Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente.
Der Kläger ist 1966 geboren und war zuletzt als Gipser versicherungspflichtig beschäftigt. Er erlitt am 08.11.2019 eine ventrikuläre
Tachykardie (Herzrasen) ohne Puls und musste reanimiert werden. Seither ist der Kläger arbeitsunfähig. Er bezog zunächst Krankengeld
und dann Arbeitslosengeld ab dem 07.05.2021.
Das Landratsamt K stellte mit Bescheid vom 15.10.2020 einen Grad der Behinderung von 50 seit dem 09.06.2020 aufgrund der Funktionseinschränkungen
koronare Herzerkrankung, abgelaufener Herzinfarkt, Herzrhythmusstörungen, Kardioverter-Defibrillator, Herzinsuffizienz und
Bluthochdruck fest.
Der Kläger befand sich vom 08.01.2021 bis 29.01.2021 in einer Maßnahme zur stationären Rehabilitation in der Rehaklinik H.
Der Entlassbericht vom 29.01.2021 diagnostizierte:
1. eine Funktionsbeeinträchtigung bei Impingement-Syndrom der rechten Schulter,
2. eine Omalgie links bei AC-Gelenksarthrose links,
3. eine Funktionsbeeinträchtigung durch LWS-Syndrom bei degenerativen Veränderungen,
4. einen Zustand nach (Z.n.) Reanimation am 08.11.2019 bei pulsloser ventrikulärer Tachykardie,
5. eine interkritische Gicht,
6. eine arteriosklerotische Herzkrankheit ohne hämodynamisch wirksame Stenosen, bei Z.n. nach ICD Implantation, eine bekannte
arterielle Hypertonie, eine bekannte Hyperlipidämie sowie eine Adipositas Grad I.
Die erlernte Tätigkeit als Gipser sei nicht mehr leidensgerecht. Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt bestehe ein vollschichtiges
Leistungsvermögen für körperlich leichte Tätigkeiten in Früh- und Spätschicht, in überwiegend sitzender, stehender und gehender
Arbeitsposition sowie ohne regelmäßige Wirbelsäulenzwangshaltungen. Auszuschließen seien Überkopfarbeiten sowie kardiopulmonal
belastende Tätigkeiten. Der Kläger werde für seine zuletzt ausgeübte Tätigkeit arbeitsunfähig entlassen.
Die Beklagte gewährte dem Kläger mit Bescheid vom 05.03.2021 eine Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben. Für den Kläger komme
eine innerbetriebliche Umsetzung in Betracht.
Die Prozessbevollmächtigte des Klägers erhob mit Schreiben vom 22.03.2022 Widerspruch und führte mit Schreiben vom 15.04.2021,
eingegangen bei der Beklagten am 19.04.2021 an, dass eine innerbetriebliche Umsetzung nicht möglich sei und der Kläger aufgrund
des Verlustes des Kurzzeitgedächtnisses auch nicht mehr in der Lage sei, eine Bürotätigkeit zu verrichten. Es werde daher
die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung beantragt.
Der Kläger reichte am 12.07.2021 die förmlichen Antragsunterlagen zum formlosen Antrag vom 19.04.2021 nach.
Die Beklagte zog ärztliche Unterlagen sowie den Reha-Entlassbericht vom 19.01.2021 bei und holte einen Befundbericht vom Hausarzt
ein.
S kam in einer sozialmedizinischen Stellungnahme vom 30.08.2021 zum Ergebnis, dass noch ein Leistungsvermögen von 6 Stunden
in einer dem Leistungsbild entsprechenden Tätigkeit bestehe. Der Rehaentlassungsbericht sei bezüglich des Leistungsvermögens
schlüssig. Der Hausarzt habe in seiner Auskunft vom 22.08.2021 eine Besserung beschrieben.
Die Beklagte lehnte den Antrag auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung mit Bescheid vom 07.09.2021 ab. Der Kläger
könne auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch mindestens 6 Stunden arbeiten.
Die Prozessbevollmächtigte legte mit Schreiben vom 20.09.2021 Widerspruch ein und führte mit Schreiben vom 08.12.2021 zur
Begründung an, dass der Kläger nach seiner Reanimation eine Woche im Koma gelegen habe. Hierdurch sei sein Kurzzeitgedächtnis
so gut wie nicht mehr vorhanden. Daneben kämen noch deutliche und mit Schmerzen verbundene Bewegungseinschränkungen hinzu.
Er könne die linke Schulter aufgrund einer aktivierten AC-Gelenksarthrose kaum noch bewegen. Auch die HWS und die LWS seien
in der Beweglichkeit nicht unerheblich eingeschränkt.
Die Beklagte holte eine weitere sozialmedizinische Stellungnahme bei S ein. Dieser führte am 13.12.2021 aus, dass eine überdauernde
"hypoxische Hirnschädigung" relevanten Ausmaßes weder im Reha-Entlassbericht des Jahres 2021 noch sonst nachgewiesen sei.
Während des Aufenthalts in der Rehaklinik habe es hierfür keinerlei Hinweise gegeben. Die Gicht könne als zusätzliche Diagnose
aufgeführt werden, ändere aber am Leistungsvermögen bei guter therapeutischer Kompensationsmöglichkeit nichts. Im Übrigen
bestünden aus anderen Gründen die gleichen qualitativen Einschränkungen. Die kardiale Situation habe sich ausweislich der
kardiologischen Berichte wieder deutlich verbessert, es bestehe längst keine relevante Herzinsuffizienz mehr.
Die Beklagte wies den Widerspruch gestützt auf die Ausführung von S mit Widerspruchsbescheid vom 28.01.2022 zurück. Der Kläger
sei nicht erwerbsgemindert, weil er mit qualitativen Einschränkungen noch 6 Stunden und mehr am Tag arbeiten könne.
Die Prozessbevollmächtigte hat am 28.02.2022 Klage beim SG Karlsruhe (SG) erhoben.
Am 03.03.2022 hat die Prozessbevollmächtigte die Erklärung über die Entbindung der behandelnden Ärzte von der Schweigepflicht
eingereicht und darin angegeben, dass der Kläger zuletzt am 02.09.2021 beim Kardiologen, am 04.03.2022 beim Hausarzt infolge
des hohen Blutdrucks sowie am 08.02.2022 in der Abteilung für Nephrologie im Klinikum B wegen einer leichten Nierenschwäche,
Bluthochdruck und Wassereinlagerungen sowie am 16.02.2022 beim Augenarzt in Behandlung gewesen sei.
Mit Schreiben vom 06.04.2022 hat die Prozessbevollmächtigte zur Klagebegründung ergänzend zu den Ausführungen im Widerspruchsverfahren
vorgetragen, dass der Kläger in Folge der Reanimation sein Kurzzeitgedächtnis nahezu vollständig verloren habe, seine Konzentrationsfähigkeit
stark beeinträchtigt sei und ihm fast völlig die Umstellungsfähigkeit fehle. Er leide auch an Kopfschmerzen und starken Schwindelgefühlen
und Schwindelanfällen. Die Kopfschmerzen seien nahezu ständig vorhanden. Der Kläger könne nur schlecht ein- und durchschlafen,
sodass seine Leistungsfähigkeit auch tagsüber beeinträchtigt sei. Er leide an Konzentrationsproblemen und an einer Reduzierung
seiner kognitiven Leistungsfähigkeit. In Folge der psychischen Beeinträchtigungen halte er größere Menschenmengen gerade auch
mit großer Lautstärke nicht mehr aus. Rückzugstendenzen, insbesondere im sozialen Bereich, hätten sich bereits manifestiert.
Zudem würden Koordinationsprobleme bzw. Gang- und Gleichgewichtsprobleme auftreten. Es werde beantragt, ergänzende Unterlagen
und Stellungnahmen der behandelnden Ärzte sowie ein medizinisches Sachverständigengutachten nach §
106 SGG einzuholen. Die Beantragung eines Gutachtens nach §
109 SGG behalte sich der Kläger vor.
Das SG hat mit Schreiben vom 13.04.2022 mitgeteilt, dass es die aktenkundigen ärztlichen Unterlagen ausgewertet habe. Das quantitative
Leistungsvermögen sei nach dem Reha-Entlassungsbericht vom 29.01.2021 nachvollziehbar nicht auf unter 6 Stunden herabgesunken.
Hierauf weise S schlüssig hin. Weitere ärztliche Ermittlungen seien nicht beabsichtigt. Das SG habe die Absicht, nach §
105 Abs.
1 Satz 1
SGG ohne mündliche Verhandlung und ohne die Mitwirkung ehrenamtlicher Richter durch Gerichtsbescheid zu entscheiden. Den Beteiligten
werde Gelegenheit zur Stellungnahme bis zum 02.05.2022 gegeben. Die Beklagte wurde zudem aufgefordert, zeitnah einen Antrag
zu stellen.
Die Beklagte hat mit Schreiben vom 14.04.2022 mitgeteilt, dass sich aus der Klagebegründung keine Änderung ihres bisherigen
Rechtsstandpunktes ergebe, und hat die Klageabweisung beantragt.
Die Prozessbevollmächtigte hat mit Schreiben vom 02.05.2022 mitgeteilt, dass gegen die beabsichtigte Verfahrensweise keine
Bedenken bestünden.
Das SG hat mit Gerichtsbescheid vom 05.05.2022 die Klage abgewiesen. Dem Kläger sei es weiterhin zumutbar, einer leidensgerechten
Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt für 6 Stunden und mehr arbeitstäglich nachzukommen. Diese Überzeugung stütze das
SG im Wesentlichen auf den Reha-Entlassbericht vom 29.01.2021, welcher im Wege des Urkundenbeweises verwertet werden könne,
nachdem der Hausarzt im Befundbericht vom 22.08.2021 eine Besserung des Gesundheitszustands seit dem 29.01.2021 (Tag der Entlassung
aus der Rehabilitation) beschrieben habe. Eine Verschlechterung danach habe der anwaltlich vertretene Kläger nicht behauptet.
Gemäß dem Befund im Entlassbericht vom 29.01.2021 seien den dortigen Ärzten keine kognitiven Defizite aufgefallen. Der Bericht
der C Kliniken vom 17.01.2020 benenne als Ziel zwar eine Besserung der subjektiv als beeinträchtigt empfundenen Kognition.
In der Epikrise werde eine Verbesserung der Belastbarkeit, Ausdauer und Mobilisierung beschrieben, relevante kognitive Defizite
würden hier abermals nicht erwähnt. Insoweit ließen sich leistungsrelevante kognitive Einschränkungen ausschließen, zumal
der Kläger in seiner Entbindungserklärung weder einen Facharzt für Neurologie, noch einen Facharzt für Psychiatrie angegeben
habe, welche über das Vorliegen kognitiver Einschränkungen fachkundig berichten könnten. Ein qualitativer Ausschluss psychisch
belastender Tätigkeiten mit erhöhten Anforderungen an die Kognition erscheine damit ausreichend.
Eine kardiologische Beeinträchtigung relevanten Ausmaßes sei ebenfalls widerlegt. Im Bericht der C Klinik vom 17.01.2020 werde
eine Ruhedyspnoe verneint, auch pectanginöse Beschwerden hätten nicht bestanden. Eine Beschränkung auf leichte Arbeiten trage
der Beeinträchtigung ausreichend Rechnung. Die orthopädischen Leiden, die überwiegend die rechte Schulter und die Lendenwirbelsäule
beträfen, könnten durch den Ausschluss mittelschwerer und schwerer Arbeit bei gleichzeitigem Ausschluss von Zwangshaltungen
von Rumpf- und Armen (insbes. Überkopfarbeiten) kompensiert werden, wenn zugleich der freie Wechsel zwischen Sitzen, Gehen
und Stehen ermöglicht werde. Es lägen nämlich keine höhergradigen Bewegungseinschränkungen und auch keine neurologischen Defizite
wie Paresen vor, welche eine zeitliche Einschränkung plausibel machen würden. Durch die vorgenannten qualitativen Einschränkungen
sei auch die Gicht kompensiert, worauf S schlüssig hinweise. Ein für das quantitative Leistungsvermögen relevanter Schwindel
lasse sich ebenfalls ausschließen. Der qualitative Ausschluss von fallgefährdeten Arbeiten (z.B. Klettern auf Gerüste) erscheine
ausreichend. Ein Kopfschmerzsyndrom habe der Hausarzt am 22.08.2021 nicht erwähnt, der Kläger habe ein solches auch in der
Widerspruchsbegründung nicht angegeben. Eine zeitliche Einschränkung des Leistungsvermögens sei auch hier auszuschließen.
Die Prozessbevollmächtigte hat gegen den ihr am 05.05.2022 zugestellten Gerichtsbescheid am 03.06.2022 Berufung beim Landesssozialgericht
Baden-Württemberg (LSG) eingelegt. Sie hat zur Begründung ausgeführt, dass der Kläger nicht mehr in der Lage sei, unter den
üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 3 Stunden täglich zu arbeiten. Aus den bei dem Kläger vorliegenden
Krankheiten bzw. Behinderungen ergäben sich ganz wesentliche Symptome, die nicht nur die qualitative, sondern auch die quantitative
Leistungsfähigkeit des Klägers auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nachteilig beeinflussten. Dies habe das SG in seinem Gerichtsbescheid vom 05.05.2022 völlig fehlerhaft bewertet. Obwohl in dem Bericht der C Kliniken vom 17.01.2020
eindeutig eine subjektiv empfundene beeinträchtigte Kognition geschildert werde, gehe das SG davon aus, dass eine solche nicht bestanden haben könne. Bei Vorliegen von Zweifeln - und diese ergäben sich aus den widersprechenden
Berichten der C Kliniken und dem Reha-Entlassbericht vom 29.01.2021 - sei das Gericht gehalten, zur Klärung der Frage, ob
ein kognitives Defizit vorliege, ein Sachverständigengutachten auf neurologischem Gebiet einzuholen. Das sei hier unterlassen
worden. Hierbei müsse erwähnt werden, dass der Kläger laut Rehabericht als arbeitsunfähig entlassen worden sei und zum hypoxischen
Hirnschaden der Rehabericht in seiner eigenen Befundung keine Angaben mache. Ein hypoxischer Hirnschaden sei somit keineswegs
widerlegt.
Gänzlich unverständlich sei, dass das SG auf Seite 8 des Gerichtsbescheids zu der Überzeugung gelange, dass auf orthopädischem Gebiet keine höhergradigen Bewegungseinschränkungen
und auch keine neurologischen Defizite wie Paresen vorlägen, die eine zeitliche Einschränkung plausibel machen würden. Im
Bericht der Radiologie S1 vom 03.04.2019 sei eindeutig unter "klinische Angaben" "Lumboischialgie mit Parästhesien m, Gangstörung
z. A. NPP" angegeben. Entgegen dieser Feststellungen dann ohne Einholung eines Sachverständigengutachtens auf neurologischem
Fachgebiet den Schluss zu ziehen, es lägen keine neurologischen Defizite vor, die eine zeitliche Einschränkung plausibel machen
würden, sei ebenfalls rechtlich zu beanstanden. Auch hinsichtlich des beschriebenen Schwindels sei es nicht ausreichend, in
Bezug auf ein Leistungsvermögen festzustellen, dass der qualitative Ausschluss von fallgefährdeten Arbeiten ausreiche. Weder
seien Ursache noch Ausmaß noch Auswirkungen des Schwindels durch ein Gerichtsgutachten festgestellt worden, um so Rückschlüsse
auf die Leistungsfähigkeit ziehen zu können. Ebenso verhalte es sich mit dem Leistungsvermögen auf kardiologischem Gebiet.
Hier habe die Kardiologie F am 22.03.2021 bescheinigt, dass weiterhin eine wechselnde Blutdrucksituation bestehe und der Kläger
häufig schlapp sei. Dennoch habe das SG, ohne Hinzuziehung eines kardiologischen Sachverständigengutachtens, anscheinend aufgrund eigener medizinischer Expertise
festgestellt, dass eine kardiologische Beeinträchtigung relevanten Ausmaßes widerlegt sei.
Zusammenfassend lasse sich feststellen, dass das Gericht seine Verpflichtung zur umfassenden Sachverhaltsaufklärung gemäß
§
103 SGG verletzt habe. Bei umfassender Sachverhaltsaufklärung hätte das SG unter Einbeziehung von Sachverständigengutachten eine quantitative Leistungsminderung des Klägers feststellen müssen, die
eine dauerhafte Erwerbsminderungsrente in voller Höhe, zumindest aber eine Teilerwerbsminderungsrente auf Dauer rechtfertige.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid vom 05.05.2022 sowie den Bescheid vom 07.09.2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28.01.2022
aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm eine Rente wegen voller Erwerbsminderung, hilfsweise Rente wegen teilweiser
Erwerbsminderung zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Beklagte hat zur Berufungserwiderung auf ihren Vortrag im erstinstanzlichen Verfahren sowie die Ausführungen im angefochtenen
Gerichtsbescheid verwiesen.
Die Berichterstatterin hat mit Schreiben vom 24.08.2022 darauf hingewiesen, dass nach vorläufiger Prüfung und Rechtsauffassung
die Voraussetzungen für eine Zurückverweisung nach §
159 Abs.
1 Nr.
2 SGG erfüllt seien. Danach könne das LSG durch Urteil eine mit der Berufung angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an
das Sozialgericht zurückverweisen, wenn das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet und auf Grund dieses Mangels eine
umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme notwendig ist. Ein zur Zurückverweisung berechtigender wesentlicher Verfahrensmangel
dürfte vorliegend insoweit bestehen, als das Sozialgericht den entscheidungserheblichen Sachverhalt entgegen der Verpflichtung
zur Amtsermittlung (§
103 SGG) nicht hinreichend aufgeklärt habe. Den Beteiligten wurde Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben.
Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nach §
124 Abs.
2 SGG erklärt.
Bezüglich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts sowie des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten
beider Rechtszüge sowie die beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die form- und fristgerecht eingelegte und gemäß §§
143,
144 SGG zulässige Berufung des Klägers, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung nach §
124 Abs.
2 SGG entscheiden konnte, ist im Sinne der Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Sozialgericht zur erneuten Verhandlung und
Entscheidung begründet.
Gemäß §
159 Abs.
1 Nr.
2 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) kann das Landessozialgericht durch Urteil eine mit der Berufung angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das
Sozialgericht zurückverweisen, wenn das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet und auf Grund dieses Mangels eine umfangreiche
und aufwändige Beweisaufnahme notwendig ist.
Die tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Bestimmung sind erfüllt. Ein Mangel des Verfahrens liegt vor, wenn gegen eine
das gerichtliche Verfahren regelnde Vorschrift verstoßen worden ist. Wesentlich ist dieser Mangel, wenn die Entscheidung darauf
beruhen kann (allgemeine Meinung, stellvertretend Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt,
SGG, 13. Auflage 2020, §
159 Rdnr. 3, 3a).
Ein zur Zurückverweisung berechtigender wesentlicher Verfahrensmangel liegt insoweit vor, als das SG den entscheidungserheblichen Sachverhalt entgegen der Verpflichtung zur Amtsermittlung (§
103 SGG) nicht hinreichend aufgeklärt hat. Eine Verletzung des §
103 SGG liegt vor, wenn das Tatsachengericht Ermittlungen unterlässt, obwohl es sich ausgehend von seinem sachlich-rechtlichen Standpunkt
zu weiteren Ermittlungen hätte gedrängt fühlen müssen (Mushoff in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-
SGG, 1. Aufl., §
103 SGG - Stand: 21.04.2020 - Rdnr. 90 ff.; Senatsurteile vom 12.05.2021 - L 8 R 3419/20 -, juris Rdnr. 28ff. sowie vom 17.07.2020 - L 8 R 736/20 -, juris; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 10.03.2016, L 8 R 710/15, juris). Ein Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz ist ein wesentlicher Mangel des Verfahrens im Sinne der §
144 Abs.
2 Nr.
3 SGG und §
160 Abs.
2 Nr.
3 SGG. Weil die Beteiligten auf eine ordnungsgemäße Aufklärung des Sachverhalts nicht verzichten können, können Verstöße gegen
§
103 SGG über §
202 Satz 1
SGG in Verbindung mit §
295 ZPO nicht geheilt werden. Aus diesem Grund ist es im vorliegenden Fall auch unbeachtlich, dass die Prozessbevollmächtigte mit
Schreiben vom 02.05.2022 keine Einwände gegen eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid erhoben und erst in der Berufungsbegründung
einen Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz gerügt hat. Die Entscheidung durch Gerichtsbescheid steht im Ermessen des
Gerichts und ist nicht von der Zustimmung der Beteiligten abhängig (vgl. Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt,
SGG, 13. Auflage 2020, §
105 Rdnr. 9ff.). Im Übrigen wäre es auch nicht zulässig, im Einvernehmen mit den Beteiligten von notwendigen Ermittlungen abzusehen,
um einem eventuell bestehenden Wunsch an einem beschleunigten Fortkommen im Instanzenzug nachzukommen.
Die Pflicht zur Amtsermittlung ist somit dem Verantwortungsbereich des Gerichts zugewiesen. Nicht die Beteiligten, sondern
das Gericht bestimmt, welche Angaben für die von ihm zu treffende Entscheidung erforderlich sind. Das Gericht entscheidet
im Rahmen von Zweckmäßigkeitsüberlegungen nach dem Studium der Akten über die Reihenfolge der zur Aufklärung des Sachverhalts
erforderlichen Maßnahmen. Diese Aufgaben darf das Gericht nicht an die Beteiligten delegieren. Es hat die Sachverhaltsermittlungen
nach seinem pflichtgemäßen Ermessen unabhängig vom Willen und der Interessenlage einzelner Prozessbeteiligter durchzuführen.
Das Gericht muss sich nicht mit den von einem Kläger angebotenen Beweismitteln begnügen, wenn es die Angaben für unzureichend
erachtet, weil es diese nicht auf ihre Richtigkeit überprüfen kann (Mushoff in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-
SGG, 1. Aufl., §
103 SGG - Stand: 21.04.2020 - Rn. 19). Die Zu ermitteln sind alle Tatsachen, die, ausgehend von der Rechtsauffassung des Sozialgerichts,
für die Entscheidungsfindung in prozessualer und materieller Hinsicht wesentlich sind. Das Ausmaß der Aufklärung und die Wahl
der Beweismittel sind in das pflichtgemäße richterliche Ermessen des Gerichts gestellt. Es hat diejenigen Ermittlungen durchzuführen,
zu denen es sich nach der Sach- und Rechtslage gedrängt fühlen muss.
Welcher Beweismittel sich das Gericht bedient, ist eine Frage der pflichtgemäßen richterlichen Ermessensausübung. Das Gericht
ist gehalten, diejenigen Beweismittel zu verwenden, die nach den Umständen des Einzelfalles zur Aufklärung des entscheidungserheblichen
Sachverhalts geeignet und erforderlich sind. Umfang und Reihenfolge der Ermittlungen sind zum Teil durch die Umstände des
Einzelfalls vorgegeben. So hat das Gericht vor der Beauftragung eines Sachverständigen häufig die erforderlichen medizinischen
Befunde der behandelnden Ärzte einzuholen, ohne die z.B. verlässlichen Aussagen über den Zeitpunkt des Leistungsfalls häufig
nicht möglich sind. Bei streitigem Sachverhalt hat das Gericht zunächst die Tatsachen zu ermitteln, die es dem Sachverständigen
vorzugeben hat (§
404a Abs.
3 ZPO).
Rechtsgrundlagen für die vom Kläger geltend gemachten Ansprüche sind die §§
43,
240 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (
SGB VI), die in dem angefochtenen Gerichtsbescheid in der maßgeblichen Fassung wiedergegeben worden sind.
Für einen Anspruch auf Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung ist danach klärungsbedürftig, ob der Kläger aus
medizinischen Gründen voll oder teilweise erwerbsgemindert ist (§ 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Satz 2, Abs.
2 Satz 1 Nr. 1 und Sätze 2 und 3, Abs. 3
SGB VI) und ob er die sogenannten versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt (§§
43 Abs. 1 Nr. 2 und 3, Abs.
2 Nr.
2 und
3 und Abs.
4 bis
6,
241 SGB VI). Nach dem aktenkundigen Versicherungsverlauf sind im maßgeblichen Zeitraum vom 12.07.2016 bis zum 11.07.2021 59 Monate Pflichtbeiträge
gespeichert und somit die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für die begehrte Erwerbsminderungsrente erfüllt.
Eine klageabweisende Entscheidung kann sich deshalb nur dadurch rechtfertigen, dass die medizinischen Voraussetzungen für
eine volle oder teilweise Erwerbsminderung nicht nachzuweisen sind. Das SG war angesichts dessen gehalten, Ermittlungen zur Aufklärung des Leistungsvermögens des Klägers anzustellen.
Nach der Rechtsprechung des Senats (vgl. Senatsurteil vom 12.05.2021 - L 8 R 3419/20 -, juris Rdnr. 39ff.) ist der Amtsermittlungsgrundsatz unter anderem auch dann verletzt, wenn allein der medizinische Sachverhalt
streitig ist und dem Gericht durch die Benennung der behandelnden Ärzte die Möglichkeit offenstand, sachdienliche Ermittlungen
vorzunehmen. Dies gilt nach Überzeugung des Senats nicht nur für den Fall einer ausbleibenden Klagebegründung, sondern immer
dann, wenn behandelnde Ärzte im maßgeblichen Zeitraum in der Schweigepflichtentbindungserklärung benannt werden, und damit
das aktuelle Leistungsvermögen weiter ermittelt werden kann.
Der Kläger hat in der Entbindungserklärung Ärzte benannt, die ihn nach Erlass des Widerspruchsbescheides behandelt haben.
Er hat daher aufgezeigt, dass weiterhin behandlungsbedürftige Erkrankungen bestehen, deren Auswirkungen auf das Leistungsvermögen
von Amts wegen zu ermitteln sind. Die Verpflichtung zur Amtsermittlung entsteht nicht erst dann, wenn das SG nach den jeweiligen Maßstäben des oder der Kammervorsitzenden die Klagebegründung als ausreichend substantiiert ansieht,
sondern immer dann, wenn Behandlungen vorgetragen und Behandler im maßgeblichen Zeitraum benannt werden. Hierzu reichen die
Angaben in der Schweigepflichtentbindungserklärung aus. Überhöhte Anforderungen an den Nachweis einer Verschlechterung des
Gesundheitszustandes im Vergleich zum Verwaltungsverfahren würden zu einer Aushöhlung des Amtsermittlungsgrundsatzes und einer
schleichenden Einführung des Beibringungsgrundsatzes führen. Dieser Gesichtspunkt gewinnt insbesondere dann an Gewicht, wenn
bereits im Verwaltungsverfahren nur nach Aktenlage entschieden worden ist. Auch ist es nicht Aufgabe der zweiten Instanz,
Ermittlungen nachzuholen, welche bereits die erste Instanz hätte durchführen können und müssen. Dies würde letzten Endes auch
zum Verlust einer Tatsacheninstanz für die Prozessbeteiligten führen.
Es ist nach der Rechtsprechung des Senats (vgl. Senatsurteil vom 12.05.2021 - L 8 R 3419/20 -, a.a.O.) ausreichend, wenn das Klageziel gegebenenfalls unter Berücksichtigung der eingereichten Bescheide erkennbar ist.
Bei unklaren Anträgen muss das Gericht mit den Beteiligten nach den §§
106 Abs.
1,
112 Abs.
2 Satz 2
SGG klären, was gewollt ist, und darauf hinwirken, dass sachdienliche und klare Anträge gestellt werden (Föllmer in: Schlegel/Voelzke,
jurisPK-
SGG, 1. Aufl., §
92 SGG - Stand: 29.03.2021 - Rdnr. 35ff).
Im vorliegenden Fall hat die Prozessbevollmächtigte in ihrer Klagebegründung weitere Ermittlungen, unter anderem durch Einholung
von sachverständigen Zeugenaussagen angeregt. Das SG war daher bereits aus diesem Grund gehalten, zumindest die als aktuelle Behandler angegebenen Ärzte als sachverständigen
Zeugen zu hören. Es hätte sich somit nicht auf den mittlerweile mehr als ein Jahr alten Entlassungsbericht sowie die bis zum
Erlass des Widerspruchsbescheides herangezogenen Arztbefunde stützen dürfen, zumal die Beklagte weder im Verwaltungs- noch
im Widerspruchsverfahren eine Begutachtung des Klägers veranlasst hat und sich im Wesentlichen ebenfalls auf den zum damaligen
Zeitpunkt allerdings noch aktuelleren Rehaentlassungsbericht gestützt hat.
Das SG war somit gehalten, zumindest die benannten und von der Schweigepflicht entbundenen Ärzte als sachverständigen Zeugen zu
hören. Zwar kommt den schriftlichen Äußerungen behandelnder Ärzte nur der Charakter von Auskünften (§
106 Abs.
3 Nr.
4 SGG) oder schriftlicher Aussagen sachverständiger Zeugen (§§
106 Abs.
4,
118 Abs.
1 Satz 1
SGG i.V. mit §§
377 Abs.
3,
414 Zivilprozessordnung [ZPO]) zu. Sie vermitteln dem Gericht deshalb nicht zwangsläufig die erforderliche Sachkunde über das objektive Vorliegen
von Krankheitsbildern und deren Auswirkungen auf das rentenrechtlich erhebliche Leistungsvermögen. Allerdings verschaffen
sie dem Gericht durch die Übermittlung der gestellten Diagnosen und erhobenen Befunde sowie eingeleiteten Behandlungsmaßnahmen
eine Entscheidungsgrundlage für die Frage, ob weitere Ermittlungen, beispielsweise durch Einholung eines Sachverständigengutachtens,
erforderlich sind. Ob sich im weiteren Verlauf der Ermittlungen Erkenntnisse über gesundheitliche Einschränkungen entgegen
der Leistungseinschätzung im Rehaentlassungsbericht ergeben, welche die Leistungsfähigkeit des Klägers soweit einschränken,
dass sich die Einsatzfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nur noch mit einer zeitlichen Einschränkung bejahen lässt,
hat das SG zu gegebener Zeit zu prüfen (vgl. BSG, Urteil vom 09.05.2012, B 5 R 68/11 R, SozR 4-2600 § 43 Nr. 18).
Fehlt es somit in weitem Umfang an Ermittlungen, zu denen sich das SG im Rahmen des §
103 SGG gedrängt fühlen musste, so folgt daraus zum einen, dass die angefochtene Entscheidung hierauf beruhen kann, und zum anderen,
dass der Verfahrensmangel eine umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme erforderlich macht. Letzteres ist nach der Gesetzesbegründung
(BT-Drucks. 17/6746, S. 27, zu Nummer 8) der Fall, wenn die Beweisaufnahme einen erheblichen Einsatz von personellen und sächlichen
Mitteln erforderlich macht. Wie sich aus dem oben Gesagten ergibt, sind Ermittlungen zur Aufklärung des medizinischen Sachverhalts
und der Frage der Erwerbsminderung noch in weitem Umfang erforderlich, was zwangsläufig einen derartigen Einsatz von personellen
und sächlichen Mitteln nach sich zieht (vgl. auch LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 10.03.2016, L 8 R 710/15, juris).
Im Rahmen des von ihm bei der Entscheidung über die Zurückverweisung auszuübenden Ermessens hat der Senat das Interesse des
Klägers an einer möglichst zeitnahen Erledigung des Rechtsstreits gegenüber den Nachteilen durch den Verlust einer Tatsacheninstanz
abgewogen und sich angesichts der erheblichen Mängel der Sachverhaltsaufklärung durch das Sozialgericht für eine Zurückverweisung
entschieden. Hierbei hat er berücksichtigt, dass der Rechtsstreit noch weit von einer Entscheidungsreife entfernt ist, weshalb
der Verlust einer Tatsacheninstanz, wie er wegen der vom SG unterlassenen Aufklärung praktisch eingetreten ist, besonders ins Gewicht fällt. Die Zurückverweisung stellt die dem gesetzlichen
Modell entsprechenden zwei Tatsacheninstanzen wieder her. Auch der Grundsatz der Prozessökonomie führt nicht dazu, den Rechtsstreit
bereits jetzt abschließend in der Berufungsinstanz zu behandeln. Denn das gesamte Verfahren vor dem Senat hat vom Eingang
der Berufung am 03.06.2022 bis zum Tag der Verkündung des Urteils weniger als ein halbes Jahr in Anspruch genommen. Es erscheint
deshalb prozessökonomischer, dem SG zunächst Gelegenheit zur Aufklärung des Sachverhalts in rechtskonformer Weise zu geben.
Das SG wird in seiner künftigen Kostenentscheidung auch über die Kosten des Berufungsverfahrens zu befinden haben.
Gründe, die Revision zuzulassen (§
160 Abs.
2 SGG), liegen nicht vor.