Anspruch auf Festsetzung des Grades der Behinderung; gutachtliche Anhörung eines bestimmten Arztes auf Antrag des behinderten
Menschen; Befugnis zur Ausübung des Ermessens
Gründe
I.
Zwischen den Beteiligten war in der Hauptsache streitig, ob für die Klägerin und jetzige Beschwerdeführerin (im Folgenden:
Klägerin) ein höherer Grad der Behinderung (GdB) als 50 festzusetzen ist.
In dem am Sozialgericht Regensburg (SG) unter dem Aktenzeichen S 12 SB 787/10 anhängig gewesenen Rechtsstreit der Klägerin gegen den Freistaat Bayern hat am 18.04.2011 Medizinaldirektor P. J. R. nach
persönlicher Untersuchung der Klägerin, die in den Räumen des SG stattgefunden hatte, ein Gutachten erstellt. Dabei ist er zu dem Ergebnis gekommen, dass ein Gesamt-GdB von 50 vorliege.
Am 19.04.2011 ist den anwesenden Beteiligten das Gutachten, das der Sachverständige nach Untersuchung am Vortag und Aktenlage
erstattet hatte, vor Beginn der mündlichen Verhandlung ausgehändigt worden. Nach dem Antrag gemäß §
109 Sozialgerichtsgesetz (
SGG), vom Orthopäden Dr. S. ein Gutachten einzuholen, ist der Rechtsstreit vertagt worden. In seinem Gutachten vom 12.08.2011
hat Dr. S. ebenfalls einen GdB von 50 festgestellt. Auch die Einzel-GdB stimmen mit den von dem Arzt R. getroffenen Feststellungen
überein, mit Ausnahme der Einschätzung hinsichtlich der Funktionsbehinderung beider Kniegelenke.
In der mündlichen Verhandlung am 15.12.2011 hat die Klägerin nach Anregung durch den Vorsitzenden der Kammer (über ihren Bevollmächtigten)
die Klage zurückgenommen und die Kostenübernahme für das Gutachten von Dr. S. auf die Staatskasse beantragt.
Mit Beschluss vom 16.12.2011 hat das SG die Kostenübernahme abgelehnt. In dem Gutachten von Dr. S. seien die medizinischen Befunde des Sachverständigen R. im Wesentlichen
bestätigt worden. Beide Sachverständige würden den Gesamt-GdB mit 50 einschätzen. Damit habe das Gutachten von Dr. S. die
medizinische Sachverhaltsklärung nicht wesentlich gefördert.
Mit Schreiben vom 03.01.2012 hat die Klägerin hiergegen Beschwerde erhoben. Zur Begründung hat sie vorgetragen, es könne nicht
darauf ankommen, dass beide Gutachten mit demselben Ergebnis (Gesamt-GdB von 50) "enden" würden. Auch sei nicht richtig, dass
die medizinischen Befunde des Sachverständigen R. vom Gutachter Dr. S. im Wesentlichen bestätigt worden seien; die Klägerin
hat hier auf die unterschiedliche Beurteilung der Funktionsbehinderung der Kniegelenke verwiesen. Vielmehr habe das Gutachten
von Dr. S. die Sachaufklärung wesentlich gefördert; die Rücknahme der Klage gerade im Hinblick auf das Gutachten von Dr. S.
sei unerheblich.
Im Übrigen wird ergänzend auf den Inhalt der Gerichtsakte des SG im oben genannten Verfahren und der Akte des LSG verwiesen.
II.
Die Beschwerde ist sowohl zulässig als auch begründet.
Die Kosten für das gemäß §
109 SGG eingeholte Gutachten sind vollständig auf die Staatskasse zu übernehmen.
Auf Antrag des behinderten Menschen muss nach §
109 Abs.
1 Satz 1
SGG ein bestimmter Arzt gutachtlich gehört werden. Die Anhörung kann - wie dies im vorliegenden Fall auch erfolgt ist - davon
abhängig gemacht werden, dass der Antragsteller die Kosten dafür vorschießt und vorbehaltlich einer anderen Entscheidung des
Gerichts auch endgültig trägt (§
109 Abs.
1 Satz 2
SGG). Eine "andere Entscheidung" in diesem Sinn hat die Klägerin beim SG beantragt.
Die Entscheidung darüber, ob die Kosten eines gemäß §
109 SGG eingeholten Gutachtens auf die Staatskasse zu übernehmen sind, ist eine Ermessensentscheidung (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/ders./Leitherer,
SGG, 10. Aufl., §
109, Rdnr. 16) des Gerichts, das das Gutachten angefordert hat (vgl. a.a.O., Rdnr. 18). Bei der Ermessensentscheidung über die
Kostenübernahme auf die Staatskasse ist zu berücksichtigen, ob das Gutachten die Sachaufklärung objektiv wesentlich gefördert
und somit Bedeutung für die gerichtliche Entscheidung oder den Ausgang des Verfahrens gewonnen hat (a.a.O., Rdnr. 16a). Entscheidend
ist dabei, ob durch das Gutachten neue beweiserhebliche Gesichtspunkte zu Tage getreten sind oder die Beurteilung auf eine
wesentlich breitere und für das Gericht und die Beteiligten überzeugendere Grundlage gestellt worden ist. Dabei genügt es
nach der Rechtsprechung des Senats (BayLSG vom 28.09.2012 - L 15 SB 293/11 B) nicht, dass ein Gutachten "die Aufklärung des Sachverhalts in objektiv sinnvoller Weise gefördert" hat oder dass durch
das Gutachten "entscheidungserhebliche Punkte des Sachverhalts weiter aufgeklärt werden", wie manchmal formuliert wird (Kühl,
in: Breitkreuz/Fichte,
SGG, 1. Aufl., §
109, Rdnr. 11, mit Verweis auf BayLSG vom 29.04.1964 - L 18/Ko 60/63; Udsching, a.a.O.). Denn diese Voraussetzungen sind bei
medizinischen Gutachten so gut wie immer gegeben. Nur eine wesentliche Förderung der Sachaufklärung kann zu einer Kostenübernahme
führen (vgl. Keller, a.a.O.).
Von einer solchen Förderung der Sachaufklärung ist regelmäßig dann auszugehen, wenn das Gutachten gemäß §
109 SGG weitere Ermittlungen von Amts wegen erforderlich gemacht hat (vgl. BayLSG vom 19.08.1999 - L 18 B 303/96 V). Nur dann, wenn in einem solchen Fall das von Amts wegen eingeholte Gutachten lediglich die Unrichtigkeit des Gutachtens
nach §
109 SGG bestätigt, ohne wesentliche, darüber hinausgehende zusätzliche Erkenntnisse zu bringen, ist eine Kostenübernahme auf die
Staatskasse nicht angezeigt (Udsching, Besonderheiten des Sachverständigenbeweises im sozialgerichtlichen Verfahren, NZS 1992,
50, 55). Denn in einem solchen Fall hat, wie sich im Rahmen des anschließend von Amts wegen eingeholten Gutachtens und damit
im Nachhinein zeigt, kein objektiver Grund für weitere Ermittlungen von Amts wegen bestanden (vgl. hierzu näher BayLSG vom
12.03.2012 - L 15 SB 22/12 B).
Nicht entscheidend ist, ob das Gutachten den Rechtsstreit in einem für den Antragsteller günstigen Sinne beeinflusst hat (a.a.O.).
Kein maßgeblicher Gesichtspunkt für eine Ermessensausübung zu Gunsten eines Antragstellers ist es auch, wenn dieser nach Bestätigung
der Ergebnisse, wie sie der von Amts wegen bestellte Sachverständige festgestellt hat, durch den gemäß §
109 SGG benannten Gutachter die Klage oder Berufung zurücknimmt. Denn mit der Kostenübernahme auf die Staatskasse bzw. der Ablehnung
der Kostenübernahme darf keine Belohnung bzw. Sanktionierung eines bestimmten prozessualen Verhaltens erfolgen (BayLSG, a.a.O.;
LSG Niedersachsen-Bremen vom 30.06.2006 - L 5 B 3/05 SB SF).
Eine teilweise Kostenübernahme ist grundsätzlich nicht ausgeschlossen, aber bei einem einheitlichen Streitgegenstand regelmäßig
nicht sachgerecht (vgl. Keller, a.a.O., § 109, Rdnr. 16a) und wird daher überhaupt nur in seltenen Fällen in Betracht gezogen
werden können.
Wie der Senat ebenfalls bereits entschieden hat, ist die erstinstanzliche Entscheidung im Beschwerdeverfahren voll, d.h. nicht
nur auf Ermessensfehler, überprüfbar (BayLSG vom 19.12.2012 - L 15 SB 123/12 B). Eine andere Auslegung, die von einer nur eingeschränkten Nachprüfbarkeit durch das Beschwerdegericht dahingehend ausgeht,
ob die Voraussetzungen und die Grenzen des Ermessens richtig bestimmt und eingehalten worden sind, ist nicht überzeugend begründbar
(im Einzelnen siehe a.a.O.).
Im Rahmen der Beschwerdeentscheidung ist die Befugnis zur Ausübung des Ermessens in vollem Umfang auf das Beschwerdegericht
übergegangen (vgl. LSG Baden-Württemberg vom 17.03.2009 - L 10 U 1056/09 KO-B); durch den Senat hat eine eigene Ausübung des Ermessens zu erfolgen.
Diese ergibt im vorliegenden Fall, dass die Kosten für das Gutachten gemäß §
109 SGG voll auf die Staatskasse zu übernehmen sind. Das Gutachten von Dr. S. hat die Sachaufklärung objektiv wesentlich gefördert,
indem es die Beurteilung auf eine wesentlich breitere und für das Gericht und die Beteiligten überzeugendere Grundlage gestellt
hat. Damit hat es den Rechtsstreit wesentlich gefördert (vgl. Hintz/Lowe,
SGG, 1. Aufl., §
109, Rdnr. 25).
Der gemäß §
106 SGG beauftragte Gutachter R. hat ein Gutachten am Tag vor der (ersten) mündlichen Verhandlung auf Grund einer Untersuchung in
den Räumen des SG erstellt. Eine solche Verfahrensweise begegnet aus Sicht des Senats nicht von vornherein Bedenken. Sichergestellt werden
muss jedoch, dass die persönliche Untersuchung des Klägers nach ihrer Zeitdauer und der Möglichkeit apparativer Untersuchungsmethoden
ein ausreichendes Bild über den Gesundheitszustand zur Beantwortung der Beweisfragen vermitteln kann (zum Beispiel Keller,
a.a.O., § 118, Rdnr. 12a; kritisch Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 6. Auflage, III 73).
Vorliegend kann offenbleiben, ob das Gutachten des Sachverständigen R. ein solches ausreichendes Bild vermitteln hat können.
Denn maßgeblich ist hier, dass das gemäß §
109 SGG erstellte Gutachten von Dr. S. auf jeden Fall eine wesentlich breitere Basis für die Beurteilung des Gesundheitszustands
und des GdB ermöglicht hat. Denn wenn der Arzt R. auch zahlreiche (orthopädische) relevante klinische Befunde erhoben hat,
wie die Messung der Bewegungsausmaße nach der Neutral-Null-Methode etc., fehlt in seinem Gutachten doch die apparative Diagnostik
vollständig. Hingegen ist im Gutachten von Dr. S. das Ergebnis umfangreicher sonografischer und radiologischer Diagnostik,
die zur Gutachtenserstellung durchgeführt worden ist, berücksichtigt (S. 11 ff. des Gutachtens). Diese diagnostischen Maßnahmen
sind jedoch von zentraler Bedeutung bei orthopädischen Begutachtungen. Gerade Gutachten auf diesem Fachgebiet zeichnen sich
dadurch aus, dass sie den - wenn auch glaubhaft - geschilderten subjektiven Beschwerdeangaben eine untergeordnete Bedeutung
zuweisen. Denn auf dem Gebiet der Orthopädie lassen sich ohne Weiteres objektivierbare Fakten wie Bewegungsmaße, Schwellungen
und Befunde bildgebender Verfahren eruieren. Dabei ergibt sich naturgemäß durch die Auswertung bildgebender Befunde ein erhöhter
Grad der Objektivität. Zudem stellen die beispielhaft aufgezählten objektivierbaren Fakten keine Alternativen dar, sondern
ergänzen einander. Gerade bei Gesundheitsstörungen der Wirbelsäule sind zur weiteren Diagnostik Röntgenaufnahmen notwendig,
die alle knöchernen Veränderungen im Bereich der Wirbelsäule anzeigen (zum Beispiel Hülsmann, in Francke/Gagel, Der Sachverständigenbeweis
im Sozialrecht, 1. Auflage, S. 141). Im Übrigen gehen auch die Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VG) in Teil B, Ziffer
18.1 von der zentralen Bedeutung bildgebender Verfahren aus, wenn sie festlegen, dass mit Hilfe derer festgestellte Veränderungen
allein noch nicht die Annahme eines GdB rechtfertigten.
Wie die Klägerin zu Recht hervorhebt, hat die umfassende Befunderhebung und umfassende Beurteilung ihres Gesundheitszustands
durch Dr. S. denn auch eine Abweichung gegenüber dem Erstgutachten ergeben (Einzel-GdB). Auf Grund der zentralen Bedeutung
bildgebender Verfahren im vorliegenden Fall kann auch nicht die Rede davon sein, dass das Gutachten von Dr. S. die Aufklärung
des Sachverhalts nur in objektiv sinnvoller Weise gefördert habe. Weiter erschiene es aus Sicht des Senats auch unbillig,
die Klägerin mit Kosten für ein Gutachten zu belasten, das diagnostische Maßnahmen veranlasst hat, die zum Standard einer
orthopädischen Begutachtung zählen, vom durch das Gericht ausgewählten Sachverständigen aber unterlassen wurden.
Festzuhalten bleibt, dass im Falle orthopädischer Begutachtungen die Anfertigung von Röntgenbildern und auch sonografische
Untersuchungen für die Gutachtenserstellung nicht in jedem Fall unabdingbar sind. Dies wird zum einen für besonders - z.B.
einfach - gelagerte Sachverhalte zu gelten haben, zum anderen sich naheliegenderweise dann ergeben, wenn im Zeitpunkt der
Untersuchung bereits (zeitnah) angefertigte Röntgenbilder etc. vorliegen. Letzteres war - soweit für das Beschwerdegericht
ersichtlich - vorliegend jedoch nicht der Fall. Insbesondere sind keinerlei Anhaltspunkte dafür erkennbar, dass der erfahrene
Gutachter Dr. S., gegebenenfalls unter Inkaufnahme gesundheitlicher Risiken für die Klägerin, überflüssige diagnostische Maßnahmen
durchgeführt hätte.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf der entsprechenden Anwendung des §
193 Abs.
1 SGG (vgl. BayLSG vom 09.02.2009 - L 15 SB 12/09 B).
Diese Entscheidung ist gemäß §
177 SGG endgültig.