Tatbestand:
Der Kläger begehrt die rückwirkende Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von 100, hilfsweise 50, ab dem 1. Mai
2000.
Der 1945 geborene Kläger ist Arzt für Biochemie. Auf Veranlassung der ihn seit Jahren behandelnden Internistin/Kardiologin
Priv.-Doz. Dr. P wurde er wegen einer unklaren gastrointestinalen Blutung mit peranalen Blutabgängen und zunehmendem Schwächegefühl
und Leistungsknick am 4. April 2002 im Unfallkrankenhaus Berlin aufgenommen. Dort wurde bei ihm ein mindestens 10 x 10 cm
großer gastrointestinaler Stromatumor (GIST) oberhalb des Blasendaches diagnostiziert und am 17. April 2002 exstirpiert. Am
29. April 2002 wurde der Kläger ohne spezielle Therapieempfehlung aus der stationären Behandlung entlassen und im Anschluss
durch die Internistin Dr. P sowie die Internistin Dr. L ambulant weiter betreut. Überdies unterzog sich der Kläger nach seiner
Krankenhausentlassung regelmäßigen MRT-Kontrollen sowie sonstigen Untersuchungen, bei denen immer wieder Metastasen und Rezidive
festgestellt wurden, die zu weiteren Krankenhausaufenthalten und weiteren operativen Eingriffen führten. Seit dem 1. Januar
2007 bezieht der Kläger eine Altersrente für schwerbehinderte Menschen mit Abschlägen.
Am 5. Dezember 2006 beantragte der Kläger bei dem Beklagten erstmalig die Feststellung eines GdB rückwirkend für die Zeit
ab dem 16. November 2000 und fügte diesem Antrag zahlreiche ärztliche Unterlagen aus der Zeit ab April 2002 bei. Der Beklagte
holte Befundberichte der Internistin Dr. L sowie des Neurologen und Psychiaters Dr. F vom 25. Januar 2007 ein und veranlasste
eine gutachtliche Stellungnahme des Facharztes für Allgemeinmedizin B, der nach Auswertung der vorhandenen medizinischen Unterlagen
am 5. März 2007 zu dem Ergebnis kam, dass bei dem Kläger eine Harnblasenerkrankung im Stadium der Heilungsbewährung gegeben
sei, die die Zuerkennung eines GdB von 80 rechtfertige.
Auf der Grundlage dieser Einschätzung stellte der Beklagte mit seinem Bescheid vom 26. März 2007 wegen der genannten Behinderung
einen GdB von 80 seit dem 1. April 2002 (Monat der Tumorentfernung) fest. Mit seinem hiergegen erhobenen Widerspruch machte
der Kläger geltend, dass bei ihm keine Harnblasenerkrankung, sondern ein gesicherter metastasierender und rezidivierender
GIST-Tumor bestehe, bei dem eine Heilungsbewährung nicht mehr zu erwarten sei. Dieser Tumor sei mit einem GdB von 100 zu bewerten,
und zwar spätestens ab dem 1. Mai 2000. Denn wie sich aus dem Wachstumsverhalten des Tumors und der Metastasen sowie aus der
Tatsache schließen lasse, dass er bereits seit Mai 2000 unter Teerstühlen gelitten habe, müsse der Tumor schon im Mai 2000
eine beträchtliche Größe gehabt haben. Zum Nachweis für die Richtigkeit dieser Behauptungen überreichte er Atteste der Internistinnen
Dr. P und Dr. L vom 25. April 2007, in denen es u. a. heißt, dass er bereits seit Mai 2000 über vereinzelt auftretende Teerstühle
geklagt habe (Dr. P) bzw. dass der Tumor bereits Mitte 2000 eine die Gesundheit beeinträchtigende Größe von etwa 5 - 7 cm
gehabt haben müsse (Dr. L).
Nach Einholung einer gutachtlichen Stellungnahme der Internistin S vom 9. Mai 2007 gab der Beklagte dem Widerspruch mit seinem
Widerspruchsbescheid vom 23. August 2007 insoweit statt, als er den GdB nunmehr wegen einer Dünndarmerkrankung, bei der von
einer Heilungsbewährung nicht mehr auszugehen sei, auf 100 festsetzte. Im Übrigen wies er den Widerspruch als unbegründet
zurück. Die Feststellung eines GdB für die Zeit vor dem 1. April 2002 scheide aus, weil es insoweit an ausreichenden medizinischen
Befunden fehle und die Krebserkrankung erst im April 2002 erkannt worden sei. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung
notwendigen Aufwendungen würden dem Kläger zu 2/3 erstattet.
Am 20. September 2007 hat der Kläger Klage vor dem Sozialgericht Berlin erhoben, mit der er die rückwirkende Feststellung
eines GdB von 100, hilfsweise 50, ab dem 1. Mai 2000 begehrt und zur Begründung sein Widerspruchsvorbringen weiter vertieft
hat.
Das Sozialgericht hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 19. November 2008 abgewiesen. Der Kläger habe keinen Anspruch auf
rückwirkende Feststellung eines GdB in der begehrten Höhe. Bei der Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft handele es
sich nämlich um eine Statusentscheidung, die generell nur in die Zukunft wirke. Nur um die schwerbehinderten Menschen durch
die Dauer des Verwaltungsverfahrens nicht unzumutbar zu belasten, ordne § 6 Abs. 1 Satz 1 der Schwerbehindertenausweisverordnung (SchwbAwV) eine rückwirkende Feststellung für die Zeit ab Antragstellung an. Für eine weitergehende Rückwirkung sei nur nach Maßgabe
von § 6 Abs. 1 Satz 2 SchwbAwV Raum; sie sei allerdings auf offenkundige Fälle zu beschränken. Ein derartiger Fall liege hier jedoch erst ab April 2002
vor, weil die bösartige Tumorerkrankung des Klägers erstmals in diesem Monat objektiv beweisbar diagnostiziert worden sei.
Für die Zeit davor fehle es an aussagekräftigen medizinischen Unterlagen, so dass die vom Kläger behauptete Tatsache, er sei
bereits seit Mai 2000 wegen Teerstühlen und Schwächeanfällen schwerbehindert gewesen, nicht als offenkundig gelten könne.
Im Übrigen sei zu Lasten des Klägers zu berücksichtigen, dass die zur Beurteilung einer Behinderung maßgeblichen Bewertungsvorgaben
in den so genannten Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht
(AHP), bei denen es sich um antizipierte Sachverständigengutachten handele, die Feststellung eines GdB erst für die Zeit nach
der Entfernung maligner Tumore vorsähen. Dass der GdB insoweit zumindest anfänglich ausnahmslos 50 betrage, sei nur deshalb
gerechtfertigt, weil die körperliche und psychische Belastbarkeit der Betroffenen nach einer Tumorentfernung im Regelfall
erheblich herabgesetzt sei und gerade die psychischen Belastungen durch die Kenntnis von der Tumorerkrankung nach dem medizinischen
Erfahrungsstand als enorm geltend dürften.
Gegen diesen ihm am 22. November 2008 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 9. Dezember 2008 Berufung eingelegt,
mit der er sein Begehren weiterverfolgt. Zur Begründung trägt er unter Vorlage neuerer ärztlicher Unterlagen vor, dass er
bereits seit Mai 2000 offenkundig mit einem GdB von 100, hilfsweise 50, schwerbehindert gewesen sei. Denn abgesehen davon,
dass er bereits ab dem genannten Zeitpunkt unter Teerstühlen, starken Symptomen einer Anämie und unter Kraftlosigkeit gelitten
habe, ließen auch die seit April 2002 erhobenen Befunde ohne weiteres den Rückschluss darauf zu, dass der bei ihm festgestellte
Tumor bereits ab Mai 2000 eine GdB-relevante Größe gehabt habe.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 19. November 2008 aufzuheben und den Beklagten unter Änderung des Bescheides
vom 26. März 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. August 2007 zu verpflichten, für den Kläger einen Grad
der Behinderung von 100, hilfsweise 50, ab dem 1. Mai 2000 festzustellen,
hilfsweise
1. den Kläger als Arzt (Facharzt für Biochemie) und sachverständige Partei zu vernehmen, dass er bereits seit Mai 2000 unter
Teerstühlen, starken Symptomen einer Anämie und Kraftlosigkeit litt,
2. ein pathologisches Sachverständigengutachten durch Prof. Dr. R. B, Institut für Pathologie der Universität B, darüber einzuholen,
dass sich der Gesundheitszustand des Klägers und seine Funktionseinschränkungen im Jahr 2002 nicht von dem Gesundheitszustand
und den Funktionseinschränkungen im Mai 2000 aufgrund der Tumorart, seines Wachstums und der Begleitsymptome signifikant aus
ärztlicher Sicht unterschied, so dass ein Grad der Behinderung von 100, mindestens jedoch 50, bereits seit Mai 2000, hilfsweise
seit 1. November 2000 offenkundig bestand.
Ergänzend beantragt der Kläger für den Fall, dass er weder mit dem Hauptantrag noch mit den nach §
106 des Sozialgerichtsgesetzes (
SGG) gestellten Beweisanträgen durchdringen sollte, die Beweisaufnahme nach §
109 SGG durchzuführen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält den angegriffenen Gerichtsbescheid für zutreffend.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, insbesondere die Schriftsätze
der Beteiligten, sowie den Verwaltungsvorgang des Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung des Klägers ist zulässig, aber unbegründet. Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts ist zutreffend.
Die zulässige Klage ist unbegründet. Denn der angefochtene Bescheid vom 26. März 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 23. August 2007 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung
eines GdB von 100, hilfsweise 50, bereits ab dem 1. Mai 2000.
Wie das Sozialgericht mit Recht ausgeführt hat, ist Anspruchsgrundlage für das Begehren des Klägers §
69 Abs.
1 des Neunten Buches des Sozialgesetzbuches (
SGB IX). Hiernach stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden - hier das Versorgungsamt Berlin - das Vorliegen einer Behinderung und den Grad der Behinderung fest,
wobei gemäß §
2 SGB IX Menschen behindert sind, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit
länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft
beeinträchtigt ist. Die Auswirkungen auf die Teilhabe an der Gesellschaft sind gemäß §
69 Abs.
1 Satz 4 und 5
SGB IX abgestuft als GdB in Zehnergraden von 20 bis 100 entsprechend den Maßstäben des § 30 Abs. 1 BVG i.V.m. den vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung herausgegebenen AHP in ihrer jeweils geltenden Fassung
festzustellen. Den AHP kommt hierbei die Bedeutung von antizipierten Sachverständigengutachten zu, durch die die möglichst
gleichmäßige Handhabung der in ihnen niedergelegten Maßstäbe im gesamten Bundesgebiet erreicht werden soll. Die AHP engen
das Ermessen der Verwaltung ein, führen zur Gleichbehandlung und sind deshalb auch geeignet, gerichtlichen Entscheidungen
zu Grunde gelegt zu werden.
In zeitlicher Hinsicht ist zu berücksichtigen, dass es sich bei der Feststellung des GdB um eine Statusentscheidung handelt,
die prinzipiell in die Zukunft wirkt und nach § 6 Abs. 1 Satz 1 SchwbAwV lediglich deshalb auf den Zeitpunkt der Antragstellung zurück zu beziehen ist, um den schwerbehinderten Menschen durch die
Dauer des Verwaltungsverfahrens nicht unzumutbar zu belasten. Für eine weitergehende Rückwirkung ist nach Maßgabe von § 6 Abs. 1 Satz 2 SchwbAwV nur dann Raum, wenn der Betroffene ein besonderes Interesse für eine frühere Statusentscheidung glaubhaft machen kann. Eine
solche Rückwirkung muss jedoch auf offenkundige Fälle beschränkt werden, um den Sinn und Zweck einer Statusentscheidung nicht
zu konterkarieren (vgl. Bundessozialgericht - BSG -, Urteil vom 29. Mai 1991 - 9a/9 RVs 11/89 -, zitiert nach juris, allerdings nicht für den Fall der Erstfeststellung, sondern den Fall der Rücknahme eines Feststellungsbescheides
nach § 44 Abs. 2 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches). Offenkundigkeit ist hierbei nach Auffassung des Senats nur dann
anzunehmen, wenn die für die Feststellung erforderlichen Voraussetzungen aus der Sicht eines unbefangenen, sachkundigen Beobachters
nach Prüfung der objektiv gegebenen Befundlage ohne weiteres deutlich zu Tage treten.
Die vorstehend beschriebenen Anforderungen an eine rückwirkende Feststellung eines GdB von 100, hilfsweise 50, für die Zeit
ab dem 1. Mai 2000 sind im Fall des Klägers nicht erfüllt. Der Kläger hat zwar ein besonderes Interesse an einer früheren
Feststellung jedenfalls insoweit glaubhaft gemacht, als ihm nach § 236 a des Sechsten Buches des Sozialgesetzbuches eine abschlagsfreie
Altersrente für schwerbehinderte Menschen zustehen würde, wäre seine Schwerbehinderteneigenschaft bereits zum 16. November
2000 festgestellt. Es fehlt jedoch an einem offenkundigen Fall, weil medizinische Befunde, aus denen sich die Voraussetzungen
für die vom Kläger begehrte Feststellung deutlich entnehmen ließen, für die Zeit vor dem Monat April 2002 weder vorliegen
noch ermittelbar sind. Letzteres ergibt sich für den Senat aus den Angaben des Klägers selbst sowie vor allem den Attesten
der Internistinnen Dr. P und Dr. L vom 25. April 2007. Denn danach sind hier entweder nur ganz pauschale Aussagen darüber
möglich, dass der Kläger bereits in der Zeit ab dem 1. Mai 2000 unter vereinzelt aufgetretenen Teerstühlen sowie unter starken
Symptomen einer Anämie und unter Kraftlosigkeit gelitten hat (vgl. das Attest von Dr. P sowie den Beweisantrag des Klägers),
oder es können nur Rückschlüsse aus Befunden aus der Zeit ab April 2002 gezogen werden (vgl. das Attest von Dr. L), was -
weil insoweit über eine einfache Prüfung hinausgehende Bewertungen vorzunehmen sind - im Regelfall der Annahme eines offenkundigen
Falls im oben genannten Sinne entgegensteht. Anhaltspunkte dafür, dass hier ausnahmsweise etwas anderes gelten könnte, weil
die späteren Befunde so eindeutig sind, dass sie ohne weiteres nur den Rückschluss auf die Richtigkeit der Behauptungen des
Betroffenen zulassen, liegen entgegen der Auffassung des Klägers hier schon deshalb nicht vor, weil die Befundlage für die
Zeit ab April 2002 auf einem völlig neuen Sachverhalt, nämlich der Entfernung des GIST-Tumors, fußt. Eine eindeutige Aussage
zu den Befunden in der Zeit von Mai 2000 bis März 2002 lässt sich damit nicht treffen.
Vor diesem Hintergrund musste der Senat im Fall des Klägers in weitere Ermittlungen nicht eintreten. Insbesondere musste er
den vom Kläger in der mündlichen Verhandlung gestellten Beweisanträgen nach §
106 SGG und §
109 SGG nicht folgen, weil sie - wie der Beweisantrag zu 1. - nur vage Tatsachenbehauptungen zum Inhalt haben, aus denen sich konkrete
Funktionsbeeinträchtigungen nicht ableiten lassen, bzw. - wie der Beweisantrag zu 2. - auf die Einholung eines Rückschlussgutachtens
zielen, auf das es bei der Prüfung der Frage, ob ein offenkundiger Fall gegeben ist, gerade nicht ankommen kann. Zudem war
dem Beweisantrag zu 1. nicht nachzukommen, weil das sozialgerichtliche Verfahren eine Parteivernehmung nicht kennt. Dass der
Kläger Arzt ist, ändert hierbei an dem Charakter seiner Vernehmung als Partei nichts. Dem Beweisantrag zu 2. war überdies
nicht zu folgen, weil sich dieser Antrag mit dem Vorbringen des Klägers im Übrigen nicht in Übereinstimmung bringen lässt.
Denn mit diesem Antrag soll bewiesen werden, dass sich der Gesundheitszustand des Klägers in der Zeit von Mai 2000 bis April
2002 nicht signifikant verändert hat. Demgegenüber gehen die sonstigen Ausführungen des Klägers dahin, dass sich seine Tumorerkrankung
im Laufe der Zeit stetig weiterentwickelt hat.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG und entspricht dem Ausgang des Rechtsstreits in der Sache selbst. Die mit dem Widerspruchsbescheid vom 23. August 2007 getroffene
Kostenentscheidung war hierbei unangetastet zu lassen, weil der Beklagte hiermit eine den Kläger teilweise begünstigende Regelung
getroffen hat, an der er sich festhalten lassen muss.
Die Revision war nach §
160 Abs.
2 Nr.
1 SGG zuzulassen, weil der Frage, ob und gegebenenfalls inwieweit und unter welchen Voraussetzungen ein Antrag auf Feststellung
des GdB Rückwirkung entfalten kann, grundsätzliche Bedeutung zukommt.