Voraussetzungen der Anerkennung einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) als Folge eines Arbeitsunfalls
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darum, ob als weitere Folge des Arbeitsunfalls vom 16. Januar 2017 eine Posttraumatische Belastungsstörung
(PTBS) festzustellen und die Beklagte verpflichtet ist, eine höhere sowie dauerhafte Verletztenrente über den 31. Dezember
2017 hinaus nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 40 vom Hundert (v.H.) zu gewähren.
Der am xxxxx 1957 geborene Kläger erlitt am 16. Januar 2017 während seiner Tätigkeit als Montageleiter bei der R. einen Arbeitsunfall,
als während der Beseitigung einer Störung am Förderband gegen 18:30 Uhr sein Handschuh in den Antrieb der Maschine geriet
und den Finger mitzog. Eine Arbeitskollegin drückte kurz danach den Notfallknopf, um einen weiteren Einzug in das laufende
Förderband zu verhindern. Der Kläger erlitt eine komplette offene Luxation des Grundgliedes des linken Mittelfingers und wurde
am 16. Januar 2017 mit einem Rettungswagen in die Notaufnahme des A. Klinikums in H. gebracht und stationär aufgenommen. Die
Verletzung wurde operativ und im Anschluss mit einer Gipsschiene versorgt und der Kläger am 17. Januar 2017 aus der stationären
Behandlung entlassen und ambulant weiter behandelt. Die Unfallanzeige erfolgte am 19. Januar 2017.
Bei anhaltender Schwellung des Mittelfingers und persistierenden Bewegungseinschränkungen bestand zunächst weiter Arbeitsunfähigkeit.
Ab dem 11. April 2017 fand eine Arbeits- und Belastungserprobung statt. Im Zwischenbericht vom 9. Mai 2017 des Dr. G. heißt
es: „Trotz Ergotherapie und Schienenbehandlung ist die Beweglichkeit nur gering gebessert, so dass von einer bleibenden Bewegungseinschränkung
auszugehen ist. Der UV kommt mit 6 Stunden Arbeit täglich gut zurecht, er merkt aber, dass ihn der Unfall sehr belastet und
er psychisch labil ist, sodass wir eine psychotherapeutische Behandlung für indiziert halten…“ Die Beklagte genehmigte daraufhin
probatorische Sitzungen bei einem Psychologen/ Psychotherapeuten.
Der Kläger war nach Eintritt der Arbeitsfähigkeit vom 22. Mai 2017 wieder in Vollzeit bei seinem Arbeitgeber tätig und wurde
am 8. Juni 2017 aus der ambulanten Behandlung entlassen.
Im Ersten Rentengutachten der Drs. med. G. und B. vom 11. Juli 2017 ist unfallchirurgisch eine offene Luxation im Mittelgelenk
des Mittelfingers links mit knöchernem Ausriss der palmaren Platte radial als unfallbedingter Gesundheitserstschaden festgestellt
worden. Es wurde eine MdE durch die unfallchirurgischen Folgen des Arbeitsunfalls für die Zeit vom 21. April 2017 bis zum
10. Juli 2017 von 10 v. H. festgestellt.
Im Rahmen der Feststellungen des gegenwärtigen Zustandes des Klägers wurde auch angegeben, dass der Kläger erhebliche psychische
Probleme beim Arbeiten schildere und beim Arbeiten an Maschinen über „Gänsehaut“ klage und Angst habe. Das Unfallereignis
komme wieder hoch, er sei antriebsarm und wolle manchmal nur weinen. Auf der Arbeit könne er sich noch zusammenreißen, aber
zu Hause könne er sich nicht mehr motivieren.
Der Kläger stellte sich am 21. August 2017 bei der Traumatologin Dr. F. vor. Diese stellte im Erstbericht für Psychotherapeutenverfahren
vom 23. August 2017 eine behandlungsbedürftige psychische Erkrankung fest, die die Bewilligung weiterer probatorischer Sitzungen
zur genaueren Exploration und Diagnostik erforderlich gemacht habe. Mit Folgebericht vom 5. Oktober 2017 wurden eine Anpassungsstörung
sowie eine längere depressive Reaktion diagnostiziert. Differentialdiagnostisch wurde eine PTBS mangels Vollbild der Symptomatik
ausgeschlossen. Auch die depressive Symptomatik erfüllte zum gegenwärtigen Zeitpunkt die Kriterien einer depressiven Störung
nicht.
Die Beklagte beauftragte ein psychiatrisches Zusatzgutachten durch Prof. Dr. med. N. und H1 vom 28. November 2017. Dort schilderte
der Kläger Schlafstörungen nach dem Unfall, welche sich zwei bis drei Monate nach dem Unfall und mit zunehmendem Arbeitspensum
gebessert hätten. Allgemein gingen ihm die Dinge jedoch nicht mehr so leicht von der Hand wie vor dem Unfall, seine Konzentration
habe abgenommen, er sei im Antrieb gemindert. Auch habe er gelegentlich Panikattacken mit Schweißausbrüchen, insbesondere
im Zusammenhang mit Arbeitssituationen ähnlich einer solchen wie der, die zum Unfall geführt habe. Festgestellt wurde eine
mittelgradige depressive Episode, die auf der erhöhten Vulnerabilität und teilweise auf das körperliche Trauma am Arbeitsplatz
zurückzuführen sei. Eine posttraumatische Belastungsstörung sei auszuschließen.
Im Verlaufsbericht von Dr. F. vom 7. Dezember 2017 wird eine deutliche Besserung der psychischen Befunde beschrieben, am 16.
Januar 2018 wird berichtet, dass keine subjektiven Belastungen durch den Unfall mehr vorgelegen hätten. Die Behandlung wurde
Anfang Februar 2018 beendet. Mit Abschlussbericht des Psychotherapeutenverfahrens der Dr. F. vom 5. Februar 2018 wurde in
Folge der Durchführung einer traumaspezifischen Behandlung über zehn Sitzungen wegen depressiver Folgesymptomatik eine Verbesserung
des psychologischen Zustandes des Klägers festgestellt. Der Kläger habe das Vermeidungsverhalten mit der unfallverursachenden
Maschine erfolgreich abgebaut und seine Tagesstrukturierung verbessert. Antriebsstörungen seien nicht mehr vorhanden und Flashbacks
nicht mehr erfolgt. Eine psychotische Symptomatik wurde nicht festgestellt.
Mit Bescheid vom 13. Dezember 2017 und Widerspruchsbescheid vom 15. Februar 2018 lehnte die Beklagte die Bewilligung einer
Verletztenrente mit der Begründung ab, dass die Erwerbsfähigkeit des Klägers nach Eintritt der Arbeitsfähigkeit nicht um wenigstens
20 v. H. gemindert sei. Dabei bezog sich die Beklagte auf die Gutachten der Chirurgen Dr. G. und Frau Dr. B. vom 11. Juli
2017 sowie auf das Gutachten auf psychiatrischem Fachgebiet des Prof. Dr. N. und Herrn H1 vom 28. November 2017.
Auf die hiergegen erhobene Klage hin hat das Sozialgericht Beweis erhoben durch Einholung eines unfallchirurgischen Sachverständigengutachtens
bei Dr. T.. Dr. T. hat am 27. November 2018 im Wesentlichen eine zweitgradige offene Verrenkung im körpernahen Interphalangealgelenk
des linken Mittelfingers mit knöchernem Ausriss der palmaren Platten speichenseitig, eine funktionelle Einsteifung im Mittelgelenk
des linken Mittelfingers in Beugehaltung und des linken Mittelfingerendgelenks in geringer Überstreckstellung sowie eine reizfreie
Narbenbildung an der Beugeseite des linken Mittelfingers mit ebendort beklagter Gefühlsminderung und einen inkompletten Faustschluss
links diagnostiziert und die unfallbedingte MdE unfallchirurgisch-orthopädisch mit 10 v.H. eingeschätzt. Ein kompletter Verlust
des Fingers, welcher mit einer MdE von 10 v.H. zu bewerten sei, liege beim Kläger nicht vor; eine höhere MdE als 10 v.H. liege
daher unfallchirurgisch-orthopädisch nicht vor.
Das Sozialgericht hat ferner ein neurologisch-psychiatrisches Sachverständigengutachten eingeholt, welches Dr. F1 am 16. September
2019 erstellt hat. Dort hat der Kläger geschildert, dass es etwa drei Wochen nach dem Unfall zu Ängsten gekommen sei. Er habe
häufig an den Unfall denken müssen, habe dann auch Schweißausbrüche bekommen und sein Tinnitus habe sich verschlimmert. Er
habe dann 12 oder 15 Sitzungen Traumatherapie bekommen, danach sei es wieder gegangen. Aktuell sei er nach der Arbeit „völlig
alle“, könne sich zu nichts mehr aufraffen. Das sei am Wochenende anders. Gelegentlich habe er auch noch Angstattacken. Dr.
F1 hat ausgeführt, der Kläger habe die Ereignisse durchgehend abstandsvoll geschildert, auch belastende Träume berichte der
Kläger nicht (B-Kriterium). Eine Interessenminderung und ein Entfremdungsgefühl (C-Kriterium) lasse sich nicht feststellen,
der Kläger nehme am Familienleben ungehindert teil. Auch D- und E-Kriterium seien nicht gegeben. Insgesamt sei der Kläger
affektiv durchgehend gehalten, Stimmung und Antrieb seien im Mittelbereich. Als Unfallfolgen hat Dr. F1 im Wesentlichen eine
Anpassungsstörung mit depressiver und Angstsymptomatik gemischt (ICD-10 F 43.22) diagnostiziert und die unfallbedingte MdE
nervenärztlich mit 10 v. H. maximal bis zum 5. Februar 2018, dem Ende der psychiatrischen Behandlung, eingeschätzt. Die am
16. Januar 2017 erlittene Luxation des linken Mittelfingers sei ohne neurologische Folgekomplikationen ausgeheilt. Eine PTBS
im Sinne der ICD 10 oder nach den DSM-IV TR/DSM-5 liege bei dem Kläger nicht vor. Insgesamt stelle der am 16. Januar 2017
erlittene Arbeitsunfall kein Ereignis mit außergewöhnlicher Bedrohung oder von katastrophenartigem Ausmaß dar. Unter Zugrundelegung
der eingeschätzten MdE wegen der unfallchirurgischen-orthopädischen Folgen ergebe sich eine Gesamt-MdE von 20 v. H. für einen
Zeitraum vom 21. April 2017 bis längstens zum Ende der psychotherapeutischen Behandlung am 5. Februar 2018.
Im Termin vor dem Sozialgericht am 29. November 2019 hat die Beklagte ein Teilanerkenntnis dahingehend abgegeben, dass sie
die angefochtenen Bescheide abändere und dem Kläger bis zum 31. Dezember 2017 aufgrund einer unfallbedingten Anpassungsstörung
eine Rente nach einer Gesamtminderung der Erwerbsfähigkeit von 20 v.H. gewähre. Der Kläger hat das Teilanerkenntnis angenommen
und den Rechtsstreit im Übrigen weiterverfolgt.
Mit Urteil vom 29. November 2019 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen und ausgeführt, die Erwerbsfähigkeit des Klägers
sei höchstens bis zum 31. Dezember 2017 von 20 v.H. gemindert gewesen. Die Sachverständigen T. und F1 hätten schlüssig das
Vorliegen einer offenen Luxation mit Bewegungseinschränkungen des linken Mittelfingers und eine unfallbedingte Anpassungsstörung
(ICD-10 F 43.22) diagnostiziert, die als Gesundheitsfolgen festzustellen seien.
Eine PTBS liege hingegen nicht vor. Die unfallchirurgischen und psychologischen unfallbedingten Gesundheitsschäden seien mit
einer Teil-MdE von jeweils 10 v.H. zu bewerten. Die Gesamt-MdE habe bis zum 31. Dezember 2017 mit 20 v.H. bewertet werden
können, insoweit habe die Beklagte auch ein Teilanerkenntnis abgegeben. Die auf chirurgischem Gebiet liegenden Unfallfolgen
hätten seit dem Wiedereintritt der Arbeitsfähigkeit ab dem 22. Mai 2017 eine MdE von 10 v.H. verursacht. Dies ergebe sich
aus dem Gutachten des Sachverständigen Dr. T., weil die Luxation des linken Mittelfingers bei der MdE nicht höher bewertet
werden dürfe, als der gesamte Verlust des Fingers.
Die Gesundheitsstörungen auf psychiatrischem Fachgebiet habe Dr. F1 sorgfältig und ausführlich dahingehend befundet, dass
beim Kläger eine Anpassungsstörung und keine PTBS vorgelegen habe. Insoweit fehle es an einem entsprechenden traumatischen
Ereignis, das die Kriterien nach der ICD 10 bzw. des DSM IV erfüllen könne. Nach der Definition der ICD 10 unter F 43.1 könne
eine PTBS entstehen als eine verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer
oder längerer Dauer mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung
hervorrufen würde.
Über ein derartiges Ereignis oder eine derartige Situation habe der Kläger zu keinem Zeitpunkt berichtet. Die von ihm angegebenen
Unfallereignisse stellten weder eine außergewöhnliche Bedrohung dar, noch hätten sie ein katastrophenartiges – lebensbedrohliches
– Ausmaß gehabt. Noch weniger ergebe sich ein solches Ereignis oder eine Situation in diesem Sinne aus der Nacherzählung des
Ereignisses durch den Kläger im mündlichen Termin, als der Kläger klar, ruhig, ohne Erinnerungslücken und bestimmt den Unfallhergang
habe beschreiben und mit Fotos dokumentieren können.
Es liege auch nach den Feststellungen des Dr. F1 beim Kläger keine gravierende seelische Störung vor, die eine zeitliche Leistungsminderung
in diesem Maße begründen könne. Bei der Untersuchung durch Dr. F1 sei der Kläger keinesfalls psychisch tiefergehend depressiv
herabgestimmt gewesen. Die Stimmung des Klägers bei der Untersuchung sei weitgehend ausgeglichen gewesen. Er habe sich im
Affekt schwingungsfähig bei guter Auslenkbarkeit gezeigt. Hinweise für depressionstypische Tagesschwankungen hätten sich nicht
ergeben. Der Kläger sei wach, bewusstseinsklar und in allen Qualitäten gut orientiert gewesen. Es seien weder Wahrnehmungsstörungen
noch formale oder inhaltliche Denkstörungen bei durchschnittlicher Konzentration, Auffassung und Gedächtnisleistung aufgetreten.
Der Kläger habe dabei keine stark emotional und durch Ängste bestimmte Verhaltensweisen mit wesentlicher Einschränkung der
Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit und gleichzeitig größerer sozial-kommunikativer Beeinträchtigungen beschrieben, die mit
einer MdE von 40 v. H. zu berücksichtigen wären. Insbesondere habe nach Auffassung des Sachverständigen kein geeigneter Erstschaden
vorgelegen, der eine traumatische Folgestörung hervorrufen könne. Das Unfallereignis sei nämlich nach seiner Schwere gar nicht
geeignet, zu solch einer Belastungsstörung zu führen.
Dem Vortrag des Klägers, er hätte durch den Unfallverlauf sein Leben verlieren können, könne die Kammer nicht zustimmen. Der
Kläger habe zwar den Notfallknopf nicht selbst bedienen können und es habe vom Zufall abgehangen, dass seine Kollegin dies
rechtzeitig getan habe. Durch die schnelle Rettung sei der Kläger aber weder für eine längere Zeit eingeklemmt gewesen, noch
sei eine anderweitige Gefahr von den Maschinen ausgegangen. Eine lebensbedrohliche Situation habe nicht vorgelegen. Kein behandelnder
Arzt oder Sachverständiger komme im vorliegenden Fall zum Ergebnis, dass eine PTBS vorliegen könnte. Die psychiatrische Behandlung,
die wegen einer Anpassungsstörung durchgeführt worden sei, habe bereits im Dezember 2017 eine erhebliche Besserung gezeigt
und sei im Februar 2018 abgeschlossen gewesen.
In Bezug auf die Gesundheitsstörungen an dem linken Mittelfinger lägen funktionell bedeutsame neurologische Ausfälle nicht
vor. Es habe sich insgesamt ein weitgehend unauffälliger neurologischer Untersuchungsbefund gezeigt.
Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat gegen das ihm am 8. Januar 2020 zugestellte Urteil am 16. Januar 2020 Berufung
eingelegt, mit welcher er vorträgt, der Kläger habe, als sich sein Handschuh in der Walze des Förderbandes verhakt hatte,
befürchtet, es könne ihm der ganze Arm „ausgerissen“ werden. Es habe sich daher schon um ein außergewöhnlich schweres Unfallereignis
gehandelt. Es sei auch nicht nachvollziehbar, dass man die Ehefrau des Klägers, welche Angaben zu dessen psychischen Beeinträchtigungen
machen könne, nicht befragt habe.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts vom 29. November 2019 aufzuheben und den Bescheid der Beklagten vom 13. Dezember 2017 und den
Widerspruchsbescheid vom 15. Februar 2018 in der Fassung des Teilanerkenntnisses vom 29. November 2019 abzuändern und die
Beklagte zu verurteilen, dem Kläger eine Verletztenrente auch über den 31. Dezember 2017 hinaus nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit
um 40 vom Hundert zu zahlen sowie eine Posttraumatische Belastungsstörung als weitere Unfallfolge des Ereignisses vom 16.
Januar 2017 anzuerkennen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend und macht geltend, keiner der den Kläger zeitnah behandelnden oder
begutachtenden Ärzte habe Anzeichen einer PTBS feststellen können.
Der Senat hat auf Antrag des Klägers ein Gutachten nach §
109 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) eingeholt, welches die Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. M. am 17. April 2021 erstellt hat. Dort schilderte
der Kläger ca. dreimal tägliche Flashbacks, dreimal wöchentliche Albträume, Schlafstörungen und Schreckhaftigkeit. Sozial
sei er sehr zurückgezogen, es werde ihm alles zu viel. Seit er berentet sei, denke er noch häufiger an den Unfall. Diesen
hat der Kläger gegenüber der Gutachterin dergestalt geschildert, dass sein Finger in die Gummibänder einer Walzmaschine geraten
sei und „halb ab“ gewesen sei, weil sich der Handschuh in den Häkchen verhakt habe und in die Maschine gewickelt habe. Er
habe in dieser Situation Todesangst gehabt, er habe gedacht, gleich werde der ganze Arm in die Maschine gedreht und dann gehe
es mit ihm zu Ende. Etwa 20 Minuten habe er diese Angst gehabt, denn es habe alles zu lange gedauert, da das „Notaus“ nicht
funktioniert habe. Die ganze Zeit habe er die Vorstellung gehabt, sein ganzer Arm würde in die Maschine eingedreht und dies
würde seinen Tod bedeuten. Die Gutachterin hat ausgeführt, bei dieser Schilderung werde deutlich, dass das A-Kriterium erfüllt
sei, denn es habe sich um ein lebensbedrohliches Ereignis gehandelt und sei auch von entsprechenden Todesängsten des Klägers
begleitet worden. Der Kläger leide unter Flashbacks und Albträumen (B-Kriterium), zeige Vermeidungsverhalten (C-Kriterium),
zeige Schlafstörungen, Reizbarkeit, Konzentrationsstörungen, Hypervigilanz und erhöhte Schreckhaftigkeit (D-Kriterium). All
dies sei auch innerhalb der ersten sechs Monate nach dem Ereignis aufgetreten (E-Kriterium). Damit liege eine PTBS vor. Die
Teil-MdE betrage 30 v.H. vom Unfall an, die Gesamt-MdE 40 v.H.
Die Beklagte hat hierzu nochmals durch Dr. W. Stellung genommen, welcher ausgeführt hat, Dr. M. habe sich allein auf die Angaben
des Klägers verlassen. Dieser sei lediglich mit dem Mittelfinger, nicht jedoch mit der Hand oder gar dem ganzen Arm in die
Maschine geraten, so dass bereits das A-Kriterium nicht erfüllt sei. Nirgendwo in den zeitnah erstellten Unterlagen sei vermerkt,
dass der Kläger unter Todesangst gelitten habe, dieser habe sogar wenige Monate später wieder die Arbeit aufgenommen, ohne
dass charakteristische PTBS-Symptome aufgetreten bzw. vermerkt seien.
Der Kläger ist der Auffassung, dem Gutachten der Frau Dr. M. sei zu folgen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Sitzungsniederschrift sowie auf die Gerichtsakten
und die Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung des Klägers ist statthaft (§§
143,
144 Sozialgerichtsgesetz (
SGG)) und auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht (§
151 SGG) erhoben. Sie ist jedoch unbegründet.
Zu Recht und mit der zutreffenden Begründung hat das Sozialgericht die Feststellung einer PTBS als weitere Unfallfolge und
die Verurteilung der Beklagten zur Gewährung einer dauerhaften und höheren Verletztenrente nach einer MdE von 40 v.H. abgelehnt.
Ein Anspruch auf Feststellung einer Gesundheitsstörung als Unfallfolge nach §
102 des
Siebten Buches Sozialgesetzbuch (
SGB VII) besteht, soweit jemand einen Gesundheitsschaden erlitten hat, der im Wesentlichen durch den Gesundheitserstschaden verursacht
oder einem Versicherungsfall aufgrund besonderer Zurechnungsnormen zuzurechnen ist.
Ein Versicherungsfall, hier ein Arbeitsunfall, liegt vor. Für einen Arbeitsunfall ist nach §
8 Abs.
1 SGB VII in der Regel erforderlich, dass die Verrichtung des Versicherten zur Zeit des Unfalls der versicherten Tätigkeit zuzurechnen
ist (innerer bzw. sachlicher Zusammenhang), dass diese Verrichtung zu dem zeitlich begrenzten, von außen auf den Körper einwirkenden
Ereignis - dem Unfallereignis - geführt hat (Unfallkausalität) und dass das Unfallereignis einen Gesundheitserstschaden oder
den Tod des Versicherten verursacht hat (haftungsbegründende Kausalität); das Entstehen von länger andauernden Unfallfolgen
aufgrund des Gesundheitserstschadens (haftungsausfüllende Kausalität) ist hingegen keine Voraussetzung für die Anerkennung
eines Arbeitsunfalls, sondern für die Gewährung einer Verletztenrente (BSG, Urteil vom 29. November 2011 – B 2 U 23/10 R, juris). Der Kläger hat am 16. Januar 2016 einen Arbeitsunfall erlitten, als er beim Beheben einer Störung am Montagetisch
mit der behandschuhten Hand in die Maschine geriet und sich dabei eine komplette offene Luxation des Grundgelenks des linken
Mittelfingers zuzog.
Der Senat konnte sich jedoch nicht davon überzeugen, dass bei dem Kläger eine PTBS als Unfallfolge besteht. Diese liegt nicht
im Vollbeweis vor. Zur Anerkennung einer psychischen Störung als Unfallfolge ist eine exakte Diagnose der Krankheit nach einem
der international anerkannten Diagnosesysteme (zum Beispiel ICD-10, DSM) unter Verwendung der dortigen Schlüssel und Bezeichnungen
erforderlich, damit die Feststellung nachvollziehbar ist (BSG, Urteil vom 26. November 2019 – B 2 U 8/18 R, juris). Das Unfallereignis vom 16. Januar 2017 hat bei dem Kläger keine PTBS verursacht, denn es ist bereits das hierfür
erforderliche A-Kriterium nicht erfüllt. Die diagnostischen Kriterien für das A-Kriterium lauten gemäß dem jeweiligen Diagnosesystem:
ICD 10 (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems)
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DSM IV (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders)
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DSM V
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Verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher
Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde.
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Die Person wurde mit einem traumatischen Ereignis konfrontiert, bei dem die beiden folgenden Kriterien vorhanden waren: (1)
Die Person erlebte, beobachtete oder war mit einem oder mehreren Ereignissen konfrontiert, die tatsächlichen oder drohenden
Tod oder ernsthafte Verletzung oder eine Gefahr der körperlichen Unversehrtheit der eignen Person oder anderer Personen beinhalteten.
(2) Die Reaktion der Person umfasste intensive Furcht, Hilflosigkeit oder Entsetzen.
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Konfrontation mit tatsächlichem oder drohendem Tod, ernsthafter Verletzung oder sexueller Gewalt auf eine (oder mehrere) der
folgenden Arten: 1. Direktes Erleben eines oder mehrerer traumatischer Ereignisse. 2. Persönliches Erleben eines oder mehrerer
solcher traumatischer Ereignisse bei anderen Personen. 3. Erfahren, dass einem nahen Familienmitglied oder einem engen Freund
ein oder mehrere traumatische Ereignisse zugestoßen sind. 4. Die Erfahrung wiederholter oder extremer Konfrontation mit aversiven
Details von einem oder mehreren derartigen traumatischen Ereignissen
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Nach dem seit dem 1. Januar 2022 geltenden ICD 11 (6B40 – Post traumatic stress disorder) heißt es, eine PTBS „may develop
following exposure to an extremely threatening or horrific event or series of events“. Danach handelt es sich also, wie auch
bereits im ICD 10 (F 43.1-Postraumatische Belastungsstörung), um eine mögliche Folgeerscheinung eines extrem bedrohlichen
oder entsetzlichen Ereignisses oder einer Reihe von Ereignissen. Daneben sieht der ICD 11 (6B41 – Complex post traumatic stress
disorder) die komplexe PTBS vor, welche gekennzeichnet ist durch ein extrem bedrohliches oder entsetzliches Ereignis oder
eine Reihe von Ereignissen, meistens längerdauernde oder wiederholte Ereignisse, bei denen Flucht schwierig oder unmöglich
war (z.B. Folter, Sklaverei, Genozidversuche, längerdauernde häusliche Gewalt, wiederholter sexueller oder körperlicher Kindsmissbrauch).
Unabhängig von der Frage, ob nicht das im DSM IV und V als „ernsthafte Verletzung“ bezeichnete Ereignis nicht bloß (wie dies
vorliegend sicherlich der Fall ist) im landläufigen, umgangssprachlichen Sinne ernsthaft sein muss, sondern vielmehr – ebenso
wie im ICD 10 und ICD 11 – ein außergewöhnlich bedrohliches Ereignis nachgerade katastrophalen Ausmaßes darstellen muss, erachtet
der Senat auch für den Bereich der Unfallversicherung den ICD 10 bzw. den ICD 11 als maßgeblich. Dieses Diagnosemanual ist
von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegeben und international anerkannt. Zudem wird es auch in der Krankenversicherung
als Abrechnungsgrundlage genutzt.
Die danach erforderliche Qualität des Unfalls als ein Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher
Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde, ist hier zur Überzeugung
des Senats nicht gegeben. Der Senat schließt sich den Ausführungen der Vorinstanz und des Dr. F1 an, wonach der Unfall weder
lebensbedrohlich war, noch dem Kläger diesen Eindruck vermitteln konnte. Wenn der Kläger Frau Dr. M. geschildert hat, er habe
20 Minuten lang mit dem Mittelfinger in der Maschine festgesteckt, ohne dass die Situation habe bereinigt werden können, so
zeigt dies, dass das Geschehen offensichtlich ab dem „Festhängen“ mit dem Mittelfinger in der Maschine zu wenig dynamisch
war, um annehmen zu können, der ganze Arm oder gar der ganze Körper werde in die Maschine gezogen. Dass der Kläger Angst verspürt
hat und dass es sich um ein im weiteren Sinne „traumatisches“ Ereignis gehandelt hat, soll dabei nicht in Frage gestellt werden;
letztlich ist ein Unfall, sofern es sich nicht um ein bloßes Bagatellereignis handelt, schon per definitionem mit einer erheblichen
psychischen Erschütterung (Trauma) verbunden, weil es als zeitlich begrenztes, von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis
der persönlichen Kontrolle weitgehend entzogen ist.
Im Rahmen des A-Kriteriums ist dies indes nicht ausreichend, es ist vielmehr mit dem ICD 10 und ICD 11 wie dargelegt zu fordern,
dass es sich um ein Ereignis mit außergewöhnlichem Bedrohungspotential oder von katastrophenartigem Ausmaß handelt, welches
bei fast jedem nicht nur Angst, sondern vielmehr eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde. Dies ergibt sich auch aus den
Ausführungen der Dr. M. nicht.
Dem steht nicht entgegen, dass der Kläger nach dem Unfall zunächst an einer Anpassungsstörung (ICD-10 F 43.2) gelitten hat.
Diese Diagnose erfordert (lediglich) eine einschneidende Lebensveränderung oder ein belastendes Lebensereignis, welches ein
Unfall, wie dargelegt, in aller Regel darstellt. Dass Dr. F1 im September 2019 die übrigen Kriterien einer PTBS nicht festgestellt
hat, entspricht dem üblichen kontinuierlich sich bessernden Verlauf einer derartigen Anpassungsstörung und stimmt mit den
Verlaufsberichten des behandelnden Psychotherapeuten Dr. F. überein, welcher im Dezember 2017 eine deutliche Befundbesserung
und im Januar 2018 das Fehlen subjektiver Belastungen konstatiert. Wenn dagegen Dr. M. im April 2021, nach Beendigung der
Berufstätigkeit des Klägers und nachdem dieser nunmehr dem Umgang mit der unfallverantwortlichen Maschine nicht mehr ausgesetzt
ist, eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes und eine zunehmende Grübelneigung exploriert, so steht dem der grundsätzlich
degressive Charakter einer PTBS (vgl. AWMF-Leitlinie „Gutachterliche Untersuchung bei psychischen und psychosomatischen Störungen“
in der Fassung vom 1. Dezember 2019, S. 79) entgegen.
Der Senat stellt dabei die Angaben des Klägers selbst zu seinen Beschwerden nicht in Frage, so dass eine Anhörung der Ehefrau
des Klägers nicht angezeigt war, zumal ein medizinischer Laie auch nur in der Lage ist, allgemeine Wahrnehmungen zu berichten,
nicht aber dazu, spezifische Krankheitssymptome im Sinne eines Diagnosemanuals zu bewerten (vgl. BSG, Beschluss vom 16. Februar 2017- B 9 V 48/16 B, juris).
Auch nach Auffassung des Senats ist danach eine rentenberechtigende MdE über den 31. Dezember 2017 hinaus nicht zu begründen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG. Gründe für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor.