Tatbestand
Die Beteiligten streiten über den Umfang der Verletzungen, die der Kläger bei einem Verkehrsunfall erlitt.
Der in F. lebende Kläger ist von Beruf Unternehmensberater. Er ist bei der Beklagten seit dem 9. Mai 2018 freiwillig gegen
die Folgen von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten versichert.
Am 23. Juni 2018 erlitt er während einer Fahrt zu einer Kundin in S. einen Verkehrsunfall, bei dem an seinem PKW ein unfallbedingter
Reparaturschaden in Höhe von 2.294,57 (netto) entstand.
Mit Durchgangsarztbericht vom 26. Juni 2018 teilte Professor Dr. M. mit, dass der Kläger ihm gegenüber angegeben habe, als
angeschnallter Pkw-Fahrer am 23. Juni 2018 einen Auffahrunfall erlitten zu haben. Dabei sei es zu einem Heckanprall gekommen.
Der Durchgangsarzt diagnostizierte eine Gehirnerschütterung sowie eine Verstauchung und Zerrung der Halswirbelsäule. Nach
Auskunft des Klinikums S. befand sich der Kläger vom 23. bis 26. Juni 2018 in stationärer Beobachtung zur Überwachung der
Vital- und Vigilanzparameter. Im klinischen Befund berichteten die behandelnden Ärzte über einen agitierten Patienten, welcher
nervös, wach, ansprechbar sowie orientiert zu Zeit, Ort und Person gewesen sei. Es habe keine Prellmarke bestanden, das Nasenbein
und Mittelgesicht sei palpatorisch fest gewesen, ohne Blutung aus Hals, Nase oder Ohren. Die Halswirbelsäule sei frei beweglich
gewesen, ohne sensomotorisches Defizit. Nach den radiologischen Befunden hätten sich keine Hinweise auf frische knöcherne
Verletzungen ergeben.
In der Erstbescheinigung zur Arbeitsunfähigkeit stellte der Arzt P. als Diagnose auch eine Posttraumatische Angststörung bei
HWS-Distorsion fest. In seinem Nachschaubericht vom 9. Juli 2018 teilte der Arzt in seinem Befund noch Nacken- und reaktive
Kopfschmerzen mit, bei schmerzhaftem Muskelhartspann paravertebral, ohne Blockierungen oder Instabilität im Bereich der HWS.
Darüber hinaus sei der Kläger sehr ängstlich.
Der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. S. behandelte dem Kläger erstmals am 25. Juli 2018 und diagnostizierte
vorläufig eine Posttraumatische Belastungsstörung. Der Kläger habe ihm gegenüber angegeben, dass er in eine Parkbucht habe
einfahren wollen. Dann sei ihm ein Auto hinten „drauf gefahren“ und es habe einen Knall gegeben. Danach sei er kurz bewusstlos
gewesen. Er sei wieder wach geworden, als der Unfallgegner an seine Scheibe geklopft habe. An den Unfallhergang selber erinnere
er sich nicht weiter. Da er beruflich unter Druck stehe, habe er schnell weiter zu seinem Mandanten gewollt. Er habe mit dem
Unfallgegner schnell die Daten ausgetauscht und sei dann weitergefahren. Er habe sich dann auf dem ca. 2 km langen Weg zweimal
übergeben müssen und unter Schwindel und Nackenschmerz gelitten. Nach dem Eintreffen bei dem Mandanten habe dieser ihn schließlich
in die W. Klinik in S. gebracht, wo er sich drei bis vier Tage zur Beobachtung befunden habe. Der Kläger habe ihm gegenüber
zudem berichtet, dass er seit dem Unfall kaum mehr schlafen könne. Insgesamt werde er pro Nacht vier- bis fünfmal wach, da
der Knall und der Schock ihm immer wieder durch den Kopf gingen. Zudem habe er negative Gedanken, zum Beispiel die Frage,
warum eigentlich er betroffen sei. Er verspüre eine große innere Unruhe und Nervosität, fühle sich gleichzeitig betäubt und
lethargisch. Er leide unter Zukunfts- und Existenzängsten und fürchte, wenn er nicht bald arbeitsfähig werde, seinen Kundenstamm
zu verlieren. Seit dem Unfall fahre er nur noch in unmittelbarer Umgebung Auto und traue sich nicht weitere Strecken zu fahren.
Darüber hinaus sei er 2013 Opfer eines bewaffneten Überfalls geworden mit Verletzungen an Arm und Ellenbogen. Dr. S. konstatiert,
dass der Kläger in seinen Schilderungen hektisch sei und sich beim Sprechen verhaspele. Die Stimmung sei zum depressiven Pol
verschoben, die affektive Modulationsfähigkeit reduziert. Es bestünden Insuffizienz- und Versagensgefühle und zeitweise Zukunftsängste
bei reduziertem Antrieb, erhöhter Reizbarkeit und innerer Agitiertheit. Zudem bestehe ein Wiedererleben in Form von Intrusionen
und ein Vermeidungsverhalten. Die formalen Denkabläufe seien geordnet und zeitweise kreisten die Gedanken um das Unfallgeschehen
und die Folgen. Ferner lägen eine starke Konzentrationsstörung und eine deutlich verminderte Belastbarkeit vor. In der Folge
des Unfalles vom 23. Juni 2018 sei es zur Entwicklung einer Posttraumatischen Belastungsstörung gekommen, deren diagnostische
Kriterien als voll erfüllt anzusehen seien.
Mit Bescheid vom 27. August 2018 zahlte die Beklagte dem Kläger aufgrund der Folgen des Unfalles einen Vorschuss auf Verletztengeld
für die Zeit vom 23. Juni 2018 bis zum 31. Juli 2018 in Höhe von 5.000 Euro und mit Bescheid vom 27. September 2019 einen
weiteren Vorschuss auf Geldleistungen in Höhe von 10.000 Euro für die Zeit vom 1. August 2018 bis 30. September 2018. Auf
der Grundlage eines Verlaufsberichtes von Dr. S. vom 22. Oktober 2018 gewährte die Beklagte dem Kläger wegen der Folgen des
Unfalles vom 23. Juni 2018 weitere psychotherapeutische Leistungen mit einem Umfang von bis zu 20 weiteren Sitzungen.
In seinem für die Beklagte erstellten Sachverständigengutachten vom 29. Dezember 2018 kam der Neurologe Dr. R. zu dem Ergebnis,
dass sich der Kläger bei dem Unfall eine HWS-Distorsion zugezogen habe und schädigungsabhängig eine Anpassungsstörung mit
depressiv ängstlicher Prägung sowie eine spezifische Phobie vor dem Autofahren bestehe. Schädigungsunabhängig bestehe eine
Somatisierungsstörung. Im Übrigen sei die Diagnose einer Posttraumatischen Belastungsstörung, wie von Dr. S. gestellt, nicht
nachvollziehbar. Das Unfallereignis sei nicht geeignet, eine solche psychische Störung hervorzurufen. Es handele sich um ein
allgegenwärtiges Schadensereignis, dass insbesondere bei Hektik, Zeitdruck oder Ablenkung auftrete, wovon die meisten Menschen
im Verlauf ihres Lebens mehrfach betroffen seien. Nach dem Diagnosekriterium „A“ müssten die Betroffenen einem kurz- oder
langanhaltenden Ereignis oder Geschehen von außergewöhnlicher Bedrohung oder mit katastrophalem Ausmaß ausgesetzt gewesen
sein, das bei nahezu jedem eine tiefgreifende Verzweiflung auslösen würde. Dies treffe vorliegend nicht zu. Bestenfalls könne
hier initial von einer Anpassungsstörung ausgegangen werden. Verständlich seien lediglich über einen Zeitraum von zwei bis
vier Wochen Beschwerden im Sinne psychovegetativer Dysregulation, Bewegungsblockaden und Schmerzen im Sinne einer HWS-Distorsion
und Irritation des vegetativen sympathischen Grenzstranges. Über einen längeren Zeitraum als sechs Wochen könne keine unfallbedingte
Arbeitsunfähigkeit unterstellt werden. Die Erkrankung werde inzwischen vollkommen von schädigungsunabhängigen Faktoren unterhalten.
Anpassungsstörungen dauerten in der Regel nicht länger als sechs Monate, depressiven Reaktionen maximal zwei Jahre. Eine Differenzierung
zwischen schädigungsabhängiger und schädigungsunabhängiger Symptomatik sei durch Dr. S. nie durchgeführt worden. Zur Bearbeitung
einer spezifischen Phobie bzw. depressiven Anpassungsstörung werde das Erfordernis von fünf bis zehn Behandlungssitzungen
durchaus unterstellt, sodass eine maximale Arbeitsunfähigkeit von vier Monaten anerkannt werden könne.
Der Kläger beantragte mit Schreiben vom 25. Januar 2019 im Falle einer Anspruchskongruenz im Sinne des §
43 Abs.
1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (
SGB I) vorläufige Leistungen gemäß §
43 Abs.
1 Satz 2
SGB I. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift lägen vor, da dem Kläger Verletztengeld und alternativ Krankengeld oder Arbeitslosengeld
(solange das parallele Arbeitsverhältnis nicht wirksam gekündigt sei), alternativ auch Arbeitslosengeld in F., zustehe und
er die Beklagte zuerst angegangen habe.
Die Beklagte stellte mit Bescheid vom 29. Januar 2019 die Gewährung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung
über den 30. September 2018 hinaus ein. Einen Versicherungsfall erkannte sie an. Sie verwies im Wesentlichen auf die Ausführungen
des Dr. R. in dessen Gutachten vom 21. Dezember 2018. Zudem sei im Rahmen eines Kfz-Sachverständigengutachtens lediglich ein
geringer Schaden im linken Bereich des Hecks des Unfallwagens festgestellt worden. Nach Auswertung und Würdigung der vorliegenden
medizinischen Unterlagen seien die Folgen des Unfalles vom 23. Juni 2018 spätestens am 30. September 2018 abgeklungen.
In seinem Widerspruch vom 26. Februar 2019 führte der Kläger im Wesentlichen aus, dass die Begutachtung durch Dr. R. „oberflächlich“
und „schlampig“ gewesen sei und insgesamt nicht verwertet werden könne. Die Kriterien zur Diagnose einer posttraumatischen
Belastungsstörung lägen vor. Bei dem Unfallereignis habe es sich gerade nicht um ein Bagatell- oder Alltagserlebnis gehandelt.
Es komme hier maßgeblich auch auf das subjektive Erleben an. In retrograder Betrachtung unmittelbar nach dem Unfall habe sich
auch noch folgende Vorstellung ergeben: Wenn der Unfallgegner das Kfz in einem anderen Winkel getroffen hätte, hätte sich
das Kfz gedreht und wäre auf die Gegenfahrbahn geschleudert und das Unfallopfer und ein Dritter wären womöglich tot gewesen.
Dies sei gerade kein „Parkrempler“, wie der „Pseudogutachter“ unterschwellig versucht habe zu suggerieren. Eine Verschiebung
der Wesensgrundlage habe nicht vorgelegen.
Zudem seien die bis zum 10. Dezember 2018 an die zuständige Krankenkasse ergangenen Auszahlungsanordnungen, aufgrund des originären
Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vom 29. Januar 2018, zu Unrecht rückwirkend zum 30. September 2018 aufgehoben worden.
Der Kläger stellte am 4. März 2019 beim Sozialgericht Hamburg einen Antrag auf Erlass einer Anordnung der aufschiebenden Wirkung
des Widerspruchs vom 26. Februar 2019 gemäß §
86 b Abs.
1 Nummer
2 Sozialgerichtsgesetz (
SGG). Es stehe außer Frage, dass die rückwirkende Einstellung der Leistungen zum 30. September 2018 rechtswidrig sei, da ein
Verwaltungsakt mit Dauerwirkung gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) nur mit Wirkung für die Zukunft aufgehoben werden könne.
Mit Widerspruchsbescheid 4. April 2019 lehnte die Beklagte die Gewährung von Verletztengeld über den 30. September 2018 hinaus
ab.
Das Sozialgericht Hamburg (Az.: S 40 U 58/19 ER) lehnte den Antrag des Klägers vom 4. März 2019 auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs vom 26. Februar
2019 ab, da nicht überwiegend wahrscheinlich sei, dass aufgrund der Unfallfolgen ein darüber hinaus gehender Verletztengeldanspruch
bestehe. Auf die Beschwerde des Klägers hob das Landessozialgericht Hamburg mit Beschluss vom 18. Juni 2019 (Az.: L 2 U 25/19 B ER) den Beschluss des Sozialgerichts Hamburg vom 18. April 2019 auf und stellte fest, dass der Widerspruch des Klägers
vom 26. Februar 2019 gegen den Bescheid der Beklagten über die Einstellung von Leistungen vom 29. Januar 2019 aufschiebende
Wirkung bis zum 8. April 2019 habe. Aus Sicht des Klägers hätten sich die Bescheide über die Gewährung des durch die Krankenkasse
auszuzahlenden Verletztengeldes so dargestellt, dass die Bewilligung dem Grunde nach für die Dauer der anhaltenden Arbeitsunfähigkeit
erfolgt sei. Dass dies auch von der Beklagten so gemeint gewesen sei, ergebe sich aus dem Umstand, dass sie im Widerspruchsverfahren
den Verletztengeldauftrag bis zum Zugang des Bescheides vom 29. Januar 2019 verlängert habe.
Der Kläger hat am 6. Mai 2019 Klage vor dem Sozialgericht Hamburg erhoben und hat hinsichtlich der weiteren unfallbedingten
Arbeitsunfähigkeit und Behandlungsbedürftigkeit aufgrund psychischer Beeinträchtigungen im Wesentlichen die Argumente aus
seinem Widerspruch wiederholt. Das Gutachten von Dr. R. lehne er auch im Hinblick auf einen Verstoß der Beklagten gegen §
200 Abs.
2 SGB VII ab. Darüber hinaus hat der Kläger die Gewährung vorläufiger Leistungen gemäß §
43 Abs.
1 Satz 2
SGB I begehrt.
Am 15. August 2019 hat der Kläger beim Sozialgericht Hamburg auch eine Untätigkeitsklage erhoben und beantragt, seinen Antrag
vom 25. Januar 2019 auf vorläufige Leistungen zu bescheiden (Az. S 36 U 186/19).
Die Beklagte hat auf den Antrag des Klägers vom 25. Januar 2019 mit Bescheid vom 19. Februar 2020 die Gewährung vorläufiger
Leistungen nach §
43 SGB I abgelehnt und darauf hingewiesen, dass der Kläger seinen Antrag unter dem Vorbehalt gestellt habe, dass eine Anspruchskongruenz
im Sinne des §
43 Abs.
1 SGB I vorliege. Die nach §
43 Abs.
1 SGB notwendige Anspruchskongruenz zwischen mindestens zwei Sozialleistungen bestehe nicht, da der Kläger nach Auskunft der
AOK B. keinen Anspruch auf Gewährung von Entgeltersatzleistungen (Krankengeld) habe. Eine Anspruchskongruenz mit Arbeitslosengeld
bestehe auch nicht, da dessen Gewährung, anders als Verletztengeld und Krankengeld, nicht für den Fall des Vorliegens von
Arbeitsunfähigkeit konzipiert sei. In der Rechtsbehelfsbelehrung des Bescheides vom 19. Februar 2020 heißt es lediglich, dieser
Bescheid werde Gegenstand des anhängigen sozialgerichtlichen Verfahrens (§
96 SGG) zum Az.: S 36 U 186/19 beim Sozialgericht Hamburg.
Die Beklagte ist der Klage vom 6. Mai 2019 entgegengetreten und hat sich im Wesentlichen auf Ihre Ausführungen in den angefochtenen
Bescheiden bezogen. Das Eingangskriterium einer Posttraumatischen Belastungsstörung, wonach ein belastendes Ereignis von außergewöhnlicher
Bedrohung oder mit katastrophalem Ausmaß vorliegen müsse, könne ein simpler Auffahrunfall mit einem gutachterlich geschätzten
Sachschaden von lediglich 2.730,54 Euro, kaum erfüllen. Da der Aufprall zudem von hinten erfolgt sei, könne der nach eigenem
Bekunden ohnmächtige Kläger auch aus diesem Grunde keine Sicht auf das Geschehen gehabt haben und somit könne es auch kein
bewusstes Erleben des Unfalles gegeben haben. Dass der Kläger sich vorstelle, was alles hätte passieren können, ändere daran
nichts, denn es gehe hier nicht um hypothetische Schadensverläufe. Im Übrigen werde darauf hingewiesen, dass der Kläger keineswegs
beschwert seien dürfte, denn ihm sei letztlich weit über den 30. September 2019 hinaus Verletztengeld gewährt worden, welches
die Beklagte nicht von ihm zurückfordern werde und könne, da sie sich hinsichtlich eines möglicherweise überzahlten Verletztengeldes
im Erstattungswege an die Krankenkasse des Klägers wenden werde.
Mit Gerichtsbescheid vom 23. August 2021 hat das Sozialgericht die Klagen abgewiesen. Hinsichtlich der begehrten vorläufigen
Leistungen sei die Klage nicht zulässig, da ein nach §
78 Abs.
1 SGG vorgeschriebenes Vorverfahren noch nicht durchgeführt worden sei und der von der Beklagten am 19. Februar 2020 erlassene
Bescheid über die Ablehnung von vorläufigen Leistungen gemäß §
43 Abs.
1 SGB I nicht nach §
96 Abs.
1 SGG Gegenstand des hier anhängigen Klageverfahrens geworden sei. Danach werde nach Klageerhebung ein neuer Verwaltungsakt nämlich
nur dann Gegenstand des Klageverfahrens, wenn er nach Erlass des Widerspruchsbescheides ergangen sei und er den angefochtenen
Verwaltungsakt abändere oder ersetze. Verwaltungsakte, denen jeweils unterschiedliche Anträge hinsichtlich ihrer Zeitpunkte
oder Inhalte und folglich unterschiedliche Sachverhalte zugrunde lägen, würden nicht erfasst. Dies sei hier der Fall, da es
in dem Rechtsstreit um die Gewährung von Verletztengeld über den 30. September 2018 hinaus gehe, aufgrund der streitigen Frage,
ob unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit über diesen Zeitpunkt hinaus angenommen werden könne, während es sich bei dem Antrag
auf Leistungen nach §
43 Abs.
1 SGB I um vorläufige Leistungen aufgrund einer in Streit stehenden Anspruchskongruenz zwischen den Leistungen zweier Sozialleistungsträgern
ab dem 9. April 2019 handele.
Im Übrigen sei die Klage nicht begründet da der Kläger keinen Anspruch auf Verletztengeld über den 30. September 2018 hinaus
habe. Unstreitig seien auf chirurgischem Fachgebiet (nach einem HWS-Schleudertrauma Grad I) keine dauerhaften Verletzungen
verblieben. Ebenso könne eine unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit aufgrund verbliebener psychischer Gesundheitsstörungen, insbesondere
im Rahmen einer Posttraumatischen Belastungsstörung, nicht angenommen werden. Das Unfallereignis sei im naturwissenschaftlich-philosophischen
Sinne bereits nicht geeignet gewesen, im weiteren zeitlichen Verlauf eine Posttraumatische Belastungsstörung hervorzurufen.
Der Sachverständige Dr. R. habe in seinem Gutachten vom 29. Dezember 2018 auch plausibel ausgeführt, dass das Unfallereignis,
auch in dem subjektiven Erleben des Klägers zum tatsächlichen Unfallzeitpunkt nicht die diagnostischen Kriterien des sog.
„A“-Kriteriums erfülle. Nach den ärztlich-wissenschaftlichen Kriterien (u.a. ICD-10, DSM-V) sei das A-Kriterium als erfüllt
anzusehen, wenn eine Bedrohung durch Tod, ernsthafte Verletzung oder eine Schädigung der körperlichen Integrität der eigenen
Person oder anderer besteht, sich als generell belastend erweist und im Einzelfall mit intensiver Angst, Schrecken oder Hilflosigkeit
erlebt werde. Vorliegend sei es weder zu einer Bedrohung durch Tod oder einer ernsthaften Verletzung gekommen, noch habe die
objektive Gefahr einer ernsthaften körperlichen Unversehrtheit des Klägers bei dem Auffahrunfall bestanden. Es sei zudem nicht
erkennbar, dass der Kläger zum Unfallzeitpunkt auf dieses Ereignis mit intensiver Angst, Schrecken oder Hilflosigkeit reagiert
habe, da er offenbar in der Lage gewesen ist, im weiteren Verlauf mit dem Auto zu seinem Kunden weiter zu fahren. Darüber
hinaus lägen auch keine medizinischen Anhaltspunkte dafür vor, dass eines der fünf weiteren Merkmale für die Annahme einer
Posttraumatischen Belastungsstörung (sog. B- bis F-Kriterien) auf der klinischen Befundebene erfüllt seien. Gegen die Annahme
einer länger anhaltenden psychischen Beeindruckung durch das Unfallereignis spreche die Schwere bzw. Erheblichkeit des Unfallschadens.
Denn bei länger anhaltenden psychoreaktiven Gesundheitsstörungen sei ergänzend zu prüfen, ob und inwieweit auch der weitere
Verlauf noch rechtlich wesentlich auf die ursprünglichen Reaktionen zurückzuführen sei und nicht vielmehr Begehrensvorstellungen
oder sonstige aus der Psyche wirkende Kräfte so weit in den Vordergrund träten, dass sie für den weiteren Verlauf die rechtlich
allein wesentliche Ursache bildeten (nach: Leitlinie Registriernummer 051-029 der Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftliche-medizinischen
Fachgesellschaften (AWMF): Begutachtung psychischer und psychosomatischer Erkrankungen, Stand: 31.03.2012 Teil II Kap. 3.3.3).
Dies gelte insbesondere dann, wenn, wie vorliegend, die organischen Unfallfolgen ausgeheilt seien, eine adäquate frühzeitige
Intervention bzw. professionelle Therapie stattgefunden habe (hier durch Dr. S. bereits einen Monat nach dem Unfallereignis)
und sich eine quasi unveränderte oder sogar zunehmende psychische Beschwerdesymptomatik zeige (Hinweis auf LSG Nordrhein-Westfalen,
Urteil vom 16. Mai 2007 - L 17 U 127/06). Die Beklagte habe auch weit über den von Dr. R. empfohlenen Zeitraum der unfallbedingten Arbeitsunfähigkeit Verletztengeld
bis zum 8. April 2019, mithin über 9 Monate nach dem Arbeitsunfall, geleistet und wolle dieses auch nicht mehr zurückfordern.
Ein darüber hinaus gehender Anspruch auf Verletztengeld ließe sich nicht begründen.
Der Kläger hat gegen den ihm am 28. August 2021 zugestellten Gerichtsbescheid am 22. November 2021 Berufung eingelegt. Er
trägt vor, die Beklagte habe seinen am 25. Januar 2019 gestellten Antrag auf vorläufige Leistungen ignoriert, sodass er am
15. August 2019 eine Untätigkeitsklage habe erheben müssen. Sein Antrag sei erst mit Bescheid vom 19. Februar 2020 abgelehnt
worden, die Rechtsbehelfsbelehrung, wonach der Bescheid Gegenstand des Verfahrens über die Untätigkeitsklage geworden sei,
habe ihn in die Irre geführt. Die Klage sei zulässig, da die Beklagte mit dem Hinweis auf §
96 SGG deutlich gemacht habe, dass sie ihre Auffassung auch im Widerspruchsverfahren nicht ändern werde. Tatsächlich bestehe auch
„Anspruchskonkurrenz“, da die AOK B. schriftlich bestätigt habe, dass ein Anspruch bestehe. Im Rahmen seiner freiberuflichen
Tätigkeit habe er zwar keinen Anspruch auf Krankengeld, wohl aber hinsichtlich seiner parallelen abhängigen Beschäftigung,
für die er sozialversichert sei.
Er habe auch Anspruch auf Verletztengeld über den 30. September 2019 hinaus. Dr. S. habe Arbeitsunfähigkeit aufgrund des Unfallereignisses
vom 23. Juni 2018 bis zum 28. Februar 2020 angenommen. Der Sachverständige Dr. R. habe es unterlassen, festzustellen, zu welchem
Zeitpunkt sich gegebenenfalls die Ursache für seine Arbeitsunfähigkeit von der Ursache „Unfall“ hin zur Ursache „Krankheit“
verschoben habe. Dessen Gutachten sei überdies unschlüssig und in sich widersprüchlich, da er mal von sechs Wochen und mal
von fast vier Monaten Arbeitsunfähigkeit ausgehe. Es sei unrealistisch, dass von 20 Monaten Arbeitsunfähigkeit, die durch
einen Unfall ausgelöst worden sei, nur drei Monate und eine Woche unfallbedingt gewesen seien. Warum bei ihm ohne umfassende
Anamnese und umfassende symptomatische Befragung eine Posttraumatische Belastungsstörung ausgeschlossen werde, sei nicht nachvollziehbar.
Der Kläger beantragt:
1. den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hamburg vom 23. August 2021 und den Bescheid der Beklagten vom 19. Februar 2020
aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihm vorläufige Leistungen im Sinne des §
43 Abs.
1 Satz 1
SGB I bis zum 28.2.2020 zu gewähren sowie
2. den Bescheid der Beklagten vom 29. Januar 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 4. April 2019 abzuändern und die
Beklagte zu verurteilen, ihm aufgrund des Versicherungsfalls vom 23. Juni 2018 Verletztengeld über den 30. September 2018
hinaus zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die Berufung für unbegründet. Wie sie bereits in der Parallelsache, dem Berufungsverfahren über die abgewiesene Untätigkeitsklage,
vorgetragen habe, habe sich ihr Hinweis auf §
96 SGG auf das dortige Klageverfahren bezogen. Im Streitfall habe das Sozialgericht klargestellt, dass der Bescheid vom 19. Februar
2020 nicht Gegenstand dieses Streitverfahrens geworden sei. Aufgrund des Beschlusses des erkennenden Senats vom 18. Juni 2019,
Az.: L 2 U 25/19 B ER, habe der Kläger bereits Verletztengeld bis zum 8. April 2019 erhalten, das nach derzeitigem Erkenntnisstand nicht zurückgefordert
werden würde. Die Kritik des Klägers an dem Sachverständigengutachten des Dr. R. teile sie nicht und beziehe sich auf dessen
Inhalt.
Der Senat hat über die Berufung am 9. März 2022 mündliche verhandelt. Auf die Sitzungsniederschrift wird Bezug genommen.
Soweit der Kläger mit seiner Berufung beanstandet, es hätte festgestellt werden müssen, zu welchem Zeitpunkt sich gegebenenfalls
die Ursache für seine Arbeitsunfähigkeit von der Ursache „Unfall“ hin zur Ursache „Krankheit“ verschoben habe, kommt es darauf
nicht an. Entscheidend ist allein, wie lange von einer unfallbedingten Arbeitsunfähigkeit ausgegangen werden kann. Und dies
hat der Sachverständige Dr. R. in seinem Gutachten festgestellt und nachvollziehbar begründet: Er geht bei der vorliegenden
unfallbedingten Bagatellverletzung offensichtlich zugunsten des Klägers davon aus, dass (nur) eine sechswöchige Arbeitsunfähigkeit
unterstellt werden könne.
Das Gutachten des Sachverständigen Dr. R. ist auch nicht etwa deshalb in Zweifel zu ziehen, da er in widersprüchlicher Weise
- wie der Kläger meint - mal von sechs Wochen und mal von fast vier Monaten Arbeitsunfähigkeit ausgehe. Die ist offensichtlich
nicht der Fall. Der Sachverständige ist vielmehr zu dem eindeutigen Ergebnis gelangt, dass eine unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit
nur für sechs Wochen angenommen werden könne. Weitere nicht unfallbedingte psychiatrische Störungen, die er bei dem Kläger
diagnostiziert hat, könnten eine Arbeitsunfähigkeit nicht über vier Monate hinaus begründen.
Der Kläger hat somit hat infolge dieses Versicherungsfalls keinen Anspruch auf Verletztengeld über den 30. September 2018
hinaus.