahr mit anschließender Rentenpause bezogen würden, nicht erforderlich. Die Auslegung des
BSG werde zudem durch die Entstehungsgeschichte des Gesetzes zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit (EM-Reformgesetz)
vom 20.12.2000 (BGBl I 1827) gestützt. Hinzu komme, dass die Verlängerung der Zurechnungszeiten die Abschläge, die durch die
Verminderung des Zugangsfaktors bedingt seien, nicht ausglichen. Die Abschläge fielen unter Anrechnung der Zurechnungszeit
umso niedriger aus, je jünger ein Erwerbsminderungsrentner sei. Dieses Ergebnis entspreche gerade nicht der Zielsetzung des
§
63 Abs
5 SGB VI, nämlich Vor- und Nachteile einer unterschiedlichen Rentenbezugsdauer zu vermeiden. Ein Rückschluss auf die Zulässigkeit
von Abschlägen für unter 60-jährige könne nicht gezogen werden. Auch der Hinweis auf das RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz
überzeuge nicht, da dem Gesetzgeber die Möglichkeit offen gestanden habe, die Rechtsunsicherheit, die auf Grund des Urteils
des 4. Senats aufgekommen sei, durch eine gesetzliche Klarstellung der Regelungen des §
77 Abs
2 Satz 2 und
3 SGB VI aus der Welt zu schaffen. Die mit dem Gesetz geschaffene Neuregelung des §
100 Abs
4 SGB VI, mit der zukünftig Nachzahlungen im Zusammenhang mit dem § 44 SGB X eingeschränkt werden sollen, deute vielmehr darauf hin, dass der Gesetzgeber eine Bestätigung des Urteils des 4. Senats für
möglich halte und deshalb finanzielle Auswirkungen für die Beklagte in Grenzen halten wolle. Im Übrigen sei die Problematik
der Hinterbliebenenrenten im Gesetzentwurf zum EM-Reformgesetz 20/12 nicht erörtert worden. Allein das (nicht ausdrücklich
benannte) systematische Argument der Akzessorietät der Hinterbliebenenrente sei nicht ausreichend, um Abschläge zu rechtfertigen.
Die Absenkung des Zugangsfaktors sei auf die Fälle beschränkt, in denen die Rente nach Vollendung des 60. Lebensjahrs des
Versicherten beginne. Im Übrigen verstoße das Urteil des SG gegen Art
2 Abs
1 GG sowie Art
3 Abs
1 GG iVm Art
6 GG.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 16. Juli 2007 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheids vom 14.
August 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 9. November 2006 zu verurteilen, der Klägerin unter Abänderung des
Bescheids vom 12. Juli 2001 Witwenrente ab dem 1. Januar 2002 unter Berücksichtigung des Zugangsfaktors von 1,0 zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil des SG für zutreffend und führt im Wesentlichen aus: Aus dem Gesamtkontext des §
77 Abs
1 und
2 SGB VI und unter Berücksichtigung der Gesetzgebungsmaterialien ergebe sich, dass es sich bei der Regelung des §
77 Abs
2 Satz 2
SGB VI um ein "rettendes Netz" handele, das bewirke, dass abweichend von der Grundaussage in §
77 Abs
1 SGB VI ausnahmsweise nicht das Alter des Versicherten bei seinem Tod maßgeblich sei. Der Auffassung des 4. Senats des BSG könne
nicht gefolgt werden, da diese zur Konsequenz habe, dass die Hinterbliebenenrente der Klägerin nur bis Juli 2006 (Kalendermonat,
in dem der Versicherte das 60. Lebensjahr vollendet hätte) abschlagsfrei zu zahlen gewesen wäre und erst danach einem Abschlag
unterlegen wäre. Im Übrigen sei die Modifizierung des §
59 SGB VI (ggf iVm §
253a SGB VI) zu beachten, die dazu dienen solle, die Abschläge abzumildern. Die Praxis der Beklagten verletze auch nicht die Grundrechte
der Klägerin, da nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Hinweis auf BVerfGE 97, 271) davon ausgegangen werden müsse, dass Ansprüche von Versicherten in der gesetzlichen Rentenversicherung auf Versorgung ihrer
Hinterbliebenen nicht dem Eigentumsschutz des Art
14 Abs
1 GG unterlägen. Auch Art
2 Abs
1 GG (allgemeine Handlungsfreiheit) könne nicht als Prüfungsmaßstab herangezogen werden. Eine Verletzung des Gleichheitssatzes
(Art
3 Abs
1 GG) liege ebenfalls nicht vor, da eine Gleichbehandlung mit der Versichertengruppe, die Erwerbsminderungsrenten nach dem 31.12.2000
bezögen, geboten sei. Beiden Rentenarten sei das Ziel der Kompensation von ungewollten Risiken gemeinsam. Ein geminderter
Zugangsfaktor gleiche bei diesen "Risiko-Renten" die längere Rentenbezugsdauer aus und sei daher aus denselben Gründen gerechtfertigt
wie die Anpassung des Zugangsfaktors an den Rentenbeginn bei der Altersrente.
II
Der Senat beabsichtigt, die Revision der Klägerin zurückzuweisen. Er sieht sich daran jedoch durch das Urteil des 4. Senats
vom 16.5.2006 (B 4 RA 22/05 R - BSGE 96, 209 = SozR 4-2600 § 77 Nr 3) gehindert; würde er die Rechtsauffassung, auf der dieses Urteil beruht, auch im vorliegenden Fall
zugrunde legen, wären auf die Revision der Klägerin das angegriffene Urteil aufzuheben, die angefochtenen Bescheide abzuändern
und der Klage damit stattzugeben. Obwohl das jetzige Verfahren eine andere Rentenart betrifft als dasjenige des 4. Senats,
folgt die Berechnung der streitigen Witwenrente den gleichen Regeln wie die der Entscheidung des 4. Senats zu Grunde liegende
Berechnung der Erwerbsminderungsrente. Dies macht die aus dem Entscheidungssatz ersichtliche Anfrage gemäß §
41 Abs
3 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (
SGG) erforderlich.
1. Die Sprungrevision ist zulässig. Die Voraussetzungen des §
161 Abs
1 SGG sind erfüllt, da die Zustimmung der Beklagten der Revisionsschrift der Klägerin beigefügt war und die Beklagte in diesem
Schreiben (vom 31.8.2007) ausdrücklich ihr Einverständnis zur Einlegung der Sprungrevision erteilt hat (zum Erfordernis der
Zustimmung zur "Einlegung" - und nicht lediglich zur "Zulassung" - BSG SozR 3-1500 § 161 Nr 7 S 15).
Die Klägerin ist auch beschwert. Ihr stünde ein höherer Monatsbetrag der Rente zu, wenn der Rentenberechnung an Stelle des
Zugangsfaktors von 0,988 ein solcher von 1,0 zu Grunde zu legen wäre. Bezogen auf den aktuellen Rentenwert bewirkt die Absenkung
des Zugangsfaktors eine Rentenminderung um 11,21 Euro, die durch die gleichzeitig mit der gesetzlichen Regelung erfolgte Verlängerung
der Zurechnungszeit nicht ganz ausgeglichen wird. Die Neuregelung hat insgesamt in der Auslegung durch die Beklagte eine Rentenminderung
um (aktuell) 1,30 Euro zur Folge.
2. Die Sprungrevision der Klägerin ist nach Auffassung des Senats unbegründet. Das SG hat die zulässige Klage auf Zahlung einer höheren Witwenrente zu Recht abgewiesen. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf eine
Witwenrente unter Zugrundelegung des Zugangsfaktors 1,0. Die Rechtsanwendung der Beklagten, den Zugangsfaktor für eine Hinterbliebenenrente
auch dann vom Rentenbeginn an zu mindern, wenn der Versicherte vor Vollendung des 60. Lebensjahres verstorben ist, ist nicht
zu beanstanden.
Der Monatsbetrag der Rente ergibt sich gemäß §
63 Abs
6, §
64 Nr
1 bis
3 SGB VI, wenn die unter Berücksichtigung des Zugangsfaktors ermittelten persönlichen EP, der Rentenartfaktor und der aktuelle Rentenwert
mit ihrem Wert bei Rentenbeginn miteinander vervielfältigt werden. Der Zugangsfaktor ist ein Berechnungselement der persönlichen
EP.
Nach §
77 Abs
1 SGB VI in der hier anwendbaren Fassung des Gesetzes zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vom 20.12.2000 (RRErwerbG
- BGBl I 1827; zur Gesetzesentwicklung Blüggel in Wannagat,
SGB VI, §
77 RdNr 6 f, Stand 7/2007; Zweng/Scheerer/Buschmann/Dörr, Handbuch der Rentenversicherung, §
77 SGB VI RdNr 1 ff, Stand 12/2005) richtet sich der Zugangsfaktor nach dem Alter der Versicherten bei Rentenbeginn oder bei Tod und
bestimmt, in welchem Umfang EP bei der Ermittlung des Monatsbetrags der Rente als persönliche EP zu berücksichtigen sind.
Der Zugangsfaktor ist für EP, die noch nicht Grundlage von persönlichen EP einer Rente waren, gemäß §
77 Abs
2 Nr
4 Buchst a
SGB VI bei Hinterbliebenenrenten für jeden Kalendermonat zwischen dem Ablauf des Monats, in dem der Versicherte verstorben ist,
und dem Ablauf des Kalendermonats der Vollendung des 63. Lebensjahres des Versicherten um 0,003 niedriger als 1,0. So liegt
der Fall bei der Klägerin. Der Ehemann der Klägerin ist im Alter von 54 Jahren und 7 Monaten verstorben.
Ist der Versicherte wie hier vor Vollendung des 60. Lebensjahres verstorben, so bestimmt §
77 Abs
2 Satz 2
SGB VI, dass die Vollendung des 60. Lebensjahres für die "Bestimmung des Zugangsfaktors" der dann zu zahlenden Hinterbliebenenrente
maßgebend ist. Davon abweichend regelt §
264c SGB VI (idF des RRErwerbG; zur Neufassung ab dem 1.1.2008 s Art 1 Nr 72 des Gesetzes zur Anpassung der Regelaltersgrenze an die demografische Entwicklung und zur Stärkung der Finanzierungsgrundlagen
der gesetzlichen Rentenversicherung = RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz vom 20.4.2007, BGBl I 554), dass bei der Ermittlung
des Zugangsfaktors an Stelle der Vollendung des 60. Lebensjahres die Vollendung des in Anlage 23 zum
SGB VI (in der bis 31.12.2007 geltenden Fassung; zur Aufhebung der Anlage 23 ab dem 1.1.2008 s Art 1 Nr 83 des RV-Altersgrenzenanpassungsgesetzes)
angegebenen Lebensalters maßgebend ist, wenn eine Rente wegen Todes vor dem 1.1.2004 beginnt. Die Voraussetzungen dieser Übergangsvorschrift
liegen bei der Klägerin vor; entsprechend der Anlage 23 zum
SGB VI und dem Rentenbeginn am 16.4.2001 hat die Beklagte bei der Absenkung des Zugangsfaktors 4 Monate berücksichtigt (vom zu unterstellenden
Lebensalter von 62 Jahren und 8 Monaten bis zur Erreichung des 63. Lebensjahres) und deshalb einen Zugangsfaktor von 0,988
ermittelt. Gleichzeitig legte die Beklagte entsprechend §
253a SGB VI iVm der Anlage 23 (idF des RRErwerbG) eine Zurechnungszeit von insgesamt 30 Monaten zu Grunde. Vom Todeszeitpunkt bis zum
55. Geburtstag wären es noch 5 Monate gewesen. Die übrige Zeit bis zur hypothetischen Vollendung des 60. Lebensjahres war
nach Anlage 23 zu 22 Vierundfünfzigstel als Zurechnungszeit anzurechnen, das sind aufgerundet 25 Monate. Ohne die Übergangsregelung
wären vom Todestag bis zum 18.9.2006 insgesamt 65 Monate zu berücksichtigen gewesen. Aufgrund des früheren Rechts hätte die
Zurechnungszeit insgesamt nur 25 Monate betragen (§
59 Abs
3 SGB VI in der bis zum 31.12.2000 geltenden Fassung).
Die Regelung des §
77 Abs
2 Satz 2
SGB VI (ggf iVm §
264c SGB VI und der Anlage 23 zum
SGB VI in der bis 31.12.2007 geltenden Fassung) ist nach Auffassung des 5. Senats als Berechnungsregel zu verstehen, mit der Folge,
dass beim Tod des Versicherten vor Vollendung des 60. Lebensjahres der Zugangsfaktor für die Rente wegen Todes um maximal
0,108 (36 Kalendermonate x 0,003) zu mindern ist. Hierdurch ergibt sich in diesen Fällen ein Zugangsfaktor von 0,892. Der
Senat vermag sich der entgegenstehenden Rechtsauffassung des 4. Senats im Urteil vom 16.5.2006 nicht anzuschließen (ablehnend
auch die überwiegende Rechtsprechung der Instanzgerichte, vgl insbesondere - alle veröffentlicht in Juris - Hessisches Landessozialgericht
[LSG] vom 24.8.2007 - L 5 R 228/06, derzeit anhängig beim BSG; LSG Niedersachsen-Bremen vom 20.9.2007 - L 2 R 415/07, derzeit anhängig beim BSG; Schleswig-Holsteinisches LSG vom 4.9.2007 - L 7 R 97/07, derzeit anhängig beim BSG; SG Berlin vom 11.10.2007 - S 9 R 5458/07, derzeit anhängig beim BSG; SG Köln vom 14.9.2007 - S 11 R 6/07, derzeit anhängig beim BSG; SG Detmold vom 14.8.2007 - S 20 R 83/07; SG Köln vom 13.8.2007 - S 3 R 85/07, derzeit anhängig beim BSG; SG Leipzig vom 3.7.2007 - S 3 R 1397/06; SG Duisburg vom 2.7.2007 - S 21 R 145/07, derzeit anhängig beim BSG; SG Freiburg vom 14.6.2007 - S 6 R 886/07; SG Nürnberg vom 30.5.2007 - S 14 R 4013/07; SG Aachen vom 29.5.2007 - S 13 Kn 9/07; SG für das Saarland vom 8.5.2007 - S 14 R 82/07; SG Augsburg vom 23.4.2007 - S 3 R 26/07; der Auffassung des 4. Senats angeschlossen haben sich hingegen insbesondere LSG Nordrhein-Westfalen vom 9.5.2007 - L 8 R 353/06, derzeit anhängig beim BSG; LSG für das Saarland vom 9.2.2007 - L 7 R 40/06; SG Mannheim vom 9.11.2007 - S 9 R 2887/07; SG Lübeck vom 26.4.2007 - S 14 R 191/07; in der Literatur ist die Auffassung des 4. Senats weitgehend auf Ablehnung gestoßen, vgl insbesondere Bredt, NZS 2007, 192 ff; von Koch/Kolakowski, SGb 2007, 71 ff; Ruland, NJW 2007, 2086 ff; Mey, RVaktuell 2007, 44 ff; Plagemann in jurisPR-SozR 20/2006 Anm 4).
Für die Auffassung des erkennenden Senats sprechen Wortlaut und systematische Stellung des §
77 SGB VI wie auch Sinn und Zweck, systematischer Gesamtzusammenhang und Entstehungsgeschichte dieser Norm.
a) Nach seinem Wortlaut und seiner systematischen Stellung ist §
77 SGB VI eine Norm, die Berechnungsregeln zur Umsetzung der allgemeinen Grundsätze zur Rentenhöhe iS des §
63 Abs
5 iVm §
64 Nr
1 SGB VI enthält (so auch stellvertretend: Bredt, NZS 2007, 193; Zweng/Scheerer/Buschmann/Dörr, Handbuch der Rentenversicherung, §
77 SGB VI RdNr 1, Stand 12/2005; Eicher/Haase/Rauschenbach, Die Rentenversicherung im SGB, §
77 SGB VI Anm 1, Stand 5/2005; Stahl in Hauck/Noftz,
SGB VI, K §
77 RdNr 4, Stand 2/2002).
aa) Nach §
77 Abs
1 SGB VI richtet sich der Zugangsfaktor nach dem Alter der Versicherten bei Rentenbeginn oder bei Tod und bestimmt, in welchem Umfang
EP bei der Ermittlung des Monatsbetrags der Rente als persönliche EP zu berücksichtigen sind. Durch diese Grundregel fließt
zum einen das Alter des Versicherten in die Rentenberechnung mit ein, und zum anderen wird die Funktion des Zugangsfaktors
als Berechnungskomponente bei der Ermittlung der persönlichen EP deutlich. Für die Bestimmung des Zugangsfaktors ist nach
dieser Grundregel somit das Alter des Versicherten zum Zeitpunkt des Eintritts des versicherten Risikos maßgebend, der bei
Hinterbliebenenrenten durch den Tod des Versicherten ausgelöst wird. Damit bringt das Gesetz zum Ausdruck, dass der Zugangsfaktor
für die gesamte Dauer des ununterbrochenen Rentenbezugs und auch für eine sich daran anschließende Rente einheitlich zu bestimmen
ist - die nach §
77 Abs
2,
3 SGB VI zu ermittelnden "Abschläge" oder "Zuschläge" also für die gesamte ununterbrochene Rentenlaufzeit gelten (vgl BSG vom 28.10.2004
- B 4 RA 42/02 R - Juris RdNr 281 ff; Stahl in Hauck/Noftz,
SGB VI, K §
77 RdNr 10, Stand 2/2002; Blüggel in Wannagat, SGB, §
77 SGB VI RdNr 18, Stand 7/2007; Ohsmann/Stolz/Thiede, DAngVers 2003, 171).
bb) §
77 Abs
2 SGB VI enthält sodann Regelungen zur Berechnung der Höhe des Zugangsfaktors; für Hinterbliebenenrenten gilt Satz 1 Nr 4 Buchst a.
Danach richtet sich die Minderung des Zugangsfaktors nach der Zeitspanne zwischen dem Ablauf des Monats, in dem der Versicherte
verstorben ist, und dem Ablauf des Kalendermonats der (hypothetischen) Vollendung des 63. Lebensjahres des Versicherten. Für
jeden Kalendermonat dieser Zeitspanne ist der Zugangsfaktor um 0,003 niedriger anzusetzen als 1,0. Isoliert betrachtet, würde
§
77 Abs
2 Satz 1 Nr
4 Buchst a
SGB VI bei einem Tod des Versicherten in jungen Jahren den Zugangsfaktors auf Null absenken. Zur Vermeidung dieses Ergebnisses bestimmt
jedoch §
77 Abs
2 Satz 2
SGB VI, dass die Vollendung des 60. Lebensjahres für die Bestimmung des Zugangsfaktors maßgebend sein soll, wenn bei einer Hinterbliebenenrente
der Versicherte bereits vor der Vollendung seines 60. Lebensjahres verstorben ist. Dadurch beginnt die für das Ausmaß der
Rentenminderung maßgebende Zeitspanne frühestens mit Vollendung des 60. Lebensjahres und wird entsprechend verkürzt. Entgegen
der Grundregel des §
77 Abs
1 SGB VI, wonach sich der Zugangsfaktor nach dem (tatsächlichen) Alter des Versicherten bei Rentenbeginn oder Tod bestimmt, ordnet
das Gesetz eine fiktive Rentenberechnung unter der Annahme an, der Versicherte habe das 60. Lebensjahr bereits vollendet,
um auf diese Weise die Minderung des Zugangsfaktors entsprechend der 36 Monate zwischen dem vollendeten 60. und dem vollendeten
63. Lebensjahr auf maximal 0,108 zu begrenzen (so auch Ruland, NJW 2007, 2087; Mey, RVaktuell 2007, 46; Bredt, NZS 2007, 194; Blüggel in Wannagat, SGB, §
77 SGB VI RdNr 28, Stand 7/2007; Kreikebohm in BeckOK, §
77 SGB VI RdNr 5, Stand 9/2007; Eicher/Haase/Rauschenbach, Die Rentenversicherung im SGB, §
77 SGB VI Anm 3b, Stand 5/2005; Stahl in Hauck/Noftz,
SGB VI, K §
77, RdNr 28, Stand 2/2002; Zweng/Scheerer/Buschmann/Dörr, Handbuch der Rentenversicherung, §
77 SGB VI RdNr 16, Stand 12/2005; Polster in Kasseler Kommentar, §
77 SGB VI RdNr 12, Stand 9/2006). Eine weitere Herabsetzung des Zugangsfaktors für die Monate des Rentenbezugs, die vor der - fiktiven
- Vollendung des 60. Lebensjahres des Versicherten liegen, ist somit ausgeschlossen; dadurch ist sichergestellt, dass der
Zugangsfaktor nicht unter 0,892 absinkt und die Rente somit niemals um mehr als 10,8 % zu mindern ist (36 Kalendermonate x
0,003 = 0,108). Dass es bei der Bezugnahme auf das 60. Lebensjahr des Versicherten um eine fiktive Rechengröße für die Bestimmung
des Zugangsfaktors und nicht etwa um die Festlegung des Beginns der Rentenminderung geht, wird insbesondere im vorliegenden
Fall einer Hinterbliebenenrente deutlich. Andernfalls müsste dem Gesetz unterstellt werden, es wolle eine Minderung der Witwenrente
für die Zeit anordnen, nachdem der verstorbene Versicherte das genannte Lebensalter erreicht haben würde.
§
77 Abs
2 Satz 2 und
3 SGB VI dienen ausschließlich der Berechnung des Zugangsfaktors. Die vom 4. Senat diesen Vorschriften entnommene Anordnung, dass
eine Absenkung des Zugangsfaktors erst nach Vollendung des 60. Lebensjahres erfolgen dürfe, weil der Zugangsfaktor bis dahin
vom Lebensalter unabhängig bleibe und der Rentenbezug nicht als "vorzeitige Inanspruchnahme" gelte (BSGE 96, 209 = SozR 4-2600 § 77 Nr 3, jeweils RdNr 22 ff), wird weder für Erwerbsminderungsrenten noch für Hinterbliebenenrenten von der
Gesetzessystematik gestützt. Das Konzept der "vorzeitigen Inanspruchnahme" im Sinne des zeitlich beschränkten Bezugs einer
Rente bis zu einem bestimmten Lebensalter lässt sich mit den Voraussetzungen von Renten wegen Erwerbsminderung oder Todes
nicht in Einklang bringen. Die "vorzeitige" Inanspruchnahme einer Rente wegen Erwerbsminderung im Sinne einer freien Entscheidung
des Versicherten, vorzeitig aus dem Erwerbsleben ausscheiden zu wollen, ist nicht möglich, da der Leistungsfall (Eintritt
der Erwerbsminderung) in der Regel unabhängig vom Willen des Versicherten eintritt (vgl insoweit auch die Kritik des Deutschen
Gewerkschaftsbundes und des VdK im Rahmen der 57. Sitzung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung am 20.10.2000, Prot
14/57 S 18, 26). Streng genommen kann somit im Hinblick auf eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit nicht von einer
vorzeitigen, sondern allenfalls von einer früheren oder späteren Inanspruchnahme gesprochen werden (in diesem Sinne auch Eicher/Haase/Rauschenbach,
Die Rentenversicherung im SGB, §
63 SGB VI Anm 6, Stand 12/2005). Für Renten wegen Todes ist der Begriff der Vorzeitigkeit vollends unpassend, weil er ein Regelalter
für diesen Versicherungsfall und - auch hier - eine Einflussmöglichkeit des Renten-berechtigten suggeriert. Konsequenterweise
spricht das Gesetz in §
77 Abs
2 und Abs
3 SGB VI von einer "vorzeitigen" Inanspruchnahme nur im Zusammenhang mit Renten wegen Alters (Abs 2 Satz 1 Nr 2 Buchst a und Satz
4, Abs 3 Satz 3 Nr 1); bei Erwerbsminderungs- und Hinterbliebenenrenten wird dieser Begriff nicht verwendet (Abs 2 Satz 1
Nr 3 und Nr 4 Buchst a sowie Satz 2).
Dass dem Gesetzgeber diese Differenzierung bewusst war, bestätigt nicht nur die Auseinandersetzung im Ausschuss für Arbeit
und Sozialordnung (aaO), sondern auch die Änderung des Wortlauts des §
63 Abs
5 SGB VI, welcher vom 1.1.1992 bis 31.12.2000 auf Grund des Gesetzes zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung (Rentenreformgesetz
1999 - RRG 1999) vom 16.12.1997 (BGBl I 2998) folgende Fassung hatte: "Bei vorzeitiger Inanspruchnahme einer Altersrente oder bei Verzicht
auf eine Altersrente nach dem 65. Lebensjahr werden Vorteile oder Nachteile einer unterschiedlichen Rentenbezugsdauer durch
einen Zugangsfaktor vermieden." Mit der Einführung des abgesenkten Zugangsfaktors auch bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit,
die vor Vollendung des 63. Lebensjahres in Anspruch genommen werden, durch das RRErwerbG vom 20.12.2000 (BGBl I 1827) wurde
§
63 Abs
5 SGB VI entsprechend neu gefasst: "Vorteile und Nachteile einer unterschiedlichen Rentenbezugsdauer werden durch einen Zugangsfaktor
vermieden." Der Begriff der "Vorzeitigkeit" ist somit entfallen. Danach gilt, dass bei allen Rentenarten Vorteile oder Nachteile
einer unterschiedlichen Rentenbezugsdauer durch einen Zugangsfaktor vermieden werden sollen.
cc) Im Zusammenhang mit Hinterbliebenenrenten bestätigt §
77 Abs
2 Satz 3
SGB VI dieses Ergebnis und nicht die Auffassung des 4. Senats. Die Anordnung, dass die Zeit des Bezugs einer Rente vor Vollendung
des 60. Lebensjahres des Versicherten nicht als Zeit einer vorzeitigen Inanspruchnahme "gilt", kann sich nicht auf Hinterbliebenenrenten
beziehen. Auf die Bedenken, die sich aus dem Begriff der "Vorzeitigkeit" ergeben, wurde bereits hingewiesen; allerdings gelten
diese - wie ausgeführt - in abgeschwächter Form auch für Erwerbsminderungsrenten. Hinterbliebenenrenten können jedoch in §
77 Abs
2 Satz 3
SGB VI aus weiteren Gründen nicht gemeint sein. Abgesehen davon, dass Satz 3 - anders als Satz 2 - Hinterbliebenenrenten nicht erwähnt,
knüpfen alle anderen in §
77 SGB VI zu Hinterbliebenenrenten getroffenen Regelungen an den Zeitpunkt des Todes des Versicherten an (vgl § 77 Abs 1, Abs 2 Nr
4 Buchst a, Abs 2 Satz 2), und nicht wie in Satz 3 an den Zeitpunkt der Inanspruchnahme, der (bzw an seiner Stelle derjenige
des Rentenbeginns) bei Alters- und Erwerbsminderungsrenten maßgebend ist (vgl § 77 Abs 2 Satz 1 Nr 1, Nr 2, Nr 3 und Nr 4
Buchst b, Abs 2 Satz 2, Abs 2 Satz 4, Abs 3 Satz 3). Überdies kann sich die Wendung "Bezug einer Rente vor Vollendung des
60. Lebensjahres des Versicherten" nicht auf einen bereits verstorbenen Versicherten beziehen, was aber im Zusammenhang mit
einer Hinterbliebenenrente der Fall wäre. Da es somit ausgeschlossen ist, §
77 Abs
2 Satz 3
SGB VI als eine Regelung für Hinterbliebenenrenten zu verstehen, kann auch in Bezug auf Erwerbsminderungs- und Erziehungsrenten
nicht dieselbe Rente gemeint sein, deren Zugangsfaktor in Abs 2 Satz 2 - für alle Renten einschließlich derjenigen wegen Todes
im selben Sinne - geregelt ist. Vielmehr handelt es sich um eine Erwerbsminderungsrente, die der Versicherte früher bezogen
hatte und für die gemäß §
77 Abs
2 Satz 1 Nr
3, Satz 2
SGB VI ein abgesenkter Zugangsfaktor ermittelt worden war (was in dem allerdings missverständlichen Begriff der "vorzeitigen" Inanspruchnahme
angedeutet wird). Anders als im Fall einer sich nahtlos anschließenden Folgerente soll der einer früheren Rente zugrunde gelegte
abgesenkte Zugangsfaktor nach einem vollständigen Wegfall dieser Rente für eine spätere Rente nicht mehr gelten (§
77 Abs
3 Satz 1
SGB VI), sodass deren Höhe in Ausnahme zu §
77 Abs
2 Satz 1 Halbsatz 1
SGB VI zu bestimmen ist, als hätten die EP des Versicherten noch keiner Rente zugrunde gelegen.
Durch die Fiktion des §
77 Abs
2 Satz 3
SGB VI wird mithin gewährleistet, dass sich der geminderte Zugangsfaktor bei einem Wegfall der Erwerbsminderungsrente vor Vollendung
des 60. Lebensjahres (zB bei einem Rentenbezug zwischen dem 42. und 44. Lebensjahr) auf eine spätere Rente (neue Erwerbsminderungsrente,
Hinterbliebenenrente oder Rente wegen Alters ab dem 65. Lebensjahr bzw ab dem 1.1.2008 nach Erreichen der Regelaltersgrenze)
nicht mehr auswirkt. §
77 Abs
2 Satz 3
SGB VI statuiert insoweit eine Ausnahme zu dem Grundsatz (vgl §
77 Abs
3 Satz 1
SGB VI), dass ein früherer Zugangsfaktor auch für spätere Renten maßgeblich bleibt (ebenso Ruland, NJW 2007, 2087; Bredt, NZS 2007, 194; Mey, RVaktuell 2007, 46 f; Blüggel in Wannagat, SGB, §
77 SGB VI RdNr 30 ff, Stand 7/2007; Kreikebohm
SGB VI, 2. Aufl 2003, §
77 RdNr 16; Polster in Kasseler Kommentar, §
77 SGB VI RdNr 21, Stand 9/2006; Stahl in Hauck/Noftz,
SGB VI, K §
77 RdNr 47 mit Beispiel, Stand 2/2002; Zweng/Scheerer/Buschmann/Dörr, Handbuch der Rentenversicherung, §
77 SGB VI RdNr 18 f mit Beispiel, Stand 12/2005; unklar hingegen Eicher/Haase/Rauschenbach, Die Rentenversicherung im SGB, §
77 SGB VI Anm 4, Stand 5/2005). Insoweit handelt es sich um eine "Schutzvorschrift" zu Gunsten des Versicherten, die es ihm ermöglicht,
bei Inanspruchnahme einer späteren Rente einen höheren Zugangsfaktor als den bei der früher gewährten Rente zu erhalten, und
ihn vor einem "immerwährenden Abschlag" schützt.
Infolge des §
77 Abs
2 Satz 3
SGB VI bestimmt sich der Zugangsfaktor für eine spätere Rente demnach wiederum allein nach §
77 Abs
2 Satz 1
SGB VI. Etwas anderes gilt nur dann, wenn die Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit über das 60. Lebensjahr hinaus bezogen wird
und sich daran nahtlos eine Folgerente anschließt. Zwar handelt es sich bei Folgerenten um eigenständige Leistungsansprüche
mit eigenen, ggf neu zu ermittelnden Berechnungsfaktoren. Damit aber die Dauerwirkung des Abschlags aus der Vorrente gewährleistet
bleibt, ordnet §
77 Abs
3 Satz 1
SGB VI die Übernahme des bisherigen Zugangsfaktors in die Berechnung der Folgerente an (vgl hierzu im Einzelnen Schmitz, LVA Rheinprovinz
Mitteilungen 2003, 142 ff).
dd) Gestützt wird dieses Normverständnis durch die Regelung des §
77 Abs
3 Satz 3 Nr
2 SGB VI. Danach wird der Zugangsfaktor für EP, die Versicherte bei einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit mit einem Zugangsfaktor
kleiner als 1,0 nach Ablauf des Kalendermonats der Vollendung des 60. Lebensjahres bis zum Ende des Kalendermonats der Vollendung
des 63. Lebensjahres nicht in Anspruch genommen haben, um 0,003 je Kalendermonat erhöht. Die Normierung dieses "Zuschlags"
nach Ablauf des Kalendermonats der Vollendung des 60. Lebensjahres bei einem Zugangsfaktor "kleiner als 1,0" wäre sinnlos,
hätte die gesetzgeberische Absicht tatsächlich darin bestanden, die Minderung des Zugangsfaktors bei Renten wegen verminderter
Erwerbsfähigkeit auf die Zeit ab dem 60. Lebensjahr zu beschränken (zutreffend Mey, RVaktuell 2007, 47).
b) Auch Sinn und Zweck der Vorschrift sprechen für die Auffassung, dass in §
77 Abs
2 SGB VI "Rentenabschläge" in Folge der Minderung des Zugangsfaktors auch für Zeiten des Bezugs einer Hinterbliebenenrente vor der
hypothetischen Vollendung des 60. Lebensjahres des Versicherten geregelt sind. Die vom Gesetzgeber mit §
77 SGB VI in Bezug auf Renten wegen Todes verfolgten Zwecke sind dabei mit denjenigen identisch, die für die Absenkung der Alters-
und Erwerbsminderungsrenten maßgebend sind; da es sich bei Renten wegen Todes um abgeleitete Renten handelt, deren Höhe von
denselben EP abhängt, die den Renten wegen Alters oder wegen Erwerbsminderung zu Grunde zu legen sind, folgt ihre Behandlung
dem gesetzgeberischen Gesamtkonzept, Vor- und Nachteile unterschiedlicher Rentenbezugsdauer bei den Versichertenrenten durch
einen variablen Zugangsfaktor auszugleichen.
§
77 SGB VI wurde neu gefasst durch Art 1 Nr 22 RRErwerbG vom 20.12.2000 (BGBl I 1827). Nach der bisherigen Fassung waren EP bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit
und bei Renten wegen Todes in vollem Umfang (Zugangsfaktor 1,0) zu berücksichtigen. Einen "Abschlag" sah das Gesetz nur bei
der vorzeitigen Inanspruchnahme von Altersrenten vor.
Mit dem RRErwerbG wurde das Ziel verfolgt, die Höhe der Erwerbsminderungsrenten an die Höhe der vorzeitig in Anspruch genommenen
Altersrenten anzupassen, und zwar bei gleichzeitiger Verlängerung der Zurechnungszeit bis zum 60. Lebensjahr (vgl BT-Drucks
14/4230 S 23 f, II Nr 3). Mit der Umsetzung dieses Ziels folgte der Gesetzgeber einer Aufforderung des Bundesrates, der bereits
im Jahr 1989 in seiner Stellungnahme zum RRG 1992 die Bundesregierung aufforderte, eine Änderung des Rechts der Erwerbsminderungsrenten vorzubereiten, die verhindern
sollte, dass die im RRG 1992 angeordnete Heraufsetzung der Altersgrenzen unterlaufen wird (vgl BR-Drucks 120/89 S 8). Dabei ging es dem Gesetzgeber
des RRErwerbG nur um eine "Anpassung" und nicht um eine "Gleichbehandlung"; denn bei einer vorzeitigen Inanspruchnahme einer
Altersrente kann der "Abschlag" bis zu 18 % betragen (vgl zur Anhebung der Altersgrenzen bei der Altersrente BSG SozR 4-2600
§ 237 Nr 1 mwN). Dass der Gesetzgeber nur eine Anpassung, nicht aber eine Gleichbehandlung der Erwerbsminderungsrenten mit
den vorzeitigen Altersrenten beabsichtigte, findet seinen Ausdruck zum einen darin, dass die maximale Rentenabsenkung durch
den geminderten Zugangsfaktor nur 10,8 % beträgt. Zum anderen wird der Versicherte mit Hilfe der Erhöhung der Zurechnungszeit
bis zur Vollendung des 60. Lebensjahres (vgl §§
59 Abs
1 und
2,
253a SGB VI) jetzt so gestellt, als ob er bis zur Vollendung des 60. Lebensjahres weitergearbeitet hätte; dann aber hätte er - bei einer
vorzeitigen Inanspruchnahme einer Altersrente - einen Abschlag von bis zu 18 % in Kauf nehmen müssen (vgl BT-Drucks 14/4230
S 23, II Nr 3).
Mit der Anpassung der Höhe der Erwerbsminderungsrenten an die Höhe der vorzeitig in Anspruch genommenen Altersrenten wollte
der Gesetzgeber zwar einerseits Ausweichreaktionen in die Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit entgegenwirken, wie sich
in der Gesetzesbegründung zu §
77 SGB VI zeigt (vgl BT-Drucks 14/4230 S 26 zu Nr 22). Andererseits sollten die Vorteile eines längeren Rentenbezuges durch einen verminderten
Zugangsfaktor ausgeglichen werden, dessen Wirkung jedoch für erwerbsgeminderte Versicherte und deren Hinterbliebene durch
die Verlängerung der Zurechnungszeit gemildert werden sollte (vgl §
59 Abs
2 Satz 2, §
63 Abs
5 SGB VI idF des RRErwerbG; BT-Drucks 14/4230 S 26 zu Nr 16). Der Vorteil einer früheren Inanspruchnahme einer Rente liegt (statistisch
gesehen) darin, dass die Rentensumme desto höher ist, je länger die Rentenlaufzeit insgesamt ist. Ein früher Renteneintritt
bedeutet somit eine Mehrbelastung der Versichertengemeinschaft, die durch einen abgesenkten Zugangsfaktor begrenzt werden
soll. Ziel ist es, dass der Gesamtwert der lebenslangen Rente unabhängig vom Rentenbeginn im statistischen Durchschnitt gleich
hoch ist (vgl Ohsmann/Stolz/Thiede, DAngVers 2003, 172; Ruland in GK-
SGB VI, §
63 RdNr 53 f, Stand 9/2006). Denn die möglichst frühzeitige Inanspruchnahme einer Rente entspricht nicht dem eine Versicherung
prägenden Prinzip der Äquivalenz zwischen Beitrag und Leistung. Eine wesentliche Durchbrechung dieses Äquivalenz- bzw Versicherungsprinzips
lag im früheren Recht darin, dass Versicherte die Altersrente ohne Abschlag bis zu fünf Jahren vor der regulären Altersgrenze
erhalten konnten und durch den "statistisch" verlängerten Rentenbezug die insgesamt zu zahlende Rentensumme beträchtlich erhöhten.
Das Äquivalenzprinzip kommt durch die Neuregelung des §
63 Abs
5 SGB VI durch das RRErwerbG deutlicher zum Ausdruck als bisher (vgl Ruland, aaO vor §§ 63 ff RdNr 14 ff, Stand 9/2006). Dass die
Stärkung des Äquivalenzprinzips auf die Fälle des Rentenbezugs nach Vollendung des 60. Lebensjahres beschränkt und der Vorteil
einer längeren Rentenbezugsdauer erst ab diesem Zeitpunkt ausgeglichen werden sollte, lässt sich weder dem Wortlaut des §
63 Abs
5 SGB VI noch sonstigen Anhaltspunkten im Gesetz entnehmen.
Die Anpassung der Höhe der Erwerbsminderungsrenten an die Höhe der vorzeitig in Anspruch genommenen Altersrenten wird durch
die Verlängerung der Zurechnungszeit nach §
59 Abs
2 Satz 2
SGB VI begrenzt (vgl die Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. Ruland im Rahmen der 57. Sitzung des Ausschusses für Arbeit
und Sozialordnung am 20.10.2000, Prot 14/57 S 8; BT-Drucks 14/4230 S 23 f, II Nr 3). Bei Inanspruchnahme einer Rente wegen
Erwerbsminderung im Alter von 56 Jahren und acht Monaten ergibt sich danach bei einem "Eckrentner" eine um 3,3 % niedrigere
Rente. Je mehr sich der Versicherte der Altersgrenze von 60 Jahren nähert, desto höher ist der effektive Abschlag bis maximal
10,8 %. Gerade bei diesen altersrentennahen Versicherten sind zusätzliche Anträge auf Erwerbsminderungsrente zu befürchten,
um der maximal 18-prozentigen Minderung einer vorzeitigen Altersrente auszuweichen. Es wäre jedoch insbesondere vor dem Hintergrund
des Art
3 Abs
1 GG nicht gerechtfertigt, die längere Rentenbezugsdauer nur bei der Gruppe der altersrentennahen Versicherten zu berücksichtigen,
sodass sich die allmähliche Steigerung der Rentenminderung, je näher sich die Betroffenen der Vollendung des 60. Lebensjahres
nähern, und ihre Verringerung, je länger das 60. Lebensjahr bereits hinter dem Versicherten liegt, ein in sich schlüssiges
Konzept darstellt (ebenso Mey, RVaktuell 2007, 48).
c) Der weitere systematische und rechtspolitische Gesamtzusammenhang spricht ebenfalls für dieses Normverständnis. Die Anhebung
des Renteneintrittsalters, beginnend mit dem RRG 1992, und die Minderung des Zugangsfaktors ist Teil einer Gesamtstrategie zur Sicherung der Finanzierbarkeit der gesetzlichen
Rentenversicherung und Reaktion auf die demografische Entwicklung (vgl diesbezüglich die Begründung zum RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz,
BT-Drucks 16/3794 S 1). Die stufenweise Anhebung des Renteneintrittsalters dient einer sozial angemessenen und finanziell
tragfähigen Alterssicherungspolitik und ist nach Ansicht der Bundesregierung ein wichtiger Beitrag zu mehr Wachstum und Beschäftigung
(vgl dazu Nationaler Strategiebericht Sozialschutz und soziale Eingliederung vom 9.8.2006 der Bundesregierung, BR-Drucks 583/06
S 33). Die Absenkung des Zugangsfaktors bei Inanspruchnahme von Renten wegen Erwerbsminderung vor Vollendung des 63. Lebensjahres
bei gleichzeitiger Verlängerung der Zurechnungszeit ist Teil dieser Gesamtstrategie. Bei den §
59 Abs
2 Satz 2, §
63 Abs
5, §§
77,
253a,
264c SGB VI handelt es sich um ein aufeinander abgestimmtes "Gesamtpaket" (vgl Klattenhoff in Hauck/Noftz,
SGB VI, K §
253a RdNr 2; Stahl in Hauck/Noftz,
SGB VI, K §
264c RdNr 4 f). Dies findet auch seinen Ausdruck in der Anlage 23, die übergangsweise sowohl für die Bestimmung des Zugangsfaktors
(§
264c SGB VI) als auch für die Anhebung der Zurechnungszeit (§
253a SGB VI) anzuwenden ist. Danach mindert sich der Zugangsfaktor je nach Rentenbeginn in abgestuften Schritten, die jeweils der ebenfalls
stufenweise angeordneten Verlängerung der Zurechnungszeit entsprechen.
Aus einem weiteren Grund kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Gesetzgeber den abgesenkten Zugangsfaktor bei Hinterbliebenenrenten
erst ab dem Zeitpunkt hat einführen wollen, in dem der früher verstorbene Versicherte das 60. Lebensjahr vollendet hätte.
Ungeachtet möglicher verfassungsrechtlicher Bedenken, verstieße die Minderung einer laufenden Hinterbliebenenrente ab fiktiver
Vollendung des 60. Lebensjahres des Versicherten bereits gegen den Grundsatz des §
88 Abs
2 Satz 1
SGB VI, wonach die in einer zuvor festgestellten Rente des Versicherten ermittelten EP auch für eine Hinterbliebenenrente zu übernehmen
sind, wenn diese innerhalb von 24 Kalendermonaten nach der Versichertenrente beginnt (vgl auch von Koch/Kolakowski, SGb 2007,
73; Plagemann in jurisPR-SozR 20/2006 Anm 4), wie auch gegen den Grundsatz des §
88 Abs
2 Satz 2
SGB VI, wonach bei nachfolgenden Hinterbliebenenrenten die bisherigen EP zugrunde zu legen sind, wenn nicht mehr als 24 Kalendermonate
nach dem vorangegangenen Bezug einer solchen Rente liegen. Demnach bleibt es bei derselben Rentenberechnung nicht nur im Falle
der fortlaufenden Zahlung, sondern auch dann, wenn sich eine Hinterbliebenenrente nach dem Tod des Versicherten an eine Rente
wegen Erwerbsminderung oder eine Altersrente anschließt. Bei einer vom Gesetzgeber gewollten Durchbrechung dieser Grundsätze
wären deutliche Hinweise, wenn nicht im Gesetzeswortlaut, so zumindest in der Gesetzesbegründung zu erwarten gewesen.
Als Fortführung der ursprünglichen gesetzgeberischen Intention ist auch die Einfügung von Abs
4 in §
77 SGB VI durch Art 1 Nr
23 RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz vom 20.4.2007 (BGBl I 554) ab dem 1.1.2008 zu werten (vgl zum Inkrafttreten Art 27, zur Neufassung des §
264c SGB VI s Art 1 Nr 72 des genannten Gesetzes), der in der ab 1.1.2008 geltenden Fassung (nF) lautet: "Bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit
und bei Hinterbliebenenrenten, deren Berechnung 40 Jahre mit den in § 51 Abs. 3a und 4 und mit den in § 52 Abs. 2 genannten
Zeiten zugrunde liegen, sind die Absätze 2 und 3 mit der Maßgabe anzuwenden, dass an die Stelle der Vollendung des 65. Lebensjahres
die Vollendung des 63. Lebensjahres und an die Stelle der Vollendung des 62. Lebensjahres die Vollendung des 60. Lebensjahres
tritt." In der Gesetzesbegründung heißt es hierzu (vgl BT-Drucks 16/3794 S 36 zu Nr 23): "In Anlehnung an die Regelung für
Versicherte, die nach 45 Pflichtbeitragsjahren abschlagsfrei in die neue Altersrente für besonders langjährig Versicherte
gehen können, wird für Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit eine besondere Regelung für Versicherte getroffen, die 40
Pflichtbeitragsjahre zurückgelegt haben. Für sie verbleibt es beim bisherigen Recht. Entsprechendes gilt für Hinterbliebenenrenten.
Übergangsregelung ist § 264c."
Wollte man der Auffassung des 4. Senats folgen (vgl nochmals BSGE 96, 209 = SozR 4-2600 § 77 Nr 3, jeweils RdNr 37), wonach der "Rentenabschlag" bei Erwerbsminderungsrenten erst ab Vollendung des
60. Lebensjahres greifen soll, so würde die Vertrauensschutzregelung des §
77 Abs
4 SGB VI nF in ihr Gegenteil verkehrt: Versicherte mit mindestens 40 Pflichtbei-tragsjahren würden durch die Herabsetzung des 62.
auf das 60. Lebensjahr nicht begünstigt, sondern benachteiligt, obwohl es für diesen Personenkreis beim bisherigen Recht bleiben
soll.
3. Entgegen der Ansicht der Klägerin verstößt die Regelung des §
77 Abs
2 SGB VI nicht gegen das
GG.
a) Eine Verletzung des Grundrechts der Klägerin aus Art
14 Abs
1 GG (Eigentumsgarantie) kommt schon deshalb nicht in Betracht, weil Hinterbliebenenrenten nicht dem Eigentumsschutz unterliegen
(BVerfG vom 18.2.1998 - 1 BvR 1318/86 und 1 BvR 1484/86 - BVerfGE 97, 271, 284 = SozR 3-2940 § 58 Nr 1 S 5).
b) Die Regelungen des §
77 Abs
2 Satz 1 Nr
4 Buchst a und Satz 2
SGB VI verstoßen nicht gegen Art
3 Abs
1 GG.
Der allgemeine Gleichheitssatz gebietet, alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln. Demgemäß ist dieses Grundrecht
vor allem dann verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird,
obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die Ungleichbehandlung
rechtfertigen könnten (stellvertretend BVerfGE 112, 50, 67 = SozR 4-3800 § 1 Nr 7 RdNr 55 mwN); Entsprechendes gilt für eine Gleichbehandlung trotz Bestehens gewichtiger Unterschiede.
Bei der Absenkung des Zugangsfaktors für Hinterbliebenenrenten knüpft das Gesetz an das Alter des Versicherten zum Todeszeitpunkt
und nicht an das Alter des Berechtigten zu Beginn der Rente an. Dadurch können Witwen oder Witwer bei gleichem Alter und bei
durchschnittlich gleichem Arbeitsentgelt des Versicherten Anspruch auf unterschiedlich hohe Witwen- oder Witwerrenten haben,
obwohl sie - statistisch gesehen - eine gleich lange Lebenserwartung haben und deshalb gleich lang Hinterbliebenenrente beziehen
können. Insofern ist der in §
63 Abs
5 SGB VI aufgestellte Grundsatz, dass der Zugangsfaktor Vorteile oder Nachteile unterschiedlicher Rentenbezugsdauer vermeiden soll,
bei der Hinterbliebenenrente nicht verwirklicht. Das hängt jedoch mit deren besonderer Funktion zusammen, die finanziellen
Nachteile abzumildern, die durch den Tod des "Ernährers" für den Unterhalt der Familie regelmäßig entstehen, sodass die von
der Klägerin gerügte Ungleichbehandlung gleichwohl verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist.
Die (ihrerseits verfassungsrechtlich unproblematische) Entscheidung des Gesetzgebers für die Einführung von Hinterbliebenenrenten
ist nach ihrem Grundkonzept eine Entscheidung für eine vom versicherungsrechtlichen Status des verstorbenen Versicherten abgeleitete
Versorgung. Da diese Versorgung auf dessen Beitragsleistung beruht, ist es keinesfalls sachwidrig, wenn sie sich in der Höhe
an den vom Verstorbenen erworbenen Anwartschaften ausrichtet und die einer Hinterbliebenenrente zugrunde zu legenden EP dieselben
sind, auf denen eine Rente an den Versicherten beruhen würde, wenn er noch lebte. Eine eigene "Rentenformel" der Hinterbliebenenrente
mit eigenen EP und eigenem Zugangsfaktor würde dem Grundkonzept der abgeleiteten Versorgung nicht entsprechen. Unter dem Blickwinkel
der abgeleiteten Versorgung betrifft die von der Klägerin gerügte Ungleichbehandlung keine im Wesentlichen gleichen Sachverhalte,
wenn die Versicherten nicht im selben Alter verstorben sind. Der Unterschied liegt vor allem darin, dass der jünger verstorbene
Versicherte - bei im Übrigen identischen versicherungsrechtlichen Merkmalen - eine geringere Gesamtbeitragsleistung erbracht
hat als der in höherem Alter Verstorbene. Mit Rücksicht auf die Abhängigkeit der Hinterbliebenenrente vom Status des Versicherten
ist für die Grundregel, dass Vor- und Nachteile einer unterschiedlichen Rentenbezugsdauer vermieden werden sollen, nach dem
Tode des Versicherten kein Raum mehr. Im Übrigen wäre es nahezu widersinnig, den Zugangsfaktor bei der Hinterbliebenenrente
nach dem Alter des Hinterbliebenen zu bestimmen und alle anderen Berechnungselemente - beispielsweise auch die Zurechnungszeit
- auf den Status des Versicherten zu beziehen.
Soweit die Witwenrente der Klägerin anders berechnet wird als Hinterbliebenenrenten, die vor dem 1.1.2001 begonnen haben (vgl
§§ 253a, 264c
SGB VI iVm Anlage 23 in der bis 31.12.2007 geltenden Fassung), ist auch diese Unterscheidung durch hinreichende sachliche Gründe
gerechtfertigt. Insofern gilt nichts anderes als für die Versichertenrenten, von denen die Hinterbliebenenrenten abgeleitet
werden. Die Absicht des Gesetzgebers, Erwerbsminderungsrenten abzusenken, um den Unterschied zu den bereits abgesenkten vorzeitig
in Anspruch genommenen Altersrenten nicht allzu groß werden zu lassen (vgl Senatsbeschlüsse vom 29.1.2008 - B 5a/5 R 32/07 R, B 5a R 88/07 R), rechtfertigt auch die Absenkung der Hinterbliebenenrenten. Denn es wäre kaum nachzuvollziehen, wenn eine
Hinterbliebenenrente nach einer vorzeitigen Altersrente des Versicherten mit einem um bis zu 18 % abgesenkten Zugangsfaktor
zu berechnen wäre, während sie nach einer um bis zu 10,8 % geminderten Erwerbsminderungsrente in voller Höhe zu leisten wäre.
c) Auch aus anderen Gründen war der Gesetzgeber verfassungsrechtlich nicht gehindert, die angegriffene Regelung zu erlassen.
Der Schutzbereich des Art
2 Abs
1 GG ist nicht berührt. Das käme im Zusammenhang mit dem geminderten Witwenrentenanspruch der Klägerin nur in Betracht, wenn sie
selbst vorher durch die Anordnung von Zwangsmitgliedschaft und Beitragspflichten in ihrer Betätigungsfreiheit durch Einschränkung
von deren wirtschaftlichen Voraussetzungen nicht unerheblich eingeengt worden wäre (BVerfGE 97, 271, 286 = SozR 3-2940 § 58 Nr 1 S 7 mwN). Da lediglich der Versicherte der Zwangsmitgliedschaft in der gesetzlichen Rentenversicherung
unterworfen war, trifft diese Voraussetzung auf die Klägerin von vorneherein nicht zu. Selbst wenn man unterstellt, die Klägerin
sei in ihrer Betätigungsfreiheit (mit-)betroffen gewesen, weil das Familieneinkommen durch die Versicherungsbeiträge des pflichtversicherten
Ehemannes gemindert worden sei, oder wenn man aus anderen Gründen die Grundrechtsbetroffenheit der Klägerin bejaht, ergibt
sich daraus kein Grundrechtsverstoß, weil der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und das Vertrauensschutzprinzip gewahrt sind.
Die Notwendigkeit des Eingriffs ergibt sich aus den Erwägungen, die den Gesetzgeber dazu bewogen haben, Erwerbsminderungsrenten
in ähnlicher (abgemilderter) Form zu kürzen wie vorzeitig in Anspruch genommene Altersrenten, und die in den weiteren Senatsbeschlüssen
vom 29.1.2008 (B 5a/5 R 32/07 R, B 5a R 88/07 R) näher dargelegt sind, sowie aus dem bereits dargestellten Abhängigkeitsverhältnis von Hinterbliebenen-
zu Versichertenrenten. Die hier für den Eingriff - Absenkung des Zugangsfaktors - maßgebliche Regelung des §
77 Abs
2 Nr
3 SGB VI idF des RRErwerbG greift nicht im Sinne einer (echten) Rückwirkung zu Ungunsten der Klägerin in eine Rechtsposition ein,
die diese bereits vor Inkrafttreten am 1.1.2001 (vgl Art 24 Abs 1 RRErwerbG) inne hatte. Im Übrigen ist hierbei zu berücksichtigen,
dass der Bundesrat bereits im April 1989 die Bundesregierung aufgefordert hatte, der Gefahr zu begegnen, dass die im RRG 1992 vorgesehene Heraufsetzung der Altersgrenzen unterlaufen wird. Die Änderung der Rechtslage war für die Berechtigten daher
nicht völlig überraschend. Durch die Übergangsregelung der §§ 253a, 264c
SGB VI wird erreicht, dass sich die Absenkung des Zugangsfaktors für sich genommen etwa im Fall der Klägerin und bezogen auf den
1.1.2002 nur mit rund 11 Euro im Monat auf die Rente auswirkt, während es andernfalls über 100 Euro gewesen wären; bei Berücksichtigung
der (jeweils) verlängerten Zurechnungszeit sinken die Kürzungsbeträge auf 1,25 Euro bzw - ohne Übergangsregelung - auf knapp
28 Euro. Damit ist auch unter diesem Gesichtspunkt ein ausreichender Vertrauensschutz gewährleistet; die Übergangszeit vom
1.1.2001 bis zum 31.12.2003 ist ebenfalls nicht zu beanstanden. Die Rentenkürzung trifft die Klägerin dank Übergangsregelung
mit unter 0,2% nicht unverhältnismäßig. Das gilt aber auch unabhängig vom Übergangsrecht. Mit einer maximalen Kürzung um 10,8
% bei einem Versicherungsfall im Alter von 60 Jahren ist einerseits die Annäherung an die 18 %-ige Minderung der vorzeitigen
Altersrente genügend deutlich, um ein zu weites Auseinanderklaffen der verschiedenen Rentenarten zu vermeiden. Andererseits
wird berücksichtigt, dass der Berechtigte es bei Erwerbsminderungs- oder Hinterbliebenenrenten nicht in der Hand hat, wann
der Versicherungsfall eintritt, während die vorzeitige Altersrente in der Regel eine Option darstellt, zu deren Inanspruchnahme
sich der Versicherte allerdings - etwa durch Arbeitslosigkeit - stark gedrängt fühlen kann.
4. Unter Zugrundelegung der hier vertretenen Auffassung wäre die Revision der Klägerin mithin zurückzuweisen. Eine Entscheidung
in diesem Sinne ist dem Senat jedoch nicht ohne Abweichung von dem Urteil des 4. Senats vom 16.5.2006 (BSGE 96, 209 = SozR 4-2600 § 77 Nr 3) möglich.
In dem vom 4. Senat entschiedenen Fall hatte die im August 1960 geborene Klägerin ein Recht auf Rente wegen voller Erwerbsminderung
und begehrte von der Beklagten für Bezugszeiten ab dem 1.3.2003 die Berechnung der Rente unter Zugrundelegung des Zugangsfaktors
1,0. Sie beanstandete, dass die Beklagte den Zugangsfaktor auf 0,919 abgesenkt hatte. Der 4. Senat hat der kombinierten Anfechtungs-
und Leistungsklage auf Zahlung einer höheren Rente stattgegeben. Dabei hat er ua ausgeführt (aaO, RdNr 21 ff):
"Nach dieser Vorschrift gibt es drei Gruppen von Erwerbsminderungsrentnern:
- Erstens die 63- bis 65-Jährigen, die keine Kürzung ihrer Vorleistung hinnehmen müssen ...
- Zweitens ältere Rentner, bei denen der Versicherungsfall der 'Erwerbsminderung' zwar vor Vollendung des 63. Lebensjahres,
aber erst eingetreten ist, als sie älter als 35 Jahre und zwei Monate waren. Diese müssen für jeden Monat der 'vorzeitigen
Renteninanspruchnahme' eine Minderung des Zugangsfaktors ('Rentenabschlag') um 0,003 hinnehmen.
- Drittens die Versicherten, die im Alter von 35 Jahren und zwei Monaten oder früher nach Erfüllung der Wartezeit einen der
Versicherungsfälle der Sparte der Erwerbsminderungsversicherung erleiden; sie erhalten keine Rente. Denn bei ihnen ist gemäß
§
77 Abs
2 Satz 1 Nr
3 SGB VI idF des RRErwerbG (333,3 Periode an Kalendermonaten mal 0,003 = 1) der gesamte Zugangsfaktor abgeschmolzen und deshalb überhaupt
keine Vorleistung mehr anzurechnen (Zugangsfaktor 0,0) mit der Folge, dass dieses Recht (als nudum ius) keinen Geldwert mehr
hat.
Diese Regelung ist schon deshalb in sich schlechthin objektiv willkürlich, wenn man sie nicht verfassungskonform auf die Anordnung
reduziert, dass zwischen einer 'Regelerwerbsminderungsrente', die nach Vollendung des 63. Lebensjahres (anders als die flexible
AlR nach §
36 SGB VI) 'abschlagsfrei' zusteht, und 'vorzeitigen Erwerbsminderungsrenten' zu unterscheiden ist. §
77 Abs
2 Satz 1 Nr
3 SGB VI stellt somit klar, dass es 'vorzeitige' Erwerbsminderungsrenten bei Rentenbeginn 'vor' dem 64. Lebensjahr gibt, lässt aber
offen, wann der 'Vorzeitigkeitszeitraum' beginnt.
Den Beginn der 'Vorzeitigkeit' regelt ausdrücklich §
77 Abs
2 Satz 2 (und Satz 3 - dazu sogleich)
SGB VI idF des RRErwerbG. Die Vorschrift legt - wie bei den AlRn - den frühesten Beginn der 'Vorzeitigkeit' auf die Vollendung des
60. Lebensjahres fest.
... Das Gesetz schließt ausdrücklich einen verringerten Zugangsfaktor ('Rentenabschlag') für Bezugszeiten vor Vollendung des
60. Lebensjahres aus.
... Vielmehr legt dieses fest, dass Erwerbsminderungsrenten erst dann eine 'Bestimmung des Zugangsfaktors' (also einer von
1,0 abweichenden Festsetzung) unterworfen sind, wenn der Rentner 'das 60. Lebensjahr vollendet hat' und damit erstmals ein
Ausweichen vor Abschlägen bei Altersrenten überhaupt theoretisch möglich wird."
Diese Auffassung ist für die Entscheidung des 4. Senats insoweit tragend, als dieser die Anfechtungsklage für zulässig und
begründet erachtet hat. Die Rechtsauffassung des 4. Senats ist mit der Rechtsauffassung des erkennenden Senats auch insoweit
nicht zu vereinbaren, als der 4. Senat über eine Erwerbsminderungsrente entschieden hat und im jetzigen Rechtsstreit über
eine Witwenrente zu entscheiden ist. Denn mit Rücksicht auf die gemeinsame Regelung von Erwerbsminderungsrenten und Hinterbliebenenrenten
in §
77 Abs
2 Satz 2
SGB VI und deren aufgezeigte Abhängigkeit voneinander erscheint eine unterschiedliche rechtliche Beurteilung als ausgeschlossen.
Deshalb würde die Auffassung des 4. Senats bedeuten, dass auf die Revision der Klägerin das Urteil des SG Berlin vom 16.7.2007
aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen wäre, eine höhere Rente unter Zugrundelegung des Zugangsfaktors 1,0 zu leisten.
5. Zwar kann der 4. Senat wegen einer Änderung des Geschäftsverteilungsplanes mit Wirkung zum 1.1.2008 mit dieser Rechtsfrage
nicht mehr befasst werden. Der 13. Senat ist aber nach dem Geschäftsverteilungsplan in der ab 1.1.2008 gültigen Fassung wie
auch der erkennende Senat an die Stelle des 4. Senats getreten. Der erkennende Senat kann somit nicht allein die bisherige
Rechtsprechung des 4. Senats aufgeben, sodass gemäß §
41 Abs
3 Satz 1 und
2 SGG beim 13. Senat des BSG anzufragen ist, ob dieser an der Rechtsauffassung des 4. Senats festhält.