Unfallversicherung
Arbeitsunfallkausalität
Tätlicher Angriff am Arbeitsplatz
Persönliche Motive
Amokfahrt in Blumenladen
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt die Feststellung, dass es sich bei einem Ereignis vom 13. November 2009 um einen Arbeitsunfall im Sinne
der gesetzlichen Unfallversicherung gehandelt hat.
Die 1964 geborene Klägerin, die bis 2003 mit dem 1941 geborenen Herrn W S (im Folgenden: S.) verheiratet gewesen war, war
am genannten Tag in dem ihr gehörenden Blumenstand R Straße Ecke M in B tätig. Bei dem Blumenstand handelte es sich um einen
offenen Metallcontainer mit einem davor befindlichen Holzanbau. Gegen 12.00 Uhr mittags fuhr S. mit einem gemieteten 3,5 t
LKW DB Pritschenwagen gezielt in das Geschäft hinein, wobei er die Klägerin schwer verletzte. Die vor Ort von der Polizei
befragten Zeugen Z, Kund S gaben ausweislich des Erstberichtes des Kriminalhauptkommissars (KHK) S (Aktenzeichen (Az.) des
Polizeipräsidenten in Berlin Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft Az 1 K Js ...) an, dass der von S. geführte Transporter
ungebremst und offensichtlich zielgerichtet in das Blumengeschäft gefahren sei. Gegenüber dem Polizeikommissar (PK) S gab
S. ausweislich von dessen Bericht in der Strafanzeige vom selben Tag im Rettungstransportwagen der Feuerwehr spontan an, dass
er sich durch den Unfall habe das Leben nehmen wollen, außerdem habe er bereits seiner derzeitigen Ehefrau etwas angetan.
Die daraufhin in einer Gartenkolonie in einer dem Ehepaar gehörenden Gartenlaube aufgefundene seinerzeitige Ehefrau des S.
wurde schwerverletzt u. a. mit Stichverletzungen in beiden Augen und einer Fraktur des linken Oberarmes aufgefunden.
Der nur leicht verletzte S. wurde sodann in einem Behandlungszimmer der Rettungsstelle des V-Klinikums "" durch den ihn dort
bewachenden Beamten Polizeiobermeister (POM) H festgenommen. Diesem und dem behandelnden Arzt Dr. B gegenüber gab S. an, dass
er sich habe das Leben nehmen wollen, dieses habe er bereits seit 2 Wochen geplant. Weiter gab er an, mit einem gemieteten
Lkw in einen Blumenhandel gefahren zu sein, dort habe seine Exfrau gearbeitet, welche er habe töten wollen (zeugenschaftliche
Äußerung des POM H vom 14. November 2009). Nach einem Bericht über die Erstbefragung des Beschuldigten S. am Tag der Tat durch
Kriminaloberkommissar (KOK) M gab S. an, vor zwei Wochen etwas erfahren zu haben, seitdem habe er nicht mehr geschlafen und
nur noch getrunken. Er habe dann überlegt, sich das Leben zu nehmen. Nach dem Angriff auf seine seinerzeitige Ehefrau sei
er zum Blumenstand seiner Ex-Frau gefahren und habe überlegt, bei seinem Vorhaben, sich selbst das Leben zu nehmen, diese
Ex-Frau "mitzunehmen", also umzubringen. Da er keine unbeteiligten Personen habe verletzen wollen, habe er zweimal am Blumenstand
vorbei fahren müssen und erst beim dritten Mal, als kein Fußgänger und kein Fahrradfahrer seinen Weg gestört habe, in den
Blumenstand rein fahren können.
Der Lebensgefährte der Klägerin, Herr K, gab nach einem Bericht des KOK L vom 13. November 2009 in einer Befragung an, dass
die Klägerin seit etwa 5 bis 6 Jahren von S. geschieden sei, beide seien aber etwa seit dem Jahre 2000 getrennt gewesen. S.
und die Klägerin hätten seit mehreren Jahren keinen Kontakt mehr miteinander gehabt. Wenn sich die Klägerin zum Zeitpunkt
des Einschlages an der üblichen Stelle des Arbeitstisches befunden gehabt hätte, wäre sie vom Fahrzeug vermutlich frontal
erfasst worden. Aufgrund der baulichen Begebenheiten der Verkaufsbude sei es für einen Fahrzeugfahrer beim Annähern jedoch
nicht ersichtlich, wo sich die Verkäuferin gerade befinde, da dem eigentlichen Verkaufsbereich noch eine Plane vorgelagert
gewesen sei. Der Verkaufsstand werde an 7 Tagen in der Woche durch die Klägerin betrieben, lediglich am Abend springe gelegentlich
ausnahmsweise eine Aushilfskraft ein. Dies sei S. bekannt gewesen. Zum Hintergrund der Tat befragt gab Herr K an, dass S.
die Klägerin seit Jahren terrorisiere. Dies sei in Form von Drohbriefen erfolgt, die jedoch keine konkreten Gewaltandrohungen
beinhaltet hätten. Weiter berichtete er, den Blumenladen vor etwa 6 Jahren selbst übernommen und vollkommen neu aufgebaut
zu haben. Seinerzeit sei es zu einem Diebstahl durch S. in dem Blumengeschäft gekommen, infolgedessen eine Anzeige gegen ihn
erstattet worden sei, was S. der Klägerin nie verziehen habe. Vermutlich habe S. nicht damit leben können, dass seine Ehefrau
gutes Geld verdiene und er selbst nur von Hartz IV lebe.
Am 14. November 2009 erfolgte eine weitere förmliche Beschuldigtenvernehmung des S. durch KOK Mund KOK L. Erneut schilderte
S., den Angriff auf den Blumenstand zwei Mal abgebrochen zu haben, weil zuerst Fußgänger und beim zweiten Mal ein Radfahrer
im Weg gewesen seien. Beim dritten Mal habe er dann keinen mehr gesehen und sei dann in den Blumenstand rein gefahren. Auf
die Frage, woher er gewusst habe, dass seine Ex-Frau im Blumenladen sei, antwortete er: "Die ist jeden Tag da". Weitergehende
(vorliegend relevante) Angaben machte er nicht.
Die Klägerin gab in einer Vernehmung als Zeugin durch die KK'in D und KOK'in N vom 16. November 2009 an, S. seit der Scheidung
im Jahre 2003 nicht mehr gesehen und seither auch nichts mehr von ihm gehört zu haben. Drohungen seitens des S. habe es jedoch
ständig gegeben. Bereits während der Ehe habe er ihr gegenüber gesagt, dass er sie umbringen würde, dies habe er sehr oft
gesagt. Er habe sie auch oft geschlagen. Es habe auch bereits eine Situation gegeben, in der sie gedacht habe, dass er sie
umbringen würde und sie wirklich Angst um ihr Leben gehabt habe. Er habe im Zusammenhang mit den Drohungen ihr gegenüber auch
gesagt, dass es niemand merken würde, wenn er sie umbringe, weil er sie dann im Garten der Laube einbuddeln würde. Ihre Kinder
habe er auch oft geschlagen.
Die KK'in D vernahm in der Folgezeit noch den Sohn des S. aus erster Ehe M S. Aus dem hierüber gefertigten Bericht vom 19.
November 2009 ist zu entnehmen, dass dieser selbst einen Blumenstand betreibe, den er vor ca. 5 Jahren von seinem Vater übernommen
gehabt habe.
Am 18. November 2009 nahm sich S. in seiner Haftzelle der JVA M das Leben. Das Ermittlungsverfahren der Polizei wurde daraufhin
eingestellt.
Ebenfalls am 18. November 2009 erstattete der Lebensgefährte der Klägerin Herr K bei der Beklagten eine Unfallmeldung. Die
Beklagte führte mit der Klägerin im Krankenhaus N am 04. Dezember 2009 ein Gespräch. Hier ist wiedergegeben, dass die Klägerin
ihren früheren Ehemann als gewalttätig beschrieben und es für vorstellbar gehalten habe, dass ein erneuter Beziehungskonflikt
zwischen S. und seiner jetzigen Ehefrau Anlass für einen solch großen Hass auf alle philippinischen Frauen ausgelöst und zur
Tat geführt habe.
Nach Einsichtnahme in die Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft Berlin lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 14. Dezember
2009 die Gewährung von Entschädigungsleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung ab, da das persönliche Tatmotiv des
S. allein rechtlich wesentliche Ursache des Unfalls gewesen sei. Den hiergegen erhobenen Widerspruch, mit dem vorgetragen
wurde, dass ein Tatmotiv gegenüber der Klägerin nicht erkennbar sei, S. habe nicht die Absicht gehabt, bei seinem Suizid eine
andere Person zu schädigen und sich auch nicht vergewissert, dass die Klägerin in dem Blumenstand gewesen sei, wies die Beklagte
mit Widerspruchsbescheid vom 29. April 2010 zurück.
In einem öffentlichen Erörterungstermin vom 21. Februar 2011 hat das Sozialgericht Berlin die Klägerin zur Sache gehört und
ihren Lebensgefährten K als Zeugen vernommen. Diesbezüglich wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen. Die Klägerin gab
hier an, dass seit dem Jahre 1996 sowohl sie als auch S. einen Blumenstand betrieben gehabt hätten. Nach der Trennung habe
S. seinen Blumenstand aufgegeben, sie habe den ihren nach wie vor mit gewissem wirtschaftlichem Erfolg fortgeführt. Seit der
Scheidung bzw. Trennung im Jahre 2002 habe sie zu S. keinen Kontakt mehr gehabt.
Mit Urteil vom 22. Februar 2011 hat das Sozialgericht Berlin den Bescheid der Beklagten vom 14. Dezember 2009 in der Fassung
des Widerspruchsbescheides vom 29. April 2010 aufgehoben und festgestellt, dass das Ereignis vom 13. November 2009 ein Arbeitsunfall
im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung gewesen sei. Zur Begründung ist ausgeführt, dass es nach der ständigen Rechtsprechung
des Bundessozialgerichts (BSG) bei der Frage, ob ein Überfall als Arbeitsunfall anzusehen sei, in der Regel entscheidend auf die Beweggründe des Angreifers
ankomme. Allerdings sei der innere Zusammenhang zwischen dem Unfallereignis und der versicherten Tätigkeit von vornherein
grundsätzlich gegeben, sofern sich der Versicherte im Zeitpunkt der Gewalttat in seiner Arbeitsstätte befunden habe. Dieser
Zusammenhang verliere nur dann an Bedeutung, wenn die Beweggründe des Angreifers dem persönlichen Bereich der Beteiligten
zuzurechnen seien. Die Versagung des Versicherungsschutzes komme dann in Betracht, wenn der Versicherte einem gegen seine
Person gerichteten geplanten Anschlag zum Opfer gefallen sei und alle möglichen Tatmotive des Täters ausschließlich im Zusammenhang
mit dem persönlichen Bereich des Versicherten und dortigen Auseinandersetzungen zu suchen seien, so dass ein betriebsbezogenes
Motiv fehle.
Eine solche Eingrenzung der denkbaren Tatmotive sei im vorliegenden Fall aber nicht möglich. Zwar sprächen einige Umstände
für ein persönliches Motiv des Täters. Andererseits habe nach den Angaben der Klägerin und des Zeugen K nach der Scheidung
der Klägerin von S. im Jahre 2003 kein Kontakt mehr zu S. bestanden. Auch sprächen Anhaltspunkte für ein berufsbezogenes Motiv
des Anschlages, da der Täter vor seiner Scheidung einen weiteren Blumenstand in der Nähe des Standes der Klägerin betrieben
habe; nach der Trennung habe lediglich die Klägerin ihren Blumenstand weitergeführt, während ihr ehemaliger Ehemann den seinen
habe aufgeben müssen. Die frühere Aussage, dass S. vermutlich nicht damit habe leben können, dass seine Exfrau gutes Geld
verdiene und er selbst nur von Hartz IV lebe, habe der Zeuge K im Erörterungstermin zwar nicht mehr bestätigen können, die
Kammer messe allerdings den zeitnahen und spontanen Angaben des Zeugen gegenüber dem vernehmenden Polizeibeamten am Tag der
Tat besondere Bedeutung zu. Vor diesem Hintergrund liege es im Bereich des Möglichen, dass das Motiv des Täters für die Fahrt
in den Blumenstand der Klägerin Missgunst und Neid auf ihren relativen wirtschaftlichen Erfolg gewesen sei. Weiterhin spräche
für ein berufsbezogenes Motiv, dass es im Jahre 2002 zu einem Diebstahl des S. in dem Blumenstand gekommen sei, der Täter
habe die Klägerin also wirtschaftlich schädigen wollen. Die Klägerin habe zwar selbst im Erörterungstermin geäußert, dass
sie nicht davon ausgehe, dass S. ihr diese Anzeige nachhaltig verübelt gehabt habe; allerdings bleibe auch diese Annahme spekulativ.
Schließlich müsse in Überlegungen zur Motivlage auch der Umstand einbezogen werden, dass durch den Anschlag auf die Klägerin
die Grundlage ihrer wirtschaftlichen Existenz vernichtet worden sei. Indem S. in den Blumenstand gerast sei, habe er diesen
verwüstet und zerstört. Dieses Taterfolges habe er sich gewiss sein können. Es bleibe also die denkbare Möglichkeit, dass
es dem Kläger zuvorderst darauf angekommen sei, die Klägerin in ihrer wirtschaftlichen Existenz zu berauben und die Vernichtung
ihrer physischen Existenz nur als Nebenfolge einkalkuliert worden sei. Selbst wenn man von einer Tötungsabsicht des S. ausgehe,
bliebe angesichts der gleichzeitigen und gezielten Vernichtung der wirtschaftlichen Existenz der Klägerin die Möglichkeit
eines berufsbezogenen Motivs für den Tötungsversuch. Letztlich ergebe sich kein konkretes Tatmotiv. Es ergäben sich Hinweise
sowohl auf eine Beziehungstat als auch auf eine Tat im Zusammenhang mit der beruflichen Tätigkeit der Klägerin. Die Nichterweislichkeit
eines ausschließlich persönlichen Tatmotivs gehe vorliegend zu Lasten der Beklagten, da sie bei der gegebenen Sachlage die
objektive Beweislast hierfür trage.
Gegen dieses ihr am 22./23. Februar 2011 und am 25. Februar 2011 in einer korrigierten Fassung erneut zugegangene Urteil richtet
sich die am 16. März 2011 eingegangene Berufung der Beklagten. Die Beklagte trägt vor, dass alle vorliegenden Umstände für
eine persönlich motivierte Tat sprächen. Die Beweggründe des Täters seien rein persönlicher Art gewesen. Hierfür spräche allein
schon der Zusammenhang der Tat mit dem zuvor versuchten Mord an der Ehefrau des S. Nach Beendigung von schwersten und lebensbedrohlichen
Misshandlungen an dieser habe sich S. zielgerichtet seiner geschiedenen Ehefrau, der Klägerin, zugewandt mit der Absicht,
diese zu töten. Der Kläger habe für seine geplante Tat einen Kleintransporter gemietet, um - wie geschehen - in den Blumenladen
der Klägerin zu rasen. Eine reine Selbsttötung hätte er ebenso und sicherer an anderer Stelle erreicht. Er habe jedoch unmittelbar
nach der Tat gegenüber dem Polizeiobermeister (POM) H geäußert, seine geschiedene Ehefrau hierbei "mitnehmen" zu wollen. Diese
von S. selbst geäußerte Motivlage sei erstinstanzlich nicht berücksichtigt worden. Dies habe im Übrigen auch der Lebensgefährte
der Klägerin, der Zeuge K, ebenso gesehen, als er direkt nach der Tat gegenüber der Presse geäußert habe, dass S. die Klägerin
seit Jahren terrorisiert habe und von einem Mordanschlag aus den Motiven Neid und wirtschaftlicher Missgunst ausgegangen sei.
Im Übrigen verkenne das Sozialgericht, dass auch die Motive Neid, wirtschaftliche Missgunst und Rache sich nicht gegen den
Blumenstand an sich, sondern persönlich gegen die Klägerin gerichtet hätten. Allein aufgrund des persönlichen Tatmotivs des
Täters sei es zum versuchten Mord an der Klägerin gekommen. Aufgrund der Kenntnis der Täters vom Wohnort und der Lebensumstände
der Klägerin hätte die Tat auch andersartig und an einem anderen Ort ausgeführt werden können.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 22. Februar 2011 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Klägerin trägt vor, dass S. nicht habe wissen können, ob sie sich in dem Blumenstand befunden habe und nicht möglicherweise
eine Aushilfe. S. habe sich in einem Ausnahmezustand befunden. Die vorangegangene Tat an der seinerzeitigen Ehefrau legte
den Entschluss zur Selbsttötung aufgrund absoluter Perspektivlosigkeit nahe. Eine direkte, verwertbare Aussage über eine Tötungsabsicht
gegenüber der Klägerin habe S. nicht gemacht. Auch aus den Äußerungen des Zeugen Kkönne die Beklagte nichts für sich herleiten.
Leistungen nach dem
Opferentschädigungsgesetz seien bislang nicht beantragt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Schriftsätze der Beteiligten und den
sonstigen Inhalt der Gerichtsakte dieses Verfahrens sowie auf den Inhalt der Akten des Landesamtes für Gesundheit und Soziales,
Versorgungsamt, den Inhalt der Verwaltungsakte der Beklagten und den Inhalt der Akte der Staatsanwaltschaft Berlin, Aktenzeichen
1 KAP Js ..., welche beigezogen und Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Beratung waren.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung der Beklagten ist zulässig und in der Sache begründet. Das erstinstanzliche Urteil des Sozialgerichts Berlin
vom 22. Februar 2011 ist rechtswidrig und daher aufzuheben. Der Bescheid der Beklagten vom 14. Dezember 2009 in der Fassung
des Widerspruchsbescheides vom 29. April 2010 war hingegen rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten, so
dass die hiergegen gerichtete Klage abzuweisen war. Denn bei dem Angriff von S. am 13. November 2009 handelte es sich nicht
um einen Arbeitsunfall im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung.
Rechtsgrundlage für die Anerkennung eines Unfalls als Arbeitsunfall ist §
8 SGB VII. Nach §
8 Abs.
1 Satz 1
SGB VII sind Arbeitsunfälle Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§
2,
3 oder 6
SGB VII begründenden Tätigkeit. Unfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden
oder zum Tod führen (§
8 Abs.
1 Satz 2
SGB VII). Für einen Arbeitsunfall ist danach in der Regel erforderlich, dass die Verrichtung des Versicherten zur Zeit des Unfalls
(bzw. kurz davor) der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist (innerer bzw. sachlicher Zusammenhang), diese Verrichtung zu
dem zeitlich begrenzten, von außen auf den Körper einwirkenden Ereignis - dem Unfallereignis - geführt hat (Unfallkausalität)
und dass das Unfallereignis einen Gesundheitserstschaden oder den Tod des Versicherten verursacht hat (haftungsbegründende
Kausalität); das Entstehen von länger andauernden Unfallfolgen aufgrund des Gesundheitserstschadens (haftungsausfüllende Kausalität)
ist keine Voraussetzung für die Anerkennung eines Arbeitsunfalls, sondern für die Gewährung einer Verletztenrente (BSG, Urteil vom 30. Januar 2007, Az.: B 2 U 23/05 R, Urteil vom 17. Februar 2009, Az.: B 2 U 18/07 R, BSG, Urteil vom 15. Mai 2012, Az. B 2 U 16/11 R, zitiert jeweils nach juris, m.w.N.). Dabei müssen die versicherte Tätigkeit, der Arbeitsunfall und die Gesundheitserstschädigung
im Sinne des "Vollbeweises", also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachgewiesen werden, während für den ursächlichen
Zusammenhang als Voraussetzung der Entschädigungspflicht, der nach der auch sonst im Sozialrecht geltenden Lehre von der wesentlichen
Bedingung zu bestimmen ist, grundsätzlich die (hinreichende) Wahrscheinlichkeit - nicht allerdings die bloße Möglichkeit -
ausreicht (ständige Rechtsprechung, vgl. nur BSG, Urteil vom 02. Mai 2001, Az.: B 2 U 16/00, zitiert nach juris.de).
Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben handelte es sich bei dem Ereignis vom 13. November 2009 nicht um einen Arbeitsunfall
im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung. Zwar stand die Klägerin im Zeitpunkt des Angriffes auf sie am genannten Tag
unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung, da sie sich als versicherte Unternehmerin zum Zeitpunkt des Überfalls
an ihrer Arbeitsstätte, einem Mitgliedsbetrieb der Beklagten, befand. Ein Unfallereignis im Sinne eines zeitlich begrenzten
von außen auf den Körper einwirkenden Ereignisses lag ebenfalls vor. Allerdings fehlt es an der erforderlichen so genannten
Unfallkausalität, also der Kausalität zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Unfallereignis.
Dieser Unfallversicherungsschutz entfällt nicht schon deshalb, weil die Versicherte einem Überfall, also einem vorsätzlichen
Angriff, zum Opfer gefallen ist. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts kommt es vielmehr bei der Frage,
ob ein Überfall als Arbeitsunfall anzusehen ist, in der Regel entscheidend auf die Beweggründe des Angreifers an (BSG Urteil vom 30. Juni 1998, Az. B 2 U 27/97 R, m. w. N., zitiert nach juris; siehe auch Brackmann/Krasney, Handbuch der Sozialversicherung, Gesetzliche Unfallversicherung,
SGB VII, 12. Aufl., §
8 RdNr. 171, unter dem Stichwort "Überfall" und Ricke in Kasseler Kommentar, §
8 SGB VII, Rdnr. 119 ff., jeweils m. w. N. aus Schrifttum und Rechtsprechung, vgl. auch die umfangreiche Rspr.-Übersicht im erstinstanzlichen
Urteil). Dies bedeutet auch - wie auch erstinstanzlich bereits umfassend dargelegt - nicht, dass es unbedingt eines betriebsbezogenen
Tatmotivs bedarf, um den inneren Zusammenhang zwischen dem Überfall als Unfallereignis und der versicherten Tätigkeit herzustellen.
Denn dieser Zusammenhang ist nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts von vornherein grundsätzlich gegeben, sofern
sich der Versicherte in seiner Arbeitsstätte befunden hat, wo im fraglichen Zeitpunkt eine zur Gewalttat entschlossene Person
seiner habhaft werden kann. Dieser Zusammenhang verliert nur dann an Bedeutung, wenn die Beweggründe des Angreifers dem persönlichen
Bereich der Beteiligten zuzurechnen sind. Dann bedeutet das Antreffen des Versicherten an der Arbeitsstätte oft nur eine von
vielen Gelegenheiten für den Angreifer, die verfeindete Person zu überfallen, die ihm genauso gut zu anderer Zeit an anderer
Stelle erreichbar gewesen wäre. Mit der Erwägung, dass in diesen Fällen die betriebsfremden Beziehungen zwischen Täter und
Versichertem vorherrschen und den Zusammenhang des Überfalls mit der versicherten Tätigkeit als rechtlich unwesentlich zurückdrängen,
rechtfertigt sich in solchen Fällen die Versagung des Unfallversicherungsschutzes (BSG Urteil vom 30. Juni 1998, Az. B 2 U 27/97, zitiert nach Juris; BSG Urteil vom 29. Mai 1962, Az. 2 RU 95/79, BSGE 17, 75, 77 m. w. N.; Hessisches Landessozialgericht Urteil vom 12. Februar 2008, Az. L 3 U 82/06, zitiert nach Juris; Sächsisches Landessozialgericht Urteil vom 22. Juni 2006, Az. L 2 U 146/03, zitiert nach Juris; Sächsisches Landessozialgericht Urteil vom 10. Juli 2003, Az. L 2 U 97/01, zitiert nach Juris).
Vorliegend steht fest, dass die Beweggründe des S. für seinen Angriff auf die Klägerin und den Blumenstand vom 13. November
2009 ausschließlich im privaten Bereich der beteiligten Personen, also des S. und der Klägerin, lagen mit der Folge, dass
der Zusammenhang des Überfalls mit der versicherten Tätigkeit der Klägerin als rechtlich unwesentlich zurückgedrängt wird.
Dies folgt aus dem Gesamtergebnis der Ermittlungen der Polizei und Staatsanwaltschaft und den eigenen, zeitnah gemachten Angaben
der Klägerin sowie aus den die Tat umgebenden Gesamtumständen. Zunächst einmal hatte S. in den drei Vernehmungen durch die
Polizei jeweils ganz klar ausgesagt, dass sein Angriff sich gegen die Klägerin richten sollte. So hat er in seiner Vernehmung
unmittelbar nach dem angeschuldigten Ereignis ausweislich der zeugenschaftlichen Äußerung des POM H vom 14. November 2009
erklärt, dass er die Klägerin habe töten wollen. In seiner Erstbefragung als Beschuldigter am Tag der Tat durch Kriminaloberkommissar
(KOK) M deutete S. zudem ein persönliches Motiv an, welches er allerdings nicht weiter ausführte; er gab an, vor zwei Wochen
etwas erfahren zu haben, an dem seine seinerzeitige Ehefrau "schuld" gewesen sei; seitdem habe er nicht mehr geschlafen und
nur noch getrunken. Er habe dann überlegt, sich das Leben zu nehmen. Nach dem Angriff auf seine seinerzeitige Ehefrau sei
er zum Blumenstand seiner Ex-Frau gefahren und habe überlegt, bei seinem Vorhaben, sich selbst das Leben zu nehmen, diese
Ex-Frau "mitzunehmen", also umzubringen. Weiter schilderte S. dezidiert, sich vor der Tat zunächst vergewissert zu haben,
dass keine anderen Personen durch seinen Angriff geschädigt würden. Zweimal habe er den geplanten Angriff abgebrochen und
sei zunächst die Straße weiter entlang gefahren, um weder herumstehende Leute noch beim zweiten Mal einen sich dort befindlichen
Radfahrer zu schädigen. Erst beim dritten Mal sei er dann in den Blumenstand rein gefahren. In einer förmlichen Beschuldigtenvernehmung
durch KOK Mund KOK L vom 14. November 2009 gab S. ausweislich des hierüber gefertigten und von S. unterzeichneten Protokolls
erneut an, zunächst zwei Anläufe des Angriffes "abgeblasen" zu haben, um keine unbeteiligten Personen zu schädigen, beim dritten
Mal habe er niemand mehr gesehen und sei dann rein gefahren. Er habe gewusst, dass seine Ex-Frau jeden Tag in diesem Blumenladen
gewesen sei. Auch wenn er auf die ausdrückliche Frage nach einer Tötungsabsicht antwortete, jetzt keine Angaben hierzu zu
machen, ergibt sich jedoch aus der Gesamtdarstellung des von ihm zielgerichtet auf die Klägerin ausgeführten Angriffes, dass
es ihm entweder auf die Tötung der Klägerin oder aber jedenfalls auf deren massive Schädigung angekommen war. Dies ist entgegen
der Ansicht der Klägerin auch nicht etwa deshalb anders zu bewerten, weil sich S. zuvor nicht gesondert vergewissert hatte,
dass die Klägerin tatsächlich im Laden war. Denn S. ging hiervon aus, weil die Klägerin sich nach seiner Kenntnis jeden Tag
in dem Laden aufhielt; es reicht aus, dass S. in der offensichtlich festen Annahme war, die Klägerin mit seinem Angriff zu
treffen. Insgesamt erschließt sich als Motiv und Beweggrund des S. damit vor allem ein massiver Schädigungswunsch gegenüber
seiner geschiedenen Frau. Irgendein betriebsbezogenes Tatmotiv war hingegen nicht ersichtlich.
Die Protokolle der genannten Beschuldigtenvernehmungen konnten im Wege des Urkundsbeweises wie geschehen verwertet werden.
Dem stand der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweiserhebung mit einer Verpflichtung zur eigenen Beweisaufnahme bereits
deshalb nicht entgegen, weil eine eigene Vernehmung des S. durch das Gericht aufgrund von dessen Selbstmord nicht mehr möglich
war. Im Übrigen bestehen auch grundsätzlich gegen die Verwertung mittelbar erlangter Beweistatsachen in der Regel keine rechtlichen
Bedenken, wenn nicht ein Beteiligter die unmittelbare Vernehmung des Zeugen beantragt (BSG, Urteil vom 08. September 2010, Aktenzeichen B 11 AL 4/09 R, zitiert nach juris, m.w.N.). Das Gericht darf deshalb in Strafverfahren erzielte Beweisergebnisse im Wege des Urkundsbeweises
gemäß §
118 Abs.
1 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) i. V. m. §§
415 ff.
Zivilprozessordnung (
ZPO) durch Beiziehung der dortigen Akten verwerten (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 16. Dezember 2004, Aktenzeichen B 9 VS 1/04 R, zitiert nach juris). Insbesondere dann, wenn die erneute Vernehmung etwa eines Zeugen aus gesundheitlichen Gründen nicht
möglich ist, stehen der Verwertung auch von Zeugenaussagen aus staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren im Wege des Urkundsbeweises
keine Bedenken entgegen (BSG, Beschluss vom 12. April 2000, Aktenzeichen B 9 VG 11/99 B, zitiert nach juris). Der Widerspruch eines Beteiligten gegen die Verwertung des Inhalts beigezogener Akten allein hindert
das Gericht nicht, diesen Inhalt im Wege des Urkundsbeweises zu berücksichtigen, da die Zustimmung der Beteiligen hierzu nicht
erforderlich ist (BSG, Urteil vom 21. Oktober 1998, Aktenzeichen B 9 VG 6/97 R, zitiert nach juris, m. w. N.). Dabei ist allerdings der geringere Beweiswert des sachferneren Beweismittels zu berücksichtigen.
Auch unter Berücksichtigung dieser Grundsätze steht für das Gericht fest, dass die Beweggründe des S. für seinen Angriff auf
die Klägerin ausschließlich in deren persönlichem Bereich lagen. Bedenken gegen eine Verwertung der Aussagen des S. bestanden
nicht, insbesondere bestand insoweit kein Zweifel an der Glaubhaftigkeit seiner Aussage. Auch widersprüchliche Aussagen zum
Vorgang an sich existieren nicht. Eine Vernehmung der die Protokolle aufnehmenden Polizeibeamten war nicht beantragt worden,
aufgrund des zwischenzeitlichen Zeitablaufes war auch nicht davon auszugehen, dass sich hier ein genaueres Bild über die Aussagen
des S. hätte ergeben können.
Die Einwände der Klägerin und die anderslautenden Ausführungen im erstinstanzlichen Urteil konnten hingegen nicht überzeugen.
Unerheblich war, dass die Klägerin mit S. seit ihrer Scheidung im Jahre 2002 oder 2003 keinen Kontakt mehr gehabt haben mag;
lediglich aufgrund des (hier auch noch relativ geringen) Zeitablaufs nach einer Trennung werden frühere Lebenspartner auch
bei Fehlen weiterer Kontakte angesichts der gemeinsamen Vergangenheit regelmäßig nicht wieder zu einander "neutral" eingestellten
Personen; dies gilt erst recht, wenn es - wie vorliegend - gemeinsame Kinder gibt. Zudem gab die Klägerin in einer Vernehmung
als Zeugin gegenüber den KK'in D und KOK'in N vom 16. November 2009 an, zwar S. seit der Scheidung im Jahre 2003 nicht mehr
gesehen und seither auch nichts mehr von ihm gehört zu haben; Drohungen seitens des S. habe es jedoch ständig gegeben.
Auch soweit das Gericht erstinstanzlich versucht hat auszuführen, dass Neid auf den wirtschaftlichen Erfolg der Klägerin ein
Motiv gewesen sein mag, führt dies zu keinem anderen Ergebnis. Zunächst einmal gab es aufgrund der Aussagen des S. nach der
Tat nicht den geringsten Anhaltspunkt für ein solches Motiv des S., weshalb der entsprechenden erstinstanzlichen Unterstellung
nicht gefolgt werden kann. Abgesehen davon wäre auch ein solches Motiv ein ausschließlich persönliches Motiv, welches seine
Bedeutung nicht dadurch verlieren würde, dass S. die Klägerin an ihrem Arbeitsplatz aufgesucht und angegriffen hat. Nichts
Abweichendes folgt aufgrund des Umstandes, dass S. vor seiner Scheidung von der Klägerin ebenfalls einen Blumenstand geführt
hatte. Die erstinstanzliche Darstellung, dass er diesen Blumenstand habe aufgeben müssen, trifft dabei insoweit zu kurz, als
nach der Aussage des polizeilich vernommenen Sohnes des S., M S., dieser den Blumenstand des Vaters seinerzeit übernommen
hatte. Aber auch hier gilt, dass die möglicherweise aus diesen Umständen resultierende persönliche Missgunst des S. ein ausschließlich
persönliches Motiv dargestellt hätte.
Nichts anderes gilt für die seitens der Klägerin geschilderte Begebenheit, wonach S. ihr ca. im Jahre 2002 einmal Blumen gestohlen
und sie dies zur Anzeige gebracht hatte. Ausweislich der Angaben im Tatbestand des erstinstanzlichen Urteils hatte die Klägerin
selbst bei ihrer Aussage vor dem Sozialgericht diesen kleinen Vorfall nicht für bedeutsam im Zusammenhang mit dem vorliegenden
Tatgeschehen erachtet. Weshalb entgegen den eigenen diesbezüglichen Angaben der Klägerin dann doch Spekulationen über eine
mögliche Bedeutung dieses - angesichts des Gesamtgeschehens mit erheblichen Drohungen und Gewalt sowohl über einen beträchtlichen
Zeitraum gegenüber der Klägerin als auch gegenüber der seinerzeitigen Ehefrau des S. - ausgesprochen banalen Ereignisses für
erheblich gehalten wurden, ist nicht nachvollziehbar.
Auch besondere räumliche Verhältnisse der Arbeitsstätte der Klägerin haben den Angriff des S. nicht entscheidend begünstigt.
Nach der Rechtsprechung ist jedenfalls bei Angriffen im Zusammenhang mit Wegeunfällen zu prüfen, ob besondere Verhältnisse
des Weges die Gewalttat überhaupt erst ermöglicht haben (BSG, Urteil vom 30. Juni 1998, aaO.). Es kann dahinstehen, ob diese Grundsätze bei anderen als Wegeunfällen überhaupt gelten.
Denn vorliegend sind solche besonderen Verhältnisse nicht zu erkennen. Ein Angriff mit einem Fahrzeug hätte gegenüber der
Klägerin auch auf jedem ihrer Wege und ein Angriff mit einem anderen Werkzeug auch bei jeder anderen Gelegenheit geschehen
können.
Insgesamt steht damit zur Überzeugung des Gerichts ein ausschließlich persönliches Tatmotiv des Angreifers S. fest, so dass
das Vorliegen eines Arbeitsunfalls aufgrund des Ereignisses vom 13. November 2009 nicht festgestellt werden konnte.
Nach alledem war auf die Berufung der Beklagten das erstinstanzliche Urteil daher aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf §
193 SGG, sie folgt dem Ergebnis in der Hauptsache.
Gründe für die Zulassung der Revision gemäß §
160 Abs.
2 Nr.
1 oder 2
SGG lagen nicht vor.