Leistungen der Sozialhilfe für Deutsche im Ausland
Verfahrensrüge im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren
Verletzung des rechtlichen Gehörs
Gründe
I
Im Streit stehen Leistungen der Sozialhilfe für Deutsche im Ausland.
Der Kläger ist deutscher Staatsangehöriger und lebt seit Juni 2015 in Straßburg/Frankreich. Seinen Antrag auf Gewährung von
Sozialhilfe für Deutsche im Ausland lehnte der Beklagte ab (Bescheid vom 20.10.2015; Widerspruchsbescheid vom 4.2.2016), weil weder eine außergewöhnliche Notlage vorliege noch ein Rückkehrhindernis bestehe. Nach erfolglosem Klageverfahren (Gerichtsbescheid des Sozialgerichts <SG> Landshut vom 25.7.2016) und Zurückweisung der Berufung hat der erkennende Senat den Rechtsstreit an das Landessozialgericht (LSG) zur erneuten Verhandlung
und Entscheidung zurückverwiesen (Beschluss vom 3.7.2020 - B 8 SO 72/19 B). Das LSG habe gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör verstoßen, als es durch Urteil aufgrund mündlicher Verhandlung entschieden
hat, obwohl der Kläger gehindert war, an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen.
Nach der Zurückverweisung hat das LSG Termin zur mündlichen Verhandlung auf Donnerstag, den 12.11.2020 bestimmt und die Terminmitteilung
an den Kläger mittels Einschreiben mit Rückschein zweimal versandt. Beide Male ist der Rückschein im Anschluss beim LSG nicht
eingegangen. Der Kläger ist zur mündlichen Verhandlung am 12.11.2020 nicht erschienen. Das LSG hat durch Urteil die Berufung
zurückgewiesen (Urteil vom 12.11.2020). Der Zugang des Rückscheins beim Absender sei für die Zustellung nicht erforderlich, sondern diene nur zu Beweiszwecken.
Der Senat sehe vorliegend aufgrund der Ergebnisse der Sendungsverfolgung den Nachweis als erbracht, dass der Kläger die Mitteilung
vom Termin zur mündlichen Verhandlung am 12.11.2020 bereits am 14.9.2020 und damit fristgerecht erhalten habe. Der Kläger
sei auf die Möglichkeit der Entscheidung auch im Falle seines Ausbleibens nach Lage der Akten hingewiesen worden. Ein Anspruch
auf Sozialhilfe für Deutsche im Ausland bestehe für den Kläger nicht, da weder eine außergewöhnliche Notlage noch ein Rückkehrhindernis
gegeben sei.
Das Urteil hat das LSG ebenfalls mit Einschreiben gegen Rückschein an den Kläger gesandt. Mit seiner Beschwerde gegen die
Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des LSG macht der Kläger geltend, er habe die Ladung zum Termin nicht erhalten.
Durch die bloße Sendungsverfolgung seitens des LSG sei kein hinreichender Nachweis eines Zugangs bei ihm geführt worden. Das
LSG könne einen Rückschein nicht vorweisen, da es keinen Rücklauf erhalten habe. Die Sendungsverfolgung hingegen laufe automatisiert
ab und setze keine explizite Bestätigung eines Zustellers voraus. Das Urteil könne auf der Verletzung des rechtlichen Gehörs
beruhen.
II
Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist zulässig. Die Beschwerde genügt hinsichtlich der geltend gemachten Verletzung
des rechtlichen Gehörs den Darlegungserfordernissen des §
160a Abs
2 Satz 3 iVm §
160 Abs
2 Nr
3 Sozialgerichtsgesetz (
SGG).
Die Beschwerde ist auch begründet. Der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art
103 Abs
1 Grundgesetz <GG>, §
62 SGG) gewährleistet, dass die Beteiligten zum gerichtlichen Verfahren herangezogen werden und Gelegenheit erhalten, sich vor Erlass
der Entscheidung zum Prozessstoff zu äußern. Wird aufgrund mündlicher Verhandlung entschieden, muss den Beteiligten unabhängig
davon, ob sie die Möglichkeit zur schriftlichen Vorbereitung des Verfahrens genutzt haben, Gelegenheit gegeben werden, ihren
Standpunkt in der Verhandlung darzulegen (Bundessozialgericht <BSG> vom 28.8.1991 - 7 BAr 50/91 - SozR 3-1500 § 160a Nr 4 S 5). Zu diesem Zweck bestimmt der Vorsitzende Zeit und Ort der mündlichen Verhandlung und teilt sie den Beteiligten (in der Regel
zwei Wochen vorher) mit (§
110 Abs
1 Satz 1
SGG). Auf diese Weise soll sichergestellt werden, dass das Urteil nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt wird, zu denen
sich die Beteiligten äußern konnten (§
128 Abs
2 SGG), also dem Anspruch auf rechtliches Gehör genügt wird (BSG vom 16.11.2000 - B 4 RA 122/99 B - SozR 3-1500 § 160 Nr 33 S 57).
Gegen diese Grundsätze hat das LSG verstoßen, als es am 12.11.2020 durch Urteil aufgrund mündlicher Verhandlung in Abwesenheit
des Klägers entschieden hat. Nach dessen Angaben im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren hat er die Mitteilung des Termins zur
mündlichen Verhandlung nicht erhalten. Dadurch ist der Anspruch des Klägers, vor Erlass der Entscheidung gehört zu werden,
verletzt worden. Ein Nachweis, dass der Kläger die Mitteilung erhalten hat, liegt nicht vor.
Für die Form der Ladung findet §
63 Abs
1 Satz 2
SGG Anwendung, wonach Terminbestimmungen und Ladungen nur noch formlos bekannt zu geben sind. Auch das gewählte Zustellungsverfahren
per Einschreiben mit Rückschein ist zulässig gewesen. Eine Auslandszustellung richtet sich gemäß §
63 Abs
2 SGG iVm §
183 Abs
1 Satz 1
Zivilprozessordnung (
ZPO) nach den bestehenden völkerrechtlichen Vereinbarungen. Maßgeblich ist das Europäische Übereinkommen über die Zustellung
von Schriftstücken in Verwaltungssachen im Ausland vom 24.11.1977 (idF der Bekanntmachung vom 6.12.1982, BGBl II 1057), das auch für gerichtliche Verfahren gilt (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt,
SGG, 13. Aufl 2020, §
63 RdNr 16) und dem Frankreich und die Bundesrepublik Deutschland beigetreten sind. Keine Anwendung findet hingegen die in §
183 Abs
1 Satz 1 Nr
1 ZPO in Bezug genommene Verordnung (EG) Nr 1393/2007, die nur die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke
in Zivil- oder Handelssachen in Mitgliedstaaten betrifft und daher im öffentlich-rechtlichen Verfahren regelmäßig keine Anwendung
findet (Jung in Roos/Wahrendorf/Müller,
SGG, 2. Aufl 2021, §
63 RdNr 59).
Gemäß §
183 Abs
2 Satz 2
ZPO erfolgt die Übersendung von Schriftstücken aufgrund völkerrechtlicher Vereinbarungen unmittelbar durch die Post bzw die Behörden
des fremden Staates, wobei in ersterem Fall durch Einschreiben mit Rückschein zugestellt werden soll. Diese nach Art 11 Abs
1 des Europäischen Übereinkommens über die Zustellung von Schriftstücken in Verwaltungssachen im Ausland vorgesehene unmittelbare
postalische Zustellung gilt auch im Verhältnis zu Frankreich, welches hiergegen keinen Vorbehalt nach Art 11 Abs 2 des Abkommens
erklärt hat. Zwar ist der Rückschein - wie das LSG zutreffend ausführt - nicht notwendige Voraussetzung für die wirksame Zustellung
an den Adressaten oder seinen Bevollmächtigten, dieser erfolgt vielmehr mit der Übergabe des Einschreibebriefs an diesen.
Allein der Rückschein erbringt indes den Nachweis der Zustellung gemäß seiner Beweisfunktion nach §
416 ZPO (Keller aaO RdNr 9; BSG vom 7.10.2004 - B 3 KR 14/04 R - SozR 4-1750 § 175 Nr 1).
Auch im vorliegenden Fall kann dahinstehen, ob mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 19.6.2013
(2 BvR 1960/12 - RdNr 9), derzufolge der Bürger weder das Risiko des Verlustes im Übermittlungsweg noch eine irgendwie geartete Beweislast für den
Nichtzugang trägt, die Rechtsprechung des 3. Senats des BSG überholt ist, nach der das Gericht auch im Rechtsmittelverfahren nicht an die allgemeinen Vorschriften oder das Beweisverfahren
bei der Prüfung, ob die Ladung zugegangen ist, gebunden ist, sondern im Wege des sog Freibeweises entscheidet (BSG vom 1.10.2009 - B 3 P 13/09 B - SozR 4-1500 § 62 Nr 12). Der erkennende Senat geht nach wie vor davon aus, dass gerade bei einer Bekanntgabe im Ausland die vorgenommene Wertung,
es sei höchst unwahrscheinlich, dass mit einfacher Post bzw mit Einschreiben versandte Schreiben den Empfänger nicht oder
verspätet erreichen, nicht gilt. Dies gilt selbst für den Umstand, dass das LSG eine Retoure nicht hat feststellen können,
da in anderen Vorgängen dieses Verfahrens solche Retouren erfolgten.
Auch die durchgeführte Sendungsnachverfolgung vermag zumindest bei einmaligem Zustellversuch per Einschreiben mit Rückschein
den erforderlichen Nachweis für den Erhalt der Ladung nicht zu erbringen. Hierbei handelt es sich lediglich um eine Kontrollnachverfolgung
zwischen dem die Zustellung bewirkenden Gericht und dem von ihm beauftragten Postunternehmen sowie dessen Vertragspartner
im Ausland. Die aktenkundigen Ablichtungen der Sendungsverfolgung bei der Deutschen Post bzw der französischen "La Poste"
enthalten keinen verbindlichen Beleg dafür, dass die Terminmitteilung den Kläger rechtzeitig vor dem Termin erreicht hat.
Insoweit ist bedeutsam, dass es sich vorliegend nicht um ein - bei Auslandssendungen ohnehin nicht mögliches - Einwurf-Einschreiben
handelte, bei dem die Ablieferung durch Einwurf der Sendung in den Briefkasten des Empfängers bewirkt wird und anstelle des
den Erhalt dokumentierenden Empfängers ein Vermerk des Postmitarbeiters darüber tritt, er habe die Sendung in den Briefkasten
oder ins Postfach des Adressaten eingeworfen. Bei dem hier verwendeten Übergabe-Einschreiben erhält der Empfänger oder ein
sonstiger Empfangsberechtigter die Sendung nur gegen Unterschrift auf dem Rückschein ausgehändigt, was durch die Rücksendung
des letzteren bestätigt wird. Hier besteht zum einen stets das Risiko, dass der Zugang nicht bewirkt werden kann (vgl BGH vom 8.1.2014 - IV ZR 206/13 - NJW 2014, 1010 RdNr 8; BGH vom 27.9.2016 - II ZR 299/15 - BGHZ 212, 104 RdNr 29).
Der Empfang der Mitteilung lässt sich ohne Rücklauf des unterschriebenen Rückscheins nicht mit der erforderlichen Sicherheit
durch die im Rahmen der Sendungsverfolgung getätigten Angabe der französischen Post für den 23.10.2020 "Votre courier a été
distribué à son destinataire contre sa signature" nachweisen. Diese lässt weder den Postzusteller erkennen, noch zeigt sie
die angeblich bei Aushändigung geleistete Unterschrift des Klägers oder erklärt, warum kein Rücklauf des Rückscheins erfolgte.
Eine andere Sichtweise würde dazu führen, dass dem Kläger die Beweislast dafür auferlegt wird, eine unbelegte Behauptung des
Postzustellbetriebes zu widerlegen, der für das Gericht tätig wird. Wenn sichergestellt werden soll, dass eine Ladung tatsächlich
zugeht und die Befürchtung besteht, dass der Empfänger den Empfang vereitelt oder der Rückschein nicht zurückgesandt wird,
besteht stets die Möglichkeit, die Zustellung durch die zuständige Vertretung des Bundes oder die sonstige zuständige Behörde
zu bewirken (§
63 Abs
2 SGG iVm §
183 Abs
3 ZPO; s auch BT-Drucks 16/8839 S 20 Begründung zum Gesetzentwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der grenzüberschreitenden Forderungsdurchsetzung
und Zustellung).
Obwohl die Verletzung des anspruchsrechtlichen Gehörs im sozialgerichtlichen Verfahren nicht als absoluter Revisionsgrund
ausgestaltet ist (vgl §
202 Satz 1
SGG iVm §
547 ZPO), ist wegen der besonderen Bedeutung der mündlichen Verhandlung für das Gerichtsverfahren im allgemeinen davon auszugehen,
dass eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör dadurch, dass ein Verfahrensbeteiligter an deren Teilnahme gehindert
worden ist, die daraufhin ergangene Gerichtsentscheidung insgesamt beeinflusst hat (stRspr; vgl etwa BSG vom 6.10.2010 - B 12 KR 58/09 B - RdNr 10 mwN; BSG vom 26.6.2007 - B 2 U 55/07 B - SozR 4-1750 § 227 Nr 1 RdNr 7; BSG vom 16.11.2000 - B 4 RA 122/99 B - SozR 3-1500 § 160 Nr 33 S 62). Einer Angabe, welches Vorbringen durch das beanstandete Verfahren verhindert worden ist, bedarf es deshalb nicht.
Nach §
160a Abs
5 SGG kann das erkennende Gericht den Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache
zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen, wenn - wie hier - die Voraussetzungen des §
160 Abs
2 Nr
3 SGG vorliegen. Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch.
Das LSG wird auch über die Kosten zu entscheiden haben.