Anspruch auf Kinderzuschlag nach dem BKGG
Keine Vermeidung von Hilfebedürftigkeit nach dem SGB II beim Leistungsausschluss aufgrund einer Leistungsberechtigung nach dem AsylbLG
Anforderungen an die Anwendbarkeit des assoziationsrechtlichen Diskriminierungsverbots des Art. 3 des Beschlusses Nr. 3/80
des Assoziationsrates EWG-Türkei
Gründe:
I
Die Beteiligten streiten über die Bewilligung von Kinderzuschlag für Dezember 2011 und Juni 2013.
Der Kläger und seine Ehefrau sind Eltern von sechs Kindern (geboren zwischen 1989 und 2007). Sie reisten 1989 als Staatenlose
aus dem Libanon bzw libanesische Staatsangehörige in die Bundesrepublik Deutschland ein. Seit 2000 waren sie im Besitz unbefristeter
Aufenthaltserlaubnisse. Im Jahr 2006 erhielt die Ausländerbehörde Kenntnis von türkischen Geburtsregisterurkunden, wonach
der Kläger und seine Ehefrau in der Türkei geboren sind und die türkische Staatsangehörigkeit besitzen. Auf der Grundlage
eines im ausländerrechtlichen Verfahren abgeschlossenen Vergleichs nahm die Ausländerbehörde alle erteilten Aufenthaltstitel
auf den Tag ihrer Erteilung zurück und wies den Kläger aus dem Bundesgebiet aus, setzte die Abschiebung aber zugleich für
die Dauer von 18 Monaten aus und stellte nach Ablauf dieser 18 Monate bei Vorliegen allgemeiner Erteilungsvoraussetzungen
- insbesondere des Bestreitens des Lebensunterhalts überwiegend aus eigenen Mitteln und der Vorlage eines türkischen Nationalpasses
- eine humanitäre Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs 5 AufenthG in Aussicht (Vergleichsschreiben vom 3.3.2011 und Bescheid des Rems-Murr-Kreises vom 31.5.2011). Der Kläger war in der Folgezeit
- ua im streitigen Monat Dezember 2011 - im Besitz von Duldungen. Eine (unselbstständige) Beschäftigung war ihm uneingeschränkt
erlaubt. Nach Vorlage eines türkischen Passes im September 2012 erteilte die Ausländerbehörde dem Kläger im Januar 2013 die
in Aussicht gestellte Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs 5 AufenthG.
Einen Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II lehnte das Jobcenter Rems-Murr mit der Begründung ab, der Kläger sei als Leistungsberechtigter nach dem
AsylbLG von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen (Bescheid vom 27.7.2011; Widerspruchsbescheid vom 12.8.2011).
Am 15.11.2011 beantragte der Kläger die Gewährung von Kinderzuschlag nach dem
BKGG für seine sechs Kinder. Die beklagte Familienkasse lehnte dies mit der Begründung ab, durch die Gewährung eines Kinderzuschlags
könne Hilfebedürftigkeit nach § 9 SGB II nicht vermieden werden, da der Kläger und seine Familie gemäß § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB II von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen seien (Bescheid vom 19.1.2012; Widerspruchsbescheid vom 12.4.2012).
Der Kläger war ua im Dezember 2011 und Juni 2013 sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Seine Ehefrau erzielte im Juni
2013 Einkünfte aus selbstständiger Tätigkeit. Der Familie wurde in den streitigen Monaten Wohngeld und Kindergeld gezahlt.
Das SG hat die im Streit stehenden Bescheide teilweise aufgehoben und die Beklagte nach vergleichsweiser Beschränkung des streitigen
Zeitraums verurteilt, Kinderzuschlag für Dezember 2011 iHv 840 Euro und für Juni 2013 iHv 360 Euro zu gewähren (Urteil vom
21.9.2017). Auf die Berufung der Beklagten hat das LSG das Urteil des SG geändert und die Klage betreffend Dezember 2011 abgewiesen sowie die Berufung im Übrigen zurückgewiesen (Urteil vom 22.10.2020).
Zur Begründung hat es ausgeführt, der Kläger sei zwar aufgrund des Ausschlusses von Leistungen nach dem SGB II (mittelbar) auch vom Kinderzuschlag ausgeschlossen. Der Anspruch des Klägers für Juni 2013 folge jedoch aus dem in Art 3
Abs 1 des Beschlusses Nr 3/80 des Assoziationsrats EWG-Türkei über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten
der Europäischen Gemeinschaften auf die türkischen Arbeitnehmer und auf deren Familienangehörige (ARB Nr 3/80) normierten
assoziationsrechtlichen Diskriminierungsverbot. Er falle als erwerbstätiger türkischer Staatsangehöriger, dem ein Aufenthaltstitel
nach § 25 Abs 5 AufenthG erteilt wurde, sowohl unter den persönlichen als auch den sachlichen Geltungsbereich des ARB Nr 3/80. Der Kinderzuschlag
nach § 6a
BKGG stelle eine "Familienleistung" iS des Art 4 Abs 1 Buchst h ARB Nr 3/80 dar. Für den Monat Dezember 2011 könne sich der Kläger nicht auf das Diskriminierungsverbot berufen.
Sein Aufenthalt sei in dieser Zeit nur geduldet gewesen.
Mit ihren vom LSG zugelassenen Revisionen rügen die Beteiligten jeweils eine Verletzung des § 6a Abs 1 Nr 4
BKGG sowie des Art 3 Abs 1 ARB Nr 3/80.
Der Kläger ist der Ansicht, er habe aufgrund Art 3 Abs 1 ARB Nr 3/80 nicht nur für Juni 2013, sondern auch für Dezember 2011
einen Anspruch auf Gewährung eines Kinderzuschlags. Der Anwendungsbereich des assoziationsrechtlichen Diskriminierungsverbots
sei unabhängig von der Erteilung eines Aufenthaltstitels eröffnet. Auch bei einer bloßen Duldung des Aufenthalts sei er einem
Inländer gleichzustellen.
Der Kläger beantragt,
1) das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 22. Oktober 2020 in der Fassung des Berichtigungsbeschlusses
vom 29. Oktober 2020 zu ändern und die Berufung der Beklagten mit der Maßgabe, Kinderzuschlag in gesetzlicher Höhe zu zahlen,
insgesamt zurückzuweisen sowie
2) die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
1) das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 22. Oktober 2020 in der Fassung des Berichtigungsbeschlusses
vom 29. Oktober 2020 aufzuheben und die Klage insgesamt abzuweisen sowie
2) die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Die Beklagte ist der Ansicht, der Kläger habe weder für Dezember 2011 noch für Juni 2013 einen Anspruch auf Kinderzuschlag.
Er erfülle die Grundvoraussetzung der Vermeidung von Hilfebedürftigkeit nach § 9 SGB II nicht, weil er auch nach Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs 5 AufenthG von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen gewesen sei. Art 3 ARB Nr 3/80 vermittele keinen Anspruch auf Kinderzuschlag, weil dieser keine "Familienleistung" iS des Art 4 Abs 1 Buchst
h ARB Nr 3/80 sei.
II
Die zulässigen Revisionen der Beteiligten sind jeweils unbegründet (§
170 Abs
1 Satz 1
SGG). Zutreffend hat das LSG entschieden, dass der Kläger nur für Juni 2013, nicht aber für Dezember 2011 einen Anspruch auf
Kinderzuschlag hat.
1. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist neben den vorinstanzlichen Entscheidungen der Bescheid vom 19.1.2012 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheids vom 12.4.2012, beschränkt auf die Monate Dezember 2011 und Juni 2013, sowie die Gewährung von Kinderzuschlag
für diese beiden Monate.
2. Verfahrensrechtliche Hindernisse stehen einer Sachentscheidung des Senats nicht entgegen. Der Kläger verfolgt sein Begehren
zutreffend im Wege der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§
54 Abs
1 Satz 1, Abs
4 SGG). Soweit er - zur Vermeidung einer Zurückverweisung vor dem Hintergrund fehlender Feststellungen zur Berechnung der konkreten
Leistungshöhe - im Revisionsverfahren den Erlass eines Grundurteils (§
130 Abs
1 Satz 1
SGG) beantragt hat, liegt hierin keine im Revisionsverfahren unzulässige Klageänderung (vgl §
168 Satz 1
SGG).
3. Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch des Klägers auf Zuerkennung eines Kinderzuschlags für Dezember 2011
und Juni 2013 ist § 6a
BKGG idF, die die Vorschrift zuletzt mWv 1.1.2011 durch Gesetz vom 7.12.2011 (BGBl I 2592) erhalten hat.
4. Kinderzuschlag erhalten nach § 6a Abs 1
BKGG in der insoweit hier maßgeblichen Fassung Personen für in ihrem Haushalt lebende unverheiratete Kinder, die noch nicht das
25. Lebensjahr vollendet haben, wenn sie für diese Kinder nach diesem Gesetz oder nach dem X. Abschnitt des
EStG Anspruch auf Kindergeld oder Anspruch auf andere Leistungen iS von § 4
BKGG haben (Nr 1), sie mit Ausnahme des Wohngelds und des Kindergelds über Einkommen iS des § 11 Abs 1 Satz 1 SGB II iHv 900 Euro oder, wenn sie alleinerziehend sind, iHv 600 Euro verfügen, wobei Beträge nach § 11b SGB II nicht abzusetzen sind (Nr 2), sie mit Ausnahme des Wohngelds über Einkommen oder Vermögen iS der §§ 11 bis 12 SGB II verfügen, das höchstens dem nach Abs 4 Satz 1 für sie maßgebenden Betrag zuzüglich dem Gesamtkinderzuschlag nach Abs 2 entspricht (Nr 3), und durch den Kinderzuschlag Hilfebedürftigkeit nach § 9 SGB II vermieden wird (Nr 4).
Die Anspruchsvoraussetzungen nach § 6a Abs 1 Nr 1 bis 3
BKGG lagen in den beiden streitigen Monaten vor (5.). Gegen das Vorliegen der Anspruchsvoraussetzung des § 6a Abs 1 Nr 4
BKGG spricht zwar, dass der Kläger grundsätzlich leistungsberechtigt nach dem
AsylbLG und von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen ist, weshalb durch einen Kinderzuschlag Hilfebedürftigkeit nach dem SGB II nicht vermieden werden kann (6.). Allerdings kann sich der Kläger im Hinblick auf Juni 2013, nicht aber für Dezember 2011,
auf das assoziationsrechtliche Gleichbehandlungsgebot gemäß Art 3 ARB Nr 3/80 berufen. Aus diesem Grund darf ihm der aus seinem
Aufenthaltsstatus folgende (mittelbare) Leistungsausschluss von Kinderzuschlag für Juni 2013 nicht entgegengehalten werden
(7.). Soweit der Kläger für Dezember 2011 nicht anspruchsberechtigt ist, ergibt sich kein weitergehender Anspruch auf Gleichbehandlung
aus dem Vorläufigen Europäischen Abkommen über Soziale Sicherheit unter Ausschluss der Systeme für den Fall des Alters, der
Invalidität und zugunsten der Hinterbliebenen vom 11.12.1953 (8.).
5. Die Voraussetzungen des § 6a Abs 1 Nr 1 bis 3
BKGG liegen nach dem Gesamtzusammenhang der Feststellungen des LSG vor. Der Kläger bezog für seine Kinder in den streitigen Monaten
Kindergeld und sein Einkommen überstieg jeweils die Mindesteinkommensgrenze von 900 Euro, ohne dass es auf der Grundlage der
vom LSG in Bezug genommenen und von den Beteiligten in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat als zutreffend bezeichneten
Probeberechnungen die (individuelle) Höchsteinkommensgrenze nach § 6a Abs 1 Nr 3
BKGG überschritt (hier idF des Gesetzes vom 24.3.2011, BGBl I 453; abgeschafft durch Art 2 Nr 2 Buchst a Doppelbuchst bb des Starke-Familien-Gesetzes
vom 29.4.2019, BGBl I 530).
6. Soweit § 6a Abs 1 Nr 4
BKGG in der hier maßgeblichen Fassung verlangt, dass durch den Kinderzuschlag Hilfebedürftigkeit nach § 9 SGB II vermieden wird, ist diese Voraussetzung zunächst nicht erfüllt. Der Kinderzuschlag kann Hilfebedürftigkeit nach dem SGB II dann nicht vermeiden, wenn der Kläger von Leistungen nach dem SGB II ausgenommen ist (§ 7 Abs 1 Satz 2 SGB II; hierzu, auch zur Verfassungsmäßigkeit des mittelbaren Ausschlusses vom Kinderzuschlag für
AsylbLG-Leistungsberechtigte, BSG vom 15.12.2010 - B 14 KG 1/09 R - RdNr 13 f). Der Kläger ist sowohl für Dezember 2011 als grundsätzlich auch für Juni 2013 von Leistungen nach dem SGB II ausgenommen (§ 7 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB II), weil er aufgrund der Duldung seines Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland und der ihm später erteilten Aufenthaltserlaubnis
nach § 25 Abs 5 AufenthG leistungsberechtigt nach §
1 Abs
1 Nr
3 und
4 AsylbLG (idF des Gesetzes vom 22.11.2011, BGBl I 2258) war.
Dem Ausschluss von Leistungen nach dem SGB II steht im vorliegenden Einzelfall weder Völkerrecht noch Assoziationsrecht entgegen. Diesen hat die Familienkasse unter allen
Gesichtspunkten in eigener Zuständigkeit zu prüfen, obwohl das Jobcenter den Antrag des Klägers auf Alg II bereits abgelehnt
hat. Der ablehnenden Entscheidung in jenem Verhältnis kommt keine tatbestandliche Wirkung bei der Prüfung der Frage zu, ob
der Kläger deshalb keinen Anspruch auf Kinderzuschlag hat, weil SGB II-Hilfebedürftigkeit aufgrund eines dort greifenden Leistungsausschlusses nicht vermieden werden kann. Die gesetzliche Regelung
enthält keine Anhaltspunkte dafür, dass den Entscheidungen der Jobcenter im Verhältnis zu den Familienkassen und Gerichten
im Hinblick auf den (mittelbaren) Ausschluss von Kinderzuschlag - ohne Rücksicht auf ihre materielle Richtigkeit - bindende
Wirkung zukommen soll (vgl allgemein zur Tatbestandswirkung zB BSG vom 2.12.2014 - B 14 AS 8/13 R - BSGE 117, 297 = SozR 4-4200 § 7 Nr 41, RdNr 12). Entscheidend ist allein die materielle Rechtslage.
Der Anwendung des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs 1 Satz 2 SGB II steht das Europäische Fürsorgeabkommen vom 11.12.1953 ("EFA"; BGBl 1956 II 564) nicht entgegen (a). Ein materielles assoziationsrechtliches
Aufenthaltsrecht nach dem Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der EWG und der Republik Türkei vom 12.9.1963 (Assoziationsabkommen
EWG-Türkei; BGBl 1964 II 509), das einen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II begründet, liegt nicht vor (b).
a) Der Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 Satz 2 SGB II wird vorliegend nicht durch Art 1 EFA als unmittelbar geltendes und spezielleres Bundesrecht für Staatsangehörige der Vertragsstaaten bei den vom Abkommen
erfassten Fürsorgeleistungen verdrängt (hierzu grundlegend BSG vom 19.10.2010 - B 14 AS 23/10 R - BSGE 107, 66 = SozR 4-4200 § 7 Nr 21). Zwar haben die Bundesrepublik Deutschland und die Türkei das EFA ratifiziert und gehört die Grundsicherung
für Arbeitsuchende nach dem SGB II zu diesen Fürsorgeleistungen (Anhang I zum EFA iVm Art 2 Buchst b und Art 19 EFA). Im Hinblick auf den streitigen Monat Juni 2013 steht einer Inländergleichbehandlung jedoch der
von der Bundesregierung am 19.12.2011 erklärte Vorbehalt (vgl Art 16 Abs b Satz 2 EFA) betreffend der Leistungen nach dem SGB II entgegen (Anhang II zum EFA idF der Bekanntmachung vom 31.1.2012, BGBl II 144, berichtigt durch die Bekanntmachung vom 3.4.2012,
BGBl II 470; zur formellen und materiellen Wirksamkeit der Vorbehaltserklärung BSG vom 3.12.2015 - B 4 AS 43/15 R - BSGE 120, 139 = SozR 4-4200 § 7 Nr 46, RdNr 18 ff; BSG vom 9.8.2018 - B 14 AS 32/17 R - SozR 4-4200 § 7 Nr 57 RdNr 34). Soweit streitig darüber hinaus der Monat Dezember 2011 ist, in dessen Verlauf der Vorbehalt
der Bundesrepublik beim Generalsekretariat des Europarats registriert worden ist, war der Aufenthalt des Klägers nicht "erlaubt"
iS des Art 1 EFA. Eine Duldung (§ 60a AufenthG) reicht hierfür nicht aus (OVG Bremen vom 18.12.2013 - S3 A 205/12 - juris RdNr 67; Schlette in Hauck/Noftz, SGB XII, § 23 RdNr 26c, Stand Juli 2021; allgemein zum "erlaubten Aufenthalt" iS von Art 1 EFA BSG vom 3.12.2015 - B 4 AS 59/13 R - juris RdNr 21 ff; BSG vom 9.8.2018 - B 14 AS 32/17 R - SozR 4-4200 § 7 Nr 57 RdNr 34).
b) Die Voraussetzungen eines assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrechts nach Art 6 Abs 1 Beschluss des Assoziationsrats EWG-Türkei
über die Entwicklung der Assoziation (ARB Nr 1/80) vom 19.9.1980, das trotz der erteilten Duldung bzw der später erteilten
humanitären Aufenthaltserlaubnis dem Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB II entgegenstehen könnte, lagen weder im Dezember 2011 noch im Juni 2013 vor.
Zwar ist für die Zuordnung zu dem Existenzsicherungssystem des
AsylbLG und damit zu dem Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB II grundsätzlich ohne Bedeutung, ob ein anderer, nicht von §
1 Abs
1 AsylbLG erfasster Aufenthaltstitel oder ein anderes materielles Aufenthaltsrecht in Betracht kommen, die einen Zugang zu Leistungen
nach dem SGB II eröffnen. Drittstaatsangehörige, die sich aufenthaltsrechtlich auf einen anderen Status berufen, müssen entweder eine Korrektur
ihrer aufenthaltsrechtlichen Stellung nach Maßgabe der dafür nach VwVfG oder
VwGO vorgesehenen Verfahren in die Wege leiten oder bei der zuständigen Ausländerbehörde die Erteilung eines Aufenthaltstitels
beantragen, der nicht den Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB II begründet (zur Tatbestandswirkung eines erteilten Aufenthaltstitels insoweit BSG vom 2.12.2014 - B 14 AS 8/13 R - BSGE 117, 297 = SozR 4-4200 § 7 Nr 41, RdNr 12; BSG vom 14.6.2018 - B 14 AS 28/17 R - SozR 4-4200 § 7 Nr 56 RdNr 18).
Dies gilt aber nicht für türkische Staatsangehörige, die aufgrund des Assoziationsabkommens EWG-Türkei, ausgeformt durch den
Beschluss ARB Nr 1/80, aufenthaltsberechtigt sind. Die Ausstellung einer Aufenthaltserlaubnis für diesen Personenkreis nunmehr
nach § 4 Abs 2 AufenthG (idF des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes vom 15.8.2019, BGBl I 1307; zuvor § 4 Abs 5 AufenthG) wirkt nur deklaratorisch (EuGH vom 6.6.1995 - C-434/93 - Bozkurt, EU:C:1995:168, Slg 1995, I-1475 RdNr 29; zu den getrennten Rechtskreisen Assoziationsrecht und mitgliedstaatliches
Aufenthaltsrecht BVerwG vom 28.4.2015 - 1 C 21.14 - BVerwGE 152, 76 RdNr 22). Für diesen Fall bedürfen türkische Staatsangehörige für den Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland - vergleichbar
der Rechtsstellung von Unionsbürgern - keines Aufenthaltstitels und ist auf das Vorliegen eines materiellen assoziationsrechtlichen
Aufenthaltsrechts abzustellen. Im Anwendungsbereich des § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB II ist damit bei türkischen Staatsangehörigen von Amts wegen zu prüfen, ob die Voraussetzungen eines materiellen assoziationsrechtlichen
Aufenthaltsrechts nach dem Assoziationsabkommen EWG-Türkei vorliegen. Ob ein anderer, nicht von §
1 Abs
1 AsylbLG erfasster Aufenthaltstitel bzw ein anderes materielles Aufenthaltsrecht in Betracht kommen, die einen Zugang zu Leistungen
nach dem SGB II eröffnen, ist hingegen unbeachtlich.
Ein solches assoziationsrechtliches materielles Aufenthaltsrecht eines türkischen Staatsangehörigen kann sich aus dem System
der schrittweisen Eingliederung der türkischen Staatsangehörigen in den Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats gemäß Art
6 Abs 1 ARB Nr 1/80 ergeben. Danach hat ein türkischer Arbeitnehmer, der in einem Mitgliedstaat entsprechend der hierfür geltenden
aufenthaltsrechtlichen Regelungen länger als ein Jahr ununterbrochen für den gleichen Arbeitgeber eine tatsächliche und echte
wirtschaftliche Tätigkeit ausgeübt hat, entsprechend des in Art 6 Abs 1 Spiegelstrich 1 bis 3 ARB Nr 1/80 abgestuften Systems
einen Anspruch auf Zugang zum nationalen Arbeitsmarkt, womit aus Gründen der praktischen Wirksamkeit ein entsprechendes Aufenthaltsrecht
korrespondiert (stRspr; vgl nur EuGH vom 10.1.2006 - C-230/03 - Sedef, EU:C:2006:5, Slg 2006, I-157 RdNr 33 mwN). Die Ordnungsmäßigkeit der Beschäftigung eines türkischen Staatsangehörigen
im Aufnahmemitgliedstaat iS von Art 6 Abs 1 ARB Nr 1/80 setzt eine gesicherte und nicht nur vorläufige Position auf dem Arbeitsmarkt
dieses Mitgliedstaats und damit ein nicht bestrittenes Aufenthaltsrecht voraus (EuGH vom 8.11.2012 - C-268/11 - Gülbahce, EU:C:2012:695, NVwZ 2012, 1617 RdNr 39 mwN; Beispiele für eine nur vorläufige Rechtsposition bei BVerwG vom 14.5.2013 - 1 C 16.12 - BVerwGE 146, 271, juris RdNr 18; Kurzidem in BeckOK AuslR, EWG-Türkei Art 6 RdNr 19 ff, Stand 1.7.2021).
Vorliegend fehlen Feststellungen zu den Beschäftigungszeiten des Klägers. Der Rechtsstreit ist gleichwohl nicht zur Prüfung
eines dem Leistungsausschluss des § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB II entgegenstehenden Aufenthaltsrechts nach Art 6 ARB Nr 1/80 für die beiden streitgegenständlichen Monate zurückzuverweisen. Das LSG hat - unter Angabe der entsprechenden
Seitenzahlen in der Ausländerakte - Bezug genommen auf den Bescheid der Ausländerbehörde vom 31.5.2011, dem ein zuvor geschlossener
außergerichtlicher Vergleich vorausging. Aus dem Gesamtzusammenhang der Feststellungen ergibt sich zudem, dass der Bescheid
vom 31.5.2011, mit dem die dem Kläger im Jahr 1994 erteilte Aufenthaltsbefugnis einschließlich aller Verlängerungen und die
im Jahr 2000 erteilte unbefristete Aufenthaltserlaubnis jeweils auf den Tag der Erteilung zurückgenommen worden sind, bestandskräftig
geworden ist. Damit steht verbindlich fest, dass der Kläger bis zu diesem Zeitpunkt über kein nationales Aufenthaltsrecht
verfügte und die zuvor ausgeübten Beschäftigungen daher zu keinem Zeitpunkt ordnungsgemäß iS des Art 6 Abs 1 ARB Nr 1/80 waren
(vgl BVerwG vom 29.5.2018 - 1 C 17.17 - Buchholz 402.242 § 4 AufenthG Nr 4, juris RdNr 21). Auf die Frage, ob der Kläger die ihm erteilten Aufenthaltserlaubnisse tatsächlich durch arglistige
Täuschung über seine Identität und seine Staatsangehörigkeit erwirkt hat (vgl hierzu EuGH vom 29.9.2011 - C-187/10 - Unal, EU:C:2011:623, Slg 2011, I-9045 RdNr 45 mwN; BVerwG vom 12.4.2005 - 1 C 9.04 - BVerwGE 123, 190; BVerwG vom 14.5.2013 - 1 C 16.12 - BVerwGE 146, 271, juris RdNr 19; vgl auch EuGH vom 8.11.2012 - C-268/11 - Gülbahce, EU:C:2012:695, NVwZ 2012, 1617), wovon der Bescheid vom 31.5.2011 ausgeht, was vom Kläger aber bestritten wird, kommt es danach nicht mehr an. Der Kläger
verfügte zudem auch nach Erlass des Bescheids vom 31.5.2011 während der Zeit seines geduldeten Aufenthalts über keine gesicherte,
sondern nur über eine vorläufige Position auf dem Arbeitsmarkt (vgl nur Dienelt in Bergmann/Dienelt, 13. Aufl 2020, Art 6
ARB 1/80 RdNr 66), weswegen ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht sowohl im Dezember 2011 als auch im Juni 2013 nicht
bestand.
7. Der Kläger kann sich allerdings im Hinblick auf seinen Anspruch auf Gewährung eines Kinderzuschlags für Juni 2013 auf das
assoziationsrechtliche Gleichbehandlungsgebot des Art 3 Abs 1 ARB Nr 3/80 vom 19.9.1980 (ABl EG 1983 C 110, 60) berufen. Dies gilt nicht für den ebenfalls streitigen Monat Dezember 2011.
Nach Art 3 Abs 1 ARB Nr 3/80 haben Personen, die im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnen und für die der Beschluss gilt, die
gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie die Staatsangehörigen dieses Staates,
soweit der Beschluss nichts anderes bestimmt. Dieses Gleichbehandlungsgebot beinhaltet zugleich ein Art 9 Assoziationsabkommen
EWG-Türkei konkretisierendes Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit. Ihm kommt - als unionsrechtlicher
Regelung mit Anwendungsvorrang - unmittelbare Wirkung in den Vertragsstaaten zu, ohne dass es ergänzender Durchführungsmaßnahmen
des Assoziationsrats EWG-Türkei bedarf (stRspr; grundlegend EuGH vom 4.5.1999 - C-262/96 - Sürül, EU:C:1999:228, Slg 1999, I-2685 RdNr 74 = SozR 3-6935 Allg Nr 4 S 45; BSG vom 29.1.2002 - B 10 EG 2/01 R - BSGE 89, 129 = SozR 3-6940 Art 3 Nr 2, juris RdNr 15 ff). Der Kläger fiel nur im Juni 2013, nicht aber im Dezember 2011 unter den persönlichen
Geltungsbereich des ARB Nr 3/80 (hierzu a). Der sachliche Geltungsbereich des ARB Nr 3/80 ist eröffnet, da es sich beim Kinderzuschlag
um eine "Familienleistung" iS des ARB Nr 3/80 handelt (hierzu b). Aufgrund des Gleichbehandlungsgebots ist der Kläger für
Juni 2013 so zu behandeln, als sei er nicht gemäß § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB II von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen (hierzu c).
a) Der Kläger kann sich nur für Juni 2013, nicht aber für Dezember 2011 auf das Gleichbehandlungsgebot nach Art 3 ARB Nr 3/80
berufen. Das Gleichbehandlungsgebot gilt für alle Personen, die im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnen und für die der ARB
Nr 3/80 gilt. Nach Art 2 ARB Nr 3/80 gilt der Beschluss für Arbeitnehmer, für welche die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer
Mitgliedstaaten gelten oder galten und die türkische Staatsangehörige sind, sowie ua für Familienangehörige dieses Arbeitnehmers,
die im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnen. Arbeitnehmer ist, wer auch nur gegen ein einziges Risiko in einem allgemeinen oder
besonderen System der sozialen Sicherheit pflichtversichert oder freiwillig versichert ist (Art 1 Buchst b ARB Nr 3/80), ohne
dass es darauf ankommt, ob er in einem Arbeitsverhältnis steht (EuGH vom 4.5.1999 - C-262/96 - Sürül, EU:C:1999:228, Slg 1999, I-2685 RdNr 86 = SozR 3-6935 Allg Nr 4 S 47). Erfasst sind - anders als im Koordinationsrecht
- auch Arbeitnehmer, die nicht innerhalb der Europäischen Gemeinschaft gewandert sind (BVerwG vom 6.12.2001 - 3 C 25.01 - juris RdNr 24 ff; Hänlein, ZAR 1998, 21, 27).
Der Kläger besitzt nach dem Ergebnis des aufenthaltsrechtlichen Verfahrens die türkische Staatsangehörigkeit. Nach den bindenden
Feststellungen des LSG (§
163 SGG) war der Kläger sowohl im Dezember 2011 als auch im Juni 2013 versicherungspflichtig beschäftigt und es galten für ihn die
sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften der Bundesrepublik Deutschland.
Ein inländischer Wohnort im Sinne des Assoziationsrechts lag nur im Juni 2013 und nicht im Dezember 2011 vor. Der Wohnort
(in Abgrenzung zum bloßen Aufenthaltsort) ist als der Ort des gewöhnlichen Aufenthalts definiert (Art 1 Buchst a ARB Nr 3/80
iVm Art 1 Buchst h VO [EWG] Nr 1408/71). Der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts kann nicht unter Rückgriff auf das nationale
Recht - hier §
30 SGB I - bestimmt werden (BSG vom 5.10.2006 - B 10 EG 6/04 R - BSGE 97, 144 = SozR 4-1300 § 48 Nr 8, RdNr 36 f).
Nach dem Europäisch-türkischen Assoziationsrecht setzt die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts - in Ermangelung genereller
Freizügigkeit für türkische Staatsangehörige (stRspr; vgl nur EuGH vom 11.5.2000 - C-37/98 - Savas, EU:C:2000:224, Slg 2000, I-2927 RdNr 59) - zudem eine entsprechende Aufenthaltsberechtigung voraus (BSG vom 5.10.2006 - B 10 EG 6/04 R - BSGE 97, 144 = SozR 4-1300 § 48 Nr 8, RdNr 41). Dies entspricht der Rechtsprechung des EuGH, wonach das Diskriminierungsverbot gemäß Art
3 ARB Nr 3/80 nur Anwendung findet bei einem rechtmäßigen Aufenthalt, wobei eine von vornherein befristete und an einen bestimmten
Zweck geknüpfte Aufenthaltserlaubnis ausreichend ist (vgl EuGH vom 4.5.1999 - C-262/96 - Sürül, EU:C:1999:228, Slg 1999, I-2685 RdNr 98, 105 = SozR 3-6935 Allg Nr 4 S 50 f; dies aufgreifend Vorschlag der Kommission
COM(2012) 152 final S 14 ff und Beschluss des Rats vom 6.12.2012, ABl EU L 340, 21 f; hierzu EuGH vom 18.12.2014 - C-81/13 - EU:C:2014:2449; vgl zur Rechtmäßigkeit des Aufenthalts als Voraussetzung für die Anwendung des Diskriminierungsverbots
nach Art 4 VO [EG] Nr 883/2004 EuGH vom 11.11.2014 - C-333/13 - Dano, EU:C:2014:2358 = SozR 4-6065 Art 4 Nr 3 RdNr 83; EuGH vom 19.9.2013 - C-140/12 - Brey, EU:C:2013:565 = SozR 4-6065 Art 4 Nr 4 RdNr 44; Otting in Hauck/Noftz, EU-Sozialrecht, Art 4 VO 883/2004 RdNr 10a,
Stand Juni 2021). Anders als der Kläger meint, gilt insoweit kein anderer Maßstab als im Rahmen des Art 6 ARB Nr 1/80 (so bereits BSG vom 5.10.2006 - B 10 EG 6/04 R - BSGE 97, 144 = SozR 4-1300 § 48 Nr 8, RdNr 41 f; zu Art 6 ARB Nr 1/80 oben Ziffer 6. b).
Der Kläger verfügte erst wieder im Juni 2013 nach Erteilung der humanitären Aufenthaltserlaubnis über einen solchen rechtmäßigen
Aufenthalt. Im Dezember 2011 fehlte es hieran. Eine Duldung genügt für die Anwendung des Art 3 ARB Nr 3/80 nicht (FG Bremen
vom 2.6.2010 - 4 K 102/09 (4) - EFG 2010, 1894, juris RdNr 74; aA Terhardt, Diskriminierungsverbote aus dem Assoziationsrecht EU/Türkei, 2014, S 175), weil durch sie kein
rechtmäßiger Aufenthalt begründet, sondern lediglich die Abschiebung zeitweise ausgesetzt wird (vgl nur BVerwG vom 3.6.1997
- 1 C 7.96 - Buchholz 402.240 § 18 AuslG 1990 Nr 1, juris RdNr 27 mwN).
b) Entgegen der Ansicht der Beklagten ist der sachliche Geltungsbereich des ARB Nr 3/80 eröffnet. Beim Kinderzuschlag nach
§ 6a
BKGG handelt es sich um eine "Familienleistung" iS des Art 4 Abs 1 Buchst h ARB Nr 3/80. Der ARB Nr 3/80 ist der VO (EWG) Nr 1408/71 nachgebildet (hierzu, auch zur Vor- und Entstehungsgeschichte
des ARB Nr 3/80, BSG vom 29.1.2002 - B 10 EG 2/01 R - BSGE 89, 129 = SozR 3-6940 Art 3 Nr 2, juris RdNr 16 ff; vgl auch Hänlein, ZAR 1998, 21; Sieveking, ZIAS 2001, 160). Art 1 Buchst a ARB Nr 3/80 bestimmt ausdrücklich, dass der Ausdruck "Familienleistungen" die Bedeutung hat, wie sie in
Art 1 VO (EWG) Nr 1408/71 definiert ist (BSG vom 29.1.2002 - B 10 EG 2/01 R - BSGE 89, 129 = SozR 3-6940 Art 3 Nr 2, juris RdNr 21). Eine Aktualisierung des ARB Nr 3/80 im Hinblick ua auf das Außerkrafttreten der
VO (EWG) Nr 1408/71 ist bislang nicht erfolgt; ein entsprechender Beschluss des Assoziationsrats ist bislang nicht zustande
gekommen (vgl EuGH vom 26.5.2011 - C-485/07 - Akdas, EU:C:2011:346 RdNr 91; zum Verbot der Besserstellung gegenüber Unionsbürgern RdNr 88; vgl auch Otting in Hauck/Noftz,
EU-Sozialrecht, Art 70 VO 883/2004 RdNr 26h, Stand September 2021). Art 1 Buchst u Ziff i VO (EWG) Nr 1408/71 (ebenso jetzt
Art 3 Abs 1 Buchst j VO [EG] Nr 883/2004) definiert Familienleistungen als solche Sach- oder Geldleistungen, die zum Ausgleich
von Familienlasten im Rahmen der in Art 4 Abs 1 Buchst h VO (EWG) Nr 1408/71 genannten Rechtsvorschriften bestimmt sind (mit
Ausnahme besonders aufgeführter Geburtsbeihilfen). Nach Art 4 Abs 1 Buchst h gilt die VO (EWG) Nr 1408/71 für alle Rechtsvorschriften
über Zweige der sozialen Sicherheit, die Familienleistungen betreffen. Unerheblich ist, ob sie auf Beiträgen beruhen oder
beitragsfrei sind (Art 4 Abs 2 VO [EWG] Nr 1408/71). Der Begriff der "Familienleistung" als Bestandteil eines Systems der
sozialen Sicherheit ist danach im vorliegenden Zusammenhang abzugrenzen von Leistungen der Sozialhilfe, die dem sachlichen
Geltungsbereich der VO (EWG) Nr 1408/71 nicht unterfallen (Art 4 Abs 4 VO [EWG] Nr 1408/71).
Soweit Art 1 Buchst u Ziff i VO (EWG) Nr 1408/71 Familienleistungen definiert als Sach- oder Geldleistungen zum Ausgleich
von Familienlasten entspricht es ständiger Rechtsprechung des EuGH, den Ausdruck "Ausgleich von Familienlasten" dahin auszulegen,
dass er ua einen staatlichen Beitrag zum Familienbudget erfasst, der die Kosten für den Unterhalt von Kindern verringern soll
(stRspr; statt aller EuGH vom 15.3.2001 - C-85/99 - Offermanns, EU:C:2001:166, Slg 2001, I-2261 RdNr 41; EuGH vom 2.4.2020 - C-802/18 - EU:C:2020:269 = InfAuslR 2020, 245 RdNr 38; EuGH vom 2.9.2021 - C-350/20, EU:C:2021:659 RdNr 57 mwN). Ob es sich dabei um eine Leistung der sozialen Sicherheit und nicht um eine Sozialhilfeleistung
handelt, richtet sich im Wesentlichen nach den grundlegenden Merkmalen der Leistung, insbesondere ihrem Zweck und den Voraussetzungen
ihrer Gewährung, nicht aber nach ihrer Rechtsnatur nach nationalem Recht (stRspr; EuGH vom 16.7.1992 - C-78/91 - Hughes, EU:C:1992:331, Slg 1992, I-4839 RdNr 14 = SozR 3-6050 Art 4 Nr 5 S 12; EuGH vom 15.3.2001 - C-85/99 - Offermanns, EU:C:2001:166, Slg 2001, I-2261 RdNr 27, 37). Soweit der EuGH daneben, ebenfalls in ständiger Rechtsprechung,
Leistungen zur sozialen Sicherheit in Abgrenzung zu Sozialhilfeleistungen als solche Leistungen definiert, "die unabhängig
von einer im Ermessen liegenden individuellen Prüfung der persönlichen Bedürftigkeit ohne weiteres solchen Familien gewährt
werden, die bestimmte objektive Kriterien insbesondere hinsichtlich ihrer Größe, ihres Einkommens und ihrer Kapitalrücklagen
erfüllen" (vgl nur EuGH vom 2.4.2020 - C-802/18 - EU:C:2020:269 = InfAuslR 2020, 245 RdNr 37 mwN; so zB auch EuGH vom 16.7.1992 - C-78/91 - Hughes, EU:C:1992:331, Slg 1992, I-4839 RdNr 15 = SozR 3-6050 Art 4 Nr 5 S 13; EuGH vom 15.3.2001 - C-85/99 - Offermanns, EU:C:2001:166, Slg 2001, I-2261 RdNr 28), ist "persönliche Bedürftigkeit" nicht im Sinne der deutschen existenzsicherungsrechtlichen
Begrifflichkeit zu verstehen. Nach der Rechtsprechung des EuGH entscheidend ist vielmehr eine Leistungsgewährung ohne (individuelle)
Prüfung der persönlichen Bedürfnisse ("besoins personnels"; "personal needs") oder des "persönlichen Bedarfs" (so zB die Übersetzung
in EuGH vom 18.10.2007 - C-299/05 - EU:C:2007:608, Slg 2007, I-8695 RdNr 56). Sozialhilfeleistungen zeichnen sich danach durch die Abhängigkeit der Leistung
von einer Einzelfallbeurteilung der persönlichen Verhältnisse ab, während die Einkommens- und Vermögensabhängigkeit für die
Einstufung als Leistung der sozialen Sicherheit oder Sozialhilfeleistung unerheblich ist (EuGH vom 16.7.1992 - C-78/91 - Hughes, EU:C:1992:331, Slg 1992, I-4839 RdNr 17 = SozR 3-6050 Art 4 Nr 5 S 13; EuGH vom 21.6.2017 - C-449/16 - Martinez Silva, EU:C:2017:485 RdNr 22).
Ausgehend hiervon ist der Kinderzuschlag nach § 6a
BKGG als "Familienleistung" iS des Art 4 Abs 1 Buchst h ARB Nr 3/80 zu qualifizieren.
In der Vergangenheit hat die Bundesregierung den Kinderzuschlag nach § 6a
BKGG als "Familienleistung" im Sinne des Europäischen Koordinationsrechts eingestuft (vgl BT-Drucks 19/1918 S 3). Dies entspricht
- worauf die Beklagte im Revisionsverfahren hingewiesen hat - auch noch der aktuellen Weisungslage der Familienkasse (Durchführungsanweisung
Kinderzuschlag DA-KiZ S 83, Stand Januar 2020), deren Überprüfung Anlass für die Durchführung des vorliegenden Revisionsverfahrens
ist.
Beim Kinderzuschlag handelt es sich um eine Leistung der sozialen Sicherheit und nicht um eine Sozialhilfeleistung. Die Leistung
dient dem Ausgleich von Familienlasten, indem sie durch einen staatlichen Beitrag den Unterhalt von Kindern verringert. Durch
die Einführung des Kinderzuschlags wollte der Gesetzgeber des 4. Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt verhindern,
dass Familien allein wegen der Unterhaltsbelastung für ihre Kinder auf Alg II angewiesen sind. Zudem wollte er einen Arbeitsanreiz
durch eine gezielte Förderung einkommensschwacher Familien setzen (BT-Drucks 15/1516 S 2, 83). Hierfür schuf er eine dem Alg
II vorgelagerte einkommensabhängige Leistung, die zusammen mit dem Kindergeld und dem auf Kinder entfallenden Wohngeldanteil
den durchschnittlichen Bedarf von Kindern an Alg II bzw Sozialgeld abdeckt (BT-Drucks 15/1516 S 3). Die Höhe des Kinderzuschlags
ist zunächst unabhängig von der individuellen Bedarfssituation gesetzlich einheitlich festgelegt; im Streitzeitraum betrug
er für jedes zu berücksichtigende Kind jeweils bis zu 140 Euro monatlich (§ 6a Abs 2 Satz 1
BKGG idF der Bekanntmachung vom 28.1.2009, BGBl I 142). Dieser Höchstbetrag ist unabhängig vom Alter des Kindes oder dem Vorliegen
individueller Sonder- oder Mehrbedarfe und differenziert auch nicht anhand der sehr unterschiedlichen Wohnkosten im Bundesgebiet.
Vor diesem Hintergrund handelt es sich beim Kinderzuschlag nach der Rechtsprechung des BSG um eine familienpolitische Leistung und gerade keine des SGB II (BSG vom 18.6.2008 - B 14/11b AS 11/07 R - SozR 4-5870 § 6a Nr 1 RdNr 21; BSG vom 14.3.2012 - B 14 KG 1/11 R - SozR 4-5870 § 6a Nr 3 RdNr 23).
Zwar ist der Kinderzuschlag eng mit den existenzsichernden Leistungen nach dem SGB II verknüpft, bei denen es sich nach der derzeitigen koordinationsrechtlichen Systematik um besondere beitragsunabhängige Geldleistungen
(näher BSG vom 12.12.2013 - B 4 AS 9/13 R - ZFSH/SGB 2014, 158, juris RdNr 33) und freizügigkeitsrechtlich um Sozialhilfe handelt (EuGH vom 15.9.2015 - C-67/14 - Alimanovic, EU:C:2015:597, SozR 4-4200 § 7 Nr 49 RdNr 44). Dieses "Aufeinander-bezogen-Sein" der Leistungssysteme führt
dazu, dass sie im Verhältnis vorrangiger Alternativität, nicht der Gleichordnung zueinander stehen (BSG vom 25.10.2017 - B 14 AS 35/16 R - BSGE 124, 243 = SozR 4-4200 § 11 Nr 82, RdNr 25; zuletzt BSG vom 30.10.2019 - B 4 KG 1/19 R - SozR 4-5870 § 6a Nr 8 RdNr 16 mwN). Das Alternativverhältnis zeigt sich insbesondere an der Voraussetzung der Vermeidung
von Hilfebedürftigkeit nach § 9 SGB II (§ 6a Abs 1 Nr 4
BKGG), um die auch vorliegend gestritten wird. Daneben nimmt der Kinderzuschlag insoweit auf das SGB II Bezug, als die - inzwischen abgeschaffte - (individuelle) Höchsteinkommensgrenze nach § 6a Abs 1 Nr 3
BKGG (hier idF des Gesetzes vom 24.3.2011, BGBl I 453) anknüpfte an den SGB II-Bedarf. Darüber hinaus bedienen sich die Regelungen über die Minderung des Kinderzuschlags durch Einkommen und Vermögen des
Kindes der §§ 11 bis 12 SGB II, weichen hiervon allerdings auch ab (§ 6a Abs 3
BKGG idF des Gesetzes vom 24.3.2011, BGBl I 453), und setzt die Minderung des Gesamtkinderzuschlags durch elterliches Einkommen
und Vermögen voraus, dass der weitgehend nach SGB II-Maßstäben errechnete elterliche Bedarf gedeckt ist (§ 6a Abs 4
BKGG idF des Gesetzes vom 24.3.2011, BGBl I 453). Diese Regelungen dienen der Umsetzung der gesetzgeberischen Zielsetzung, einen
Bezug von Alg II allein wegen der Unterhaltsbelastung für die Kinder zu vermeiden und setzen daneben - durch die Anrechnungsprivilegierung
von Erwerbseinkünften (§ 6a Abs 4 Satz 6
BKGG) - einen Anreiz zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit. Diese gesetzliche Ausgestaltung ändert aber nichts daran, dass die Leistung
in erster Linie dem Ausgleich von Familienlasten dient und nicht der Deckung eines individuell ermittelten sozialhilferechtlichen
Mindestbedarfs. Dass einer solchen Leistung im Hinblick auf das Kind zugleich eine existenzsichernde Wirkung zukommt (hierzu
BSG vom 25.10.2017 - B 14 AS 35/16 R - BSGE 124, 243 = SozR 4-4200 § 11 Nr 82, RdNr 25), liegt in der Natur der Sache und gilt auch für einen "staatlichen Beitrag zum Familienbudget"
wie das Kindergeld, bei dem die Einordnung als "Familienleistung" im Sinne des Koordinationsrechts unstreitig ist (vgl nur
EuGH vom 22.10.2015 - C-378/14 - Trapkowski, EU:C:2015:720 NJW 2016, 1147 RdNr 26; vgl auch EuGH vom 22.2.1990 - C-228/88 - Bronzino, EU:C:1990:85, Slg 1990, I-531 RdNr 7).
c) Aus dem Gleichbehandlungsgebot des Art 3 ARB Nr 3/80 folgt vorliegend, dass die Beklagte dem Anspruch des Klägers die ihn
benachteiligende Regelung des § 6a Abs 1 Nr 4
BKGG iVm § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB II nicht entgegenhalten darf. Der mittelbare Ausschluss vom Anspruch auf Kinderzuschlag aufgrund einer Aufenthaltserlaubnis
aus humanitären Gründen ist vorliegend unanwendbar. Im Rahmen des persönlichen und sachlichen Anwendungsbereichs des Art 3
ARB Nr 3/80 ist es einem Mitgliedstaat verboten, den Anspruch eines türkischen Staatsangehörigen von weitergehenden Anforderungen
an seine aufenthaltsrechtliche Stellung abhängig zu machen als sie im Assoziationsrecht selbst angelegt sind (vgl EuGH vom
4.5.1999 - C-262/96 - Sürül, EU:C:1999:228, Slg 1999, I-2685 RdNr 105 = SozR 3-6935 Allg Nr 4 S 50 f).
8. Soweit der Kläger für Dezember 2011 nicht anspruchsberechtigt ist, ergibt sich kein weitergehender Anspruch auf Gleichbehandlung
aus dem sowohl von der Bundesrepublik als auch von der Türkei ratifizierten Vorläufigen Europäischen Abkommen über Soziale
Sicherheit unter Ausschluss der Systeme für den Fall des Alters, der Invalidität und zugunsten der Hinterbliebenen vom 11.12.1953
("VEA", BGBl 1956 II 507).
Dieses Abkommen findet zwar auf "Familienbeihilfen" Anwendung (Art 1 Nr 1 Buchst d) und begründet einen Gleichbehandlungsanspruch,
der ua von einem sechsmonatigen Wohnsitz abhängt (Art 2 Nr 1 Buchst d, Nr 2). Das VEA vermittelt für türkische Staatsangehörige ggf ab einem Aufenthalt im Bundesgebiet von sechs Monaten einen Anspruch auf Kindergeld
unter denselben Voraussetzungen wie für einen deutschen Staatsbürger (BFH vom 17.6.2010 - III R 42/09 - BFHE 230, 337). Der Kinderzuschlag nach § 6a
BKGG ist jedoch vom sachlichen Anwendungsbereich des Abkommens nicht erfasst, weil der Rechtsausdruck der Familienbeihilfen keine
Generalklausel für die Einbeziehung sämtlicher späterer nationaler Sozialleistungen mit Familienbezug zu verstehen ist (ausführlich
BSG vom 23.9.2004 - B 10 EG 3/04 R - BSGE 93, 194 = SozR 4-7833 § 1 Nr 6, juris RdNr 47), es keinen Anhaltspunkt dafür gibt, dass der Kinderzuschlag von dem Abkommen umfasst
sein soll (vgl zur Anwendung auf das Kindergeld Anhang I idF der Bekanntmachung vom 25.1.1985, BGBl II 311) und auch keine
Zweckidentität zwischen Kindergeld und Kinderzuschlag besteht (zu diesem Gesichtspunkt BSG vom 23.9.2004 - B 10 EG 3/04 R - BSGE 93, 194 = SozR 4-7833 § 1 Nr 6, 45, juris RdNr 48).
Die Kostenentscheidung folgt aus §
193 SGG. Da beide Rechtsmittel erfolglos waren, sind Kosten für das Revisionsverfahren nicht zu erstatten.