Anspruch auf Blindengeld für einen Wachkomapatienten
Gründe:
I
Der Rechtsstreit betrifft die Zahlung von Blindengeld für die Zeit vom 1. April 1996 bis 31. März 2001 an die Kläger als Rechtsnachfolger
des verstorbenen Andreas Dick (>A.D.<; Ehemann der Klägerin zu 1, Vater der Kläger zu 2 und 3).
Der 1952 geborene A.D. litt nach einem Herzinfarkt mit Kreislaufstillstand (im Jahre 1993), aus dem ein hypoxischer Hirnschaden
resultierte, an einem apallischen Syndrom (Lähmung aller Gliedmaßen sowie Verlust der Kommunikationsfähigkeit = Wachkoma).
A.D. ist am 23. März 2001 verstorben.
Im April 1996 hatte die Klägerin zu 1 für ihn (als amtlich bestellte Betreuerin) beim Versorgungsamt die Gewährung von Blindengeld
beantragt. Dieses lehnte die Leistung nach der Einholung von Befundberichten und einer versorgungsärztlichen Stellungnahme
ab (Bescheid vom 5. November 1996; Widerspruchsbescheid vom 24. Januar 1997), weil nicht nachgewiesen werden könne, dass ein
die Zahlung von Blindengeld rechtfertigender Defekt des optischen Apparates vorliege.
Die anschließende Klage hatte nach Einholung weiterer Befundberichte und Gutachten sowie der Vorlage versorgungsärztlicher
Stellungnahmen weder erstinstanzlich noch zweitinstanzlich - nach Eintritt der jetzigen Kläger in den Prozess - Erfolg (Urteil
des Sozialgerichts >SG< vom 25. Juni 1999; Urteil des Landessozialgerichts >LSG< vom 28. Oktober 2003). Zur Begründung seiner
Entscheidung hat das LSG ausgeführt, es könne dahingestellt bleiben, ob bei A.D. eine Störung des Sehvermögens von einem solchen
Schweregrad vorgelegen habe, dass sie der Beeinträchtigung der Sehschärfe auf maximal 1/50 gleichzuachten gewesen sei (Art
1 Abs 2 Satz 2 Nr 2 Bayerisches Blindengeldgesetz >BayBlindG<). Denn selbst wenn dies unter Umständen wegen einer Kombination von Schädigungen des Sehorgans (Opticusatrophie)
und das Erkennen-Können betreffender visueller Verarbeitungsstörungen zu bejahen sei, würde ein Leistungsanspruch jedenfalls
daran scheitern, dass bei A.D. ausgleichsfähige blindheitsbedingte Mehraufwendungen auf Grund seines Gesamtzustandes nicht
angefallen seien.
Die Kläger rügen einen Verstoß gegen Art 1 BayBlindG. Die Norm sei revisibel, weil in anderen Bundesländern aus Vereinheitlichungsgründen gleiche Regelungen gälten. Sie sind
der Ansicht, Anspruchsvoraussetzung für die Gewährung von Blindengeld sei nicht, dass blindheitsbedingte Mehraufwendungen
anfielen; vielmehr werde das Pflegegeld pauschal ohne Prüfung des individuellen Bedarfs gezahlt (Drucks des Bayerischen Landtags
13/458). Die Auslegung der Vorschrift durch das LSG sei damit fehlerhaft. In Übereinstimmung mit dem Urteil des Bundessozialgerichts
(BSG) vom 31. Januar 1995 (1 RS 1/93, SozR 3-5920 § 1 Nr 1) sei Blindheit auch dann anzunehmen, wenn cerebrale visuelle Verarbeitungsstörungen vorlägen, die im
Zusammenspiel mit Störungen des Sehvermögens eine ausreichende Wahrnehmungsfähigkeit verhinderten. Es liege dann eine faktische
Blindheit iS des Art 1 Abs 2 Nr 2 BayBlindG vor. Bei dem Verstorbenen sei im Sinne des BSG-Urteils nicht erst der Bereich des "Benennen-Könnens", sondern bereits der
Bereich des "Erkennen-Könnens" betroffen gewesen.
Die Kläger beantragen,
die Urteile des LSG und des SG sowie den Bescheid vom 5. November 1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. Januar 1997 aufzuheben und die
Beklagte zu verurteilen, ihnen Blindengeld für die Zeit vom 1. April 1996 bis 31. März 2001 zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er ist der Ansicht, das LSG habe zu Recht in seiner Entscheidung darauf abgestellt, dass bei dem Verstorbenen keine blindheitsbedingten
Mehraufwendungen angefallen seien. Die Überlegung des LSG rechtfertige sich insbesondere daraus, dass Art 4 BayBlindG eine Anrechnung von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Elftes Buch - Soziale Pflegeversicherung (
SGB XI) bzw sonstiger Leistungen vorsehe. Wenn schon der Bezug von Leistungen für tatsächlich vorhandene blindheitsbedingte Mehraufwendungen
nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers zu einer Kürzung des Blindengeldes wegen geminderter blindheitsbedingter Mehraufwendungen
führe, dann sei es auch gerechtfertigt, den Anspruch auf Blindengeld völlig zu versagen, wenn auf Grund des Gesundheitszustandes
des Betroffenen keine entsprechenden Mehraufwendungen anfielen. Im Übrigen seien die Voraussetzungen für eine Blindheit im
Sinne des BayBlindG ohnedies nicht nachweisbar.
II
Die Revision der Kläger ist im Sinne der Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet (§
170 Abs
2 Satz 2
Sozialgerichtsgesetz >SGG<). Die bisherigen Feststellungen des LSG ermöglichen keine abschließende Beurteilung der Frage, ob den Klägern als Rechtsnachfolger
des A.D. (zur Zulässigkeit des Beteiligtenwechsels im Verfahren BSGE 8, 113, 114 f) Blindheitshilfe nach Art 1 BayBlindG vom 7. April 1995 (GVBl 150) zusteht.
Der Senat ist nicht wegen Irrevisibilität dieser Regelung an der Prüfung gehindert, ob sie vom LSG richtig angewendet worden
ist (§
162 SGG). Denn revisibel sind landesrechtliche Vorschriften auch dann, wenn - wie hier - inhaltlich gleiche Vorschriften in Bezirken
verschiedener Landessozialgerichte gelten und diese Übereinstimmung nicht zufällig, sondern bewusst und gewollt ist (vgl BSG
SozR 3-5920 § 1 Nr 1). Vorliegend geht es um die Auslegung des Begriffes der Blindheit in Art 1 Abs 2 BayBlindG als Anspruchsvoraussetzung für die Gewährung von Blindengeld und des Art 1 Abs 1 BayBlindG. Diese Vorschriften entsprechen wortgleich Regelungen anderer Bundesländer (vgl BSG SozR 3-5920 § 1 Nr 1 und SozR 3-5922 § 1 Nr 1 ); das BayBlindG ist zudem wie auch die Regelungen anderer Länder (vgl nur für das Saarland und Niedersachsen BSG aaO) ausdrücklich nach seinen
Anspruchsvoraussetzungen der Blindheitshilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz (>BSHG< vgl §§ 67 Abs 1, 76 Abs 2a) angepasst (Drucks 13/458 des Bayerischen Landtags vom 16. Februar 1995), wie die Kläger zu Recht vortragen (siehe zur Rügepflicht
nach §
164 SGG: BSGE 56, 45, 50 f = SozR 2100 §
70 Nr 1; BSG, Urteil vom 25. Juli 1985 - 7 RAr 108/83).
Nach Art 1 Abs 1 BayBlindG erhalten Blinde auf Antrag, soweit sie ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Bayern haben, zum Ausgleich der blindheitsbedingten
Mehraufwendungen ein monatliches Blindengeld. Blind ist nach Abs 2, wem das Augenlicht vollständig fehlt. Als blind gelten
allerdings auch Personen,
1. deren Sehschärfe auf dem besseren Auge nicht mehr als 1/50 beträgt,
2. bei denen durch Nr 1 nicht erfasste Störungen des Sehvermögens von einem solchen Schweregrad bestehen, dass sie der Beeinträchtigung
der Sehschärfe nach Nr 1 gleichzuachten sind.
Die Höhe der Leistung bestimmt sich gemäß Art 2 nach einem Pauschsatz - ggf nur in Höhe von 50 % bei Aufenthalt in einem Heim
oder einer gleichartigen Einrichtung. Gemäß Art 4 werden Leistungen nach dem
SGB XI bzw sonstige Leistungen, die Berechtigten zum Ausgleich blindheitsbedingter Mehraufwendungen nach anderen Rechtsvorschriften
zustehen, mit einem pauschalierten Vomhundertsatz angerechnet, wenn ein Anspruch nicht bereits nach Art 3 ausgeschlossen ist (entsprechende Leistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz, aus der gesetzlichen Unfallversicherung oder aus öffentlichen Kassen auf Grund gesetzlich geregelter Unfallversorgung oder
Unfallfürsorge).
Soweit das LSG die Voraussetzungen für die Gewährung von Blindengeld mit Rücksicht darauf abgelehnt hat, dass bei dem Verstorbenen
keine blindheitsbedingten Mehraufwendungen angefallen seien, widerspricht diese Auslegung der vom Gesetzgeber vorgegebenen
und vom Senat nicht auf ihre sozialpolitische Sinnhaftigkeit zu untersuchenden Gesetzeslage. Das streitige Blindengeld - wie
auch das nach dem BSHG und auch das anderer Bundesländer - wird entgegen der Ansicht des LSG und der Beklagten ohne Rücksicht auf einen im Einzelfall
nachzuweisenden oder nachweisbaren Bedarf pauschal gezahlt (BSG SozR 3-5922 § 1 Nr 1 S 6; BVerwGE 51, 281, 287; Drucks des Bayerischen Landtags 13/458). Die in Art 1 Abs 1 BayBlindG enthaltene Formulierung "zum Ausgleich der blindheitsbedingten Mehraufwendungen" beinhaltet mithin keine eigenständige Anspruchsvoraussetzung,
sondern umschreibt lediglich die allgemeine Zielsetzung der gesetzlichen Regelungen (Drucks des Bayerischen Landtags 13/458
S 5 zu Art 1 Abs 1).
Dem widerspricht nicht Art 4 BayBlindG. Im Gegenteil: Auch dort wird nicht darauf abgestellt, in welcher Höhe insgesamt blindheitsbedingte Mehraufwendungen anfallen,
sondern es wird lediglich eine pauschalierende, generalisierende Anrechnung in Höhe bestimmter Prozentsätze vorgenommen. In
der Gesetzesbegründung wird sogar ausdrücklich darauf hingewiesen, die Anrechnung dürfe (gerade) nicht dazu führen, dass dem
Antragsteller (überhaupt) kein Blindengeld mehr zustehe (Drucks des Bayerischen Landtags 13/458 S 5 zu Art 1 Abs 1). Typisierend
ist also der Gesetzgeber davon ausgegangen, dass aus einem bestimmten Grad der Sehbeeinträchtigung ausgleichsfähige Aufwendungen
mindestens in Höhe des Blindengeldes entstehen. Die aus dieser - auf Praktikabilitätserwägungen beruhenden (vgl insoweit allgemein
zur Typisierung BSG, Urteil vom 9. Dezember 1982 - 7 RAr 120/81 -, AuB 1983, 155 f) - Typisierung heraus geschaffenen Pauschalen können nicht mit der Argumentation in Frage gestellt werden,
die Aufwendungen fielen überhaupt nicht an. Dasselbe gilt für den Einwand, auf Grund der (umfassenden) Behinderung fielen
sie ohnedies an. Sinn der gesetzlichen Pauschale ist es vielmehr, hierüber gerade keinen Streit entstehen zu lassen (BSG aaO).
Das Gesetz lässt nicht erkennen, dass die Gewährung von Blindengeld ausgeschlossen sein soll, wenn die Hilflosigkeit des Betroffenen
bereits ohne Berücksichtigung der Störung des Sehvermögens ein nicht mehr steigerungsfähiges Höchstmaß erreicht hat.
Hat mithin das LSG zu Unrecht einen Leistungsanspruch der Kläger gestützt darauf verneint, dass bei dem Verstorbenen keine
blindheitsbedingten Mehraufwendungen angefallen seien, so ist die Entscheidung darüber, ob den Klägern als Rechtsnachfolgern
des Verstorbenen Blindengeld für den streitigen Zeitraum (vgl Art 5 BayBlindG) zusteht, abhängig davon, ob die Voraussetzungen des Art 1 Abs 2 BayBlindG vorliegen, ob der Verstorbene also blind im Sinne des Gesetzes war. Alle sonstigen Voraussetzungen des BayBlindG sind erfüllt.
Zur Frage der Blindheit hat bereits der 1. Senat des BSG in seiner Entscheidung vom 31. Januar 1995 (SozR 3-5920 § 1 Nr 1),
der sich der erkennende Senat anschließt, ausgeführt, maßgebend für den Begriff der faktischen Blindheit (Nr 2) seien nicht
nur die Beeinträchtigung der Sehschärfe und die Einschränkung des Gesichtsfeldes. Zu berücksichtigen seien vielmehr alle Störungen
des Sehvermögens, soweit sie in ihrem Schweregrad einer Beeinträchtigung der Sehschärfe auf 1/50 oder weniger gleichzuachten
seien. Schon nach dem Wortlaut der Bestimmung sei es nicht maßgeblich, auf welchen Ursachen die Störung des Sehvermögens beruhe
und ob das Sehorgan (Auge, Sehbahn) selbst geschädigt sei. Auch cerebrale Schäden, die zu einer Beeinträchtigung des Sehvermögens
führten, seien zu berücksichtigen, und zwar alleine oder im Zusammenwirken mit Beeinträchtigungen des Sehorgans. Allerdings
sei in Abgrenzung vor allem zu Störungen, die dem Bereich der seelisch-geistigen Behinderung zuzuordnen seien, zu differenzieren,
ob das Sehvermögen, dh das Sehen- bzw Erkennen-Können beeinträchtigt sei oder ob - bei vorhandener Sehfunktion - (nur) eine
zentrale Verarbeitungsstörung vorliege, bei der das Gesehene nicht richtig identifiziert bzw mit früheren visuellen Erinnerungen
verglichen werden könne, in der also die Störung nicht (schon) das Erkennen, sondern (erst) das Benennen betreffe. Ausfälle
alleine des Benennen-Könnens erfüllten somit nicht die Voraussetzungen der faktischen Blindheit.
Unter Berücksichtigung dieser Rechtsprechung wird das LSG die vorliegenden medizinischen Befunde bzw Gutachten zu bewerten
und ggf eine Beweislastentscheidung zu treffen haben. Das LSG wird jedoch auch zu prüfen haben, ob die Kläger Rechtsnachfolger
des Verstorbenen sind und ob ein Anspruch der Kläger zu 2 und 3 nicht an § 56 Sozialgesetzbuch Erstes Buch - Allgemeiner Teil - scheitert, der über Art 7 Abs 1 BayBlindG entsprechend anwendbar ist. Für eine Entscheidung des erkennenden Senats hierüber fehlen jedenfalls die erforderlichen tatsächlichen
Feststellungen (§
163 SGG). Das LSG wird außerdem über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.