Tatbestand
Die Beteiligten streiten im Überprüfungsverfahren über die Neuberechnung des Jahresarbeitsverdienstes (JAV) aufgrund einer
anerkannten Berufskrankheit nach Nummer 1310 der Anlage 1 zur
Berufskrankheitenverordnung.
Beim 1952 geborenen Kläger wurde mit Bescheid vom 26. Juli 1994 eine Berufskrankheit Nr. 1310 (BK 1310 - Erkrankungen durch
halogenierte Alkyl-, Aryl- oder Alkylaryloxide) nach der
Berufskrankheitenverordnung (BKVO) anerkannt, zunächst ohne Zuerkennung einer Rente. Mit Widerspruchsbescheid vom 6. September 1995 erkannte die Beklagte ab
1. Januar 1989 das Vorliegen einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 vom Hundert an und gewährte dem Kläger ab 1. Januar
1989 eine Dauerrente. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Berechnung des JAV sei der 1. Mai 1972 (Zeitpunkt der Beendigung der
schädigenden Tätigkeit des Klägers) gewesen. Dies sei auch der Tag des Eintritts der Erkrankung im Sinne der Krankenversicherung.
Die Beklagte stellte nach § 571
Reichsversicherungsordnung (
RVO) für den Zeitraum vom 1. Mai 1971 bis 30. April 1972 einen JAV in Höhe von 14.503,00 DM fest.
Hiergegen wendete sich der Kläger mit Widerspruch und Klage, welche das Sozialgericht mit Urteil vom 26. Mai 1997 (25 U 414/95) abwies. Nach § 577
RVO sei der gemäß § 551 Abs. 3 Satz 1 in Verbindung mit §§ 571bis 576
RVO berechnete JAV im Rahmen des § 575
RVO nach billigem Ermessen festzustellen, wenn er in erheblichem Maße unbillig sei. Bei dieser Feststellung sei außer den Fähigkeiten,
der Ausbildung und der Lebensstellung des Verletzten seine Erwerbstätigkeit zur Zeit des Arbeitsunfalls oder, soweit er nicht
gegen Entgelt tätig gewesen sei, eine gleichartige oder vergleichbare Erwerbstätigkeit zu berücksichtigen. Ausgangspunkt für
die Berechnung des JAV sei gemäß § 571 Abs. 1 Satz 1
RVO der Zeitpunkt des Arbeitsunfalls, als dessen Zeitpunkt gemäß § 551 Abs. 3 Satz 2
RVO für Berufskrankheiten der Beginn der Krankheit im Sinne der Krankenversicherung oder, wenn dies für den Versicherten günstiger
sei, der Beginn der Minderung der Erwerbsfähigkeit im rentenberechtigenden Grade gelte. Die Beklagte habe in ihren angefochtenen
Bescheiden für die Berechnung des JAV den 1. Mai 1972, d. h. den Zeitpunkt der Beendigung seiner Tätigkeit bei der Firma ...
und Beginn der Krankheit im Sinne der Krankenversicherung und den Gesamtbetrag des im Kalenderjahr vor dem 1. Mai 1972 erzielten
Arbeitsentgeltes in Höhe von 14.503,00 DM zugrunde gelegt. Diese Berechnung sei günstiger als ein Abstellen auf den Zeitpunkt
der Rentengewährung ab 1. Januar 1989, da der Kläger im Kalenderjahr 1988 lediglich 8554,00 DM an Einnahmen aus seinem Gewerbebetrieb
erzielt habe, während der angepasste JAV ab 1. Januar 1989 30.722,62 DM betragen habe. Die von der Beklagten vorgenommene
Berechnung des JAV erweise sich auch nicht als in erheblichem Maße unbillig, weil ein den JAV erhöhender späterer beruflicher
Aufstieg des Klägers als Schlossermeister und Betriebsleiter oder zum kaufmännischen Angestellten in dieser Position und ein
fiktiver Ansatz des Jahreseinkommens eines selbstständigen Schlossermeisters der Rentengewährung ab 1. Januar 1989 zugrunde
zu legen sei.
Auch bei Anwendung des § 577
RVO gelte der allgemeine Grundsatz der gesetzlichen Unfallversicherung, dass für die Berechnung die Verhältnisse im Jahr vor
dem Unfall maßgeblich seien. Sie seien Spiegel des sozialen Status des Verletzten in diesem Zeitraum und gäben den Lebensstandard
wieder, den es zu sichern gelte. Im Vorjahr erreichte höhere Entgelte oder nach dem Unfall zu erwartende höhere Entgelte seien
grundsätzlich nicht zu berücksichtigen. Lediglich § 573 Abs. 1
RVO enthalte eine Ausnahme von diesem Grundsatz. Der Vorschrift liege der Gedanke zugrunde, dass die zur Zeit des Arbeitsunfalls
in einer Schul- oder Berufsausbildung Stehenden vom Zeitpunkt der voraussichtlichen Beendigung der Ausbildung an hinsichtlich
der Berechnung des JAV so zu stellen seien, als ob sie den Unfall erst in diesem Zeitpunkt erlitten hätten. Diese Voraussetzungen
hätten beim Kläger jedoch nicht vorgelegen, weil dieser seine Berufsausbildung mit Ablegung der Gesellenprüfung als Schlosser
im Jahr 1971 beendet habe und danach im erlernten Beruf tätig gewesen sei. Die spätere Ablegung der Meisterprüfung sei nicht
mehr Berufsausbildung im Sinne des § 573 Abs. 1
RVO, sondern eine Weiterbildung.
Die gegen das Urteil eingelegte Berufung (III UBf 37/94) nahm der Kläger im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 14. Januar
1998 zurück.
Mit Anträgen vom 15. Februar 2013 und vom 29. Januar 2018 beantragte der Kläger die Überprüfung und Neuberechnung seines JAV.
Mit Bescheid vom 6. August 2018 und Widerspruchsbescheid vom 3. April 2019 lehnte die Beklagte eine Änderung des Bescheides
vom 6. September 1995 und Neufeststellung des JAV nach § 44 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) mit der Begründung ab, der JAV sei mit Wirkung zum 1. Mai 1972 mit 14.503,00 DM (entspricht 7.415,27 Euro) zutreffend festgestellt
worden. Der Zeitpunkt der Feststellung des JAV sei der letzte Tag, an dem der Kläger Tätigkeiten ausgeübt habe, die potenziell
geeignet seien, die bei ihm bestehende Berufskrankheit zu verursachen. Aufgrund der Anträge des Klägers sei dieser gebeten
worden, ausgehend vom 1. Januar 1989 (Beginn der Minderung der Erwerbsfähigkeit) Einkommensnachweise für den Zeitraum vom
1. Januar 1988 bis 31. Dezember 1988 beizubringen, damit eine Vergleichsberechnung nach den §§ 551 Abs. 2, 572
RVO vorgenommen werden könne. Diesbezüglich habe der Kläger über seinen Bevollmächtigten mitgeteilt, dass er im genannten Zeitraum
arbeitsunfähig erkrankt gewesen sei und kein Einkommen erzielt habe. In Anwendung des § 572
RVO wäre der zu dieser Zeit geltenden Mindest-Jahresarbeitsverdienst heranzuziehen (§ 575
RVO), der sich zum Stichtag 1. Januar 1989 auf umgerechnet 11.596,10 Euro beliefe. Der nach § 572
RVO (letzter Tag der Gefährdung) ermittelte Jahresarbeitsverdienst habe zum Stichtag 1. Januar 1989 dagegen unter Berücksichtigung
der bis dahin vorgenommenen Rentenanpassungen 15.708,25 Euro betragen und sei damit günstiger für den Kläger. Die vom Kläger
vorgeschlagene hilfsweise fiktive Berechnung auf Basis eines vergleichsweise zu dieser Zeit (1988) Beschäftigten bei der Firma
Boehringer sei mangels gesetzlicher Grundlage nicht möglich.
Die hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht mit Gerichtsbescheid vom 3. März 2021 abgewiesen. Die Voraussetzungen des
§ 44 SGB X lägen nicht vor. Der Kläger habe weder neue Tatsachen vorgetragen, die eine Rücknahme bzw. Änderung des Ausgangsbescheides
rechtfertigen könnten, noch sei das Recht falsch angewandt worden. Auf die zutreffenden Ausführungen der Beklagten in den
angefochtenen Bescheiden werde verwiesen. Die Beklagte habe die einschlägigen Vorschriften der
RVO und des
Siebten Buches Sozialgesetzbuch (
SGB VII) zutreffend angewandt und die Neufeststellung eines höheren JAV rechtmäßig abgelehnt. Für die vom Kläger begehrte „fiktive
Berechnung“ und Feststellung eines JAV für seine Leistungen ab 1. Januar 1989 gebe es keine Anspruchsgrundlage, die dieses
Begehren rechtlich tragen könnte. Die Beklagte habe im vorliegenden Fall bereits die günstigste Regelung zur Feststellung
des JAV beim Kläger angewandt, sodass eine Erhöhung rechtlich nicht möglich sei.
Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat gegen den ihm am 5. März 2021 zugestellten Gerichtsbescheid am 1. April 2021 Berufung
eingelegt, mit welcher er vorträgt, es fände sich eine weitreichende Korrekturmöglichkeit für das JAV in §
87 SGB VII. Hierauf sei das Sozialgericht überhaupt nicht eingegangen. Es sei angezeigt, zu Gunsten des Klägers davon auszugehen, dass
er seine berufliche Laufbahn innerhalb der Fa. Boehringer fortgesetzt hätte und zwar ohne die Beeinträchtigungen, welche sich
aus der Betriebsstilllegung und letztlich auch aus der gesundheitlichen Beeinträchtigung ergeben habe. Es sei falsch, dass
es keine Rechtsgrundlage für eine fiktive Berechnung des JAV gäbe, eine Korrekturmöglichkeit sei vielmehr nach §
87 SGB VII gegeben. Finanziell dürfe es keinen Unterschied machen, ob ein erst „fertig ausgebildeter“ Arbeitnehmer oder aber ein solcher,
der sich noch in seiner Berufsausbildung befinde, aufgrund berufsbedingter Umstände seine Erwerbsfähigkeit verliere bzw. in
dieser erheblich eingeschränkt werde. Er sehe eine große Unbilligkeit darin, dass es sich bei den Folgen der BK um einen schleichenden
Prozess mit immer drastischer werdenden Folgen handele.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts vom 3. März 2021 und den Bescheid der Beklagten vom 6. August 2018 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 3. April 2019 aufzuheben, und die Beklagte zu verpflichten, den Bescheid vom 6. September 1995
abzuändern und den festgestellten Jahresarbeitsverdienst nach einem fiktiven Entgelt vom 1. Januar 1988 bis 31. Dezember 1988
neu festzusetzen und
hilfsweise die Revision zuzulassen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend und Umstände für eine Berechnung nach §
87 SGB VII nicht für gegeben.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Sitzungsniederschrift sowie auf die Gerichtsakten
und die Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung des Klägers ist statthaft (§§
143,
144 Sozialgerichtsgesetz (
SGG)) und auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht (§
151 SGG) erhoben. Sie ist jedoch unbegründet.
Als Anspruchsgrundlage für das Begehren des Klägers kommt allein § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X in Betracht. Nach dieser Vorschrift ist, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht
unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb
Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind, der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit
Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen.
Dem steht die durch die Rücknahme der Berufung eingetretene Rechtskraft des Bescheides vom 6. September 1995 nicht entgegen.
Ziel des § 44 SGB X ist es, die Konfliktsituation zwischen der Bindungswirkung eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes und der materiellen Gerechtigkeit
zu Gunsten letzterer aufzulösen. Ist ein Verwaltungsakt rechtswidrig, hat der betroffene Bürger einen einklagbaren Anspruch
auf Rücknahme des Verwaltungsaktes unabhängig davon, ob der Verwaltungsakt durch ein rechtskräftiges Urteil bestätigt wurde.
(BSG, Urteil vom 05. September 2006 – B 2 U 24/05 R, juris m.w.N. und ausführlicher Begründung).
§ 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X führt zwei Alternativen an, weswegen ein Verwaltungsakt zurückzunehmen sein kann: Das Recht kann unrichtig angewandt oder
es kann von einem Sachverhalt ausgegangen worden sein, der sich als unrichtig erweist. Nur für die zweite Alternative kann
es auf die Benennung neuer Tatsachen und Beweismittel und ein abgestuftes Prüfungsverfahren (Vorlage neuer Tatsachen oder
Erkenntnisse - Prüfung derselben, insbesondere ob sie erheblich sind - Prüfung, ob Rücknahme zu erfolgen hat - neue Entscheidung)
ankommen. Bei der ersten Alternative handelt es sich um eine rein juristische Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Entscheidung,
zu der von Seiten des Klägers zwar Gesichtspunkte beigesteuert werden können, die aber letztlich umfassend von Amts wegen
erfolgen muss (BSG, a.a.O.). Nur eine solche unrichtige Rechtsanwendung kommt vorliegend in Betracht und wird vom Kläger geltend gemacht. Jedoch
hat die Beklagte bei der Ausgangsentscheidung vom 6. September 1995 das Recht nicht unrichtig angewendet.
Für die Festsetzung des maßgeblichen JAV sind im Falle des Klägers noch die Regelungen der §§ 571 ff.
RVO anzuwenden. Dies ergibt sich aus §
214 Abs.
2 Satz 1
SGB VII, wonach die Vorschriften des
SGB VII über den JAV (nur dann) für Versicherungsfälle gelten, die vor dem Tag des In-Kraft-Tretens des
SGB VII eingetreten sind, wenn der JAV erstmals oder nach §
90 SGB VII neu festgesetzt wird. Es erfolgte im vorliegenden Fall im Sinn der abweichenden Regelung des §
214 Abs.
2 Satz 1
SGB VII nicht die erstmalige Festsetzung vor Inkrafttreten des
SGB VII am 1. Januar 1997, weil bereits der zu überprüfende Bescheid der Beklagten vom 6. September 1995 die erstmalige Festsetzung
einer Verletztenrente enthielt. Auch stellte die Überprüfung im Jahr 2018/2019 im Rahmen des § 44 SGB X keine Neufestsetzung "aufgrund des §
90 SGB VII" dar (vgl. BSG, Urteil vom 26. April 2016 – B 2 U 14/14 R, juris).
Der JAV des Klägers war daher nach §§ 575 ff.
RVO festzusetzen, wobei allerdings § 577
RVO ebenso wie §
87 SGB VII eine Billigkeitskorrektur ermöglichte.
Nach § 571 Abs. 1 Satz 1
RVO gilt als JAV der Gesamtbetrag aller Arbeitsentgelte und allen Arbeitseinkommens des Verletzten in den zwölf Kalendermonaten
vor dem Monat, in dem der Arbeitsunfall eingetreten ist. Für Zeiten, in denen der Verletzte in diesen zwölf Kalendermonaten
kein Arbeitseinkommen bezog, wird das Arbeitsentgelt und Arbeitseinkommen zugrunde gelegt, das durch eine Tätigkeit erzielt
wird, die der letzten Tätigkeit des Verletzten vor diesen Zeiten entspricht. Nach § 572
RVO gilt für die Berechnung des JAV, wenn es für den Berechtigten günstiger ist, als Zeitpunkt des Arbeitsunfalls der letzte
Tag, an dem der Versicherte in einem Unternehmen Arbeiten verrichtet hat, die ihrer Art nach geeignet sind, die Berufskrankheit
zu verursachen. Als Zeitpunkt des Arbeitsunfalls galt nach § 551 Abs. 3 Satz 2
RVO im Falle einer BK der Beginn der Krankheit im Sinne der Krankenversicherung, oder, wenn dies für den Versicherten günstiger
war, der Beginn der Minderung der Erwerbsfähigkeit.
Als Zeitpunkt des Versicherungsfalls – also des Tages, zu welchem erstmals das Vorliegen einer BK 1310 medizinisch festgestellt
wurde – ist vorliegend in der Akte der Beklagten der 1. Januar 1989 vermerkt. Dies ist der erste Tag der Minderung der Erwerbsfähigkeit
in rentenberechtigendem Grade. Tatsächlich ergibt sich aus dem Akteninhalt, dass spätestens seit Mitte der 1970er Jahre der
Kläger unter unklaren Symptomen litt, derentwegen er sich auch in Behandlung befand. So ist in einem Befundbericht des praktischen
Arztes S. vom 17. Mai 1992 vermerkt, der Kläger habe ihn 1976 wegen eines Leistungsabfalls nach kurzer Arbeit aufgesucht und
in der Folge unter Gastritisschüben und rezidivierenden Reizungen der Atemwege gelitten. Folglich hat auch der Arbeitsmediziner
Dr. P. in seinem Gutachten für die Beklagte vom 21. März 1996 als Beginn der Berufskrankheit im versicherungsrechtlichen Sinne
den Zeitpunkt des Ausscheidens aus der Firma Boehringer am 1. Mai 1972 angenommen und festgestellt, dass Befindlichkeitsstörungen
im Sinne einer verminderten psychischen Belastbarkeit in Stresssituationen und eingeschränkter Konzentrations- und Gedächtnisleistungen
mit Wahrscheinlichkeit Folgen einer Schadstoffexposition im Sinne einer toxischen Enzephalopathie sind. Dem schließt sich
der Senat auch hinsichtlich des Krankheitsbeginns an.
Zu Grunde zu legen war dem JAV danach, wie die Beklagte dies zu Recht getan hat, der Gesamtbetrag aller Arbeitsentgelte und
Arbeitseinkommen vom 1. Mai 1971 bis zum 30. April 1972. Diese Entgelte wurden von der Beklagten zutreffend ermittelt und
sie sind auch dem Kläger günstiger als die aus selbständiger Tätigkeit erzielten Einnahmen des Jahres 1998, dem Jahr vor dem
Eintritt rentenberechtigender MdE; beides steht zwischen den Beteiligten auch nicht im Streit.
Auch eine (Neu-)Berechnung des JAV nach § 573 Abs. 1
RVO war nicht vorzunehmen. Nach dieser Norm wird, wenn sich der Verletzte zur Zeit des Arbeitsunfalls noch in einer Schul- oder
Berufsausbildung befand und es für den Berechtigten günstiger ist, der JAV für die Zeit nach der voraussichtlichen Beendigung
der Ausbildung neu berechnet. Der Bescheid vom 6. September 1995 beruht nicht auf einer fehlerhaften Rechtsanwendung im Sinne
von § 44 SGB X, weil die Beklagte etwa einen fiktiven JAV für die Zeit nach einem zum Zeitpunkt des Versicherungsfalls noch nicht erfolgten
hypothetischen beruflichen Aufstieg nach dieser Vorschrift hätte zugrunde legen müssen. Der Kläger befand sich zum Zeitpunkt
des Versicherungsfalls am 1. Mai 1972 nicht (mehr) in einer Schul- oder Berufsausbildung, wie es § 573 Abs. 1
RVO nach seinem Wortlaut voraussetzt, denn er hatte bereits vor dem Versicherungsfall seine Ausbildung zum Schlosser erfolgreich
beendet. Eine Neuberechnung der Verletztenrente nach dieser Vorschrift erfolgt nach der ständigen Rechtsprechung des BSG, der sich der Senat nach eigener Prüfung anschließt, indes nur, wenn die Maßnahme, während der sich der Versicherungsfall
ereignet hat, zu einem - wenn auch nicht zwingend ersten - beruflichen Abschluss führt. Sobald das angestrebte Ausbildungsziel
erreicht ist, kommt nur eine berufliche Weiterbildung in Betracht, die nicht der Berufsausbildung zugerechnet wird.
Dass der Begriff der Berufsausbildung in § 573 Abs. 1
RVO nicht über den Wortsinn hinaus auf andere Formen beruflicher Bildung oder gar einen anderweitigen hypothetischen beruflichen
Aufstieg ausgedehnt werden kann, folgt unter anderem aus dem Ausnahmecharakter der gesetzlichen Regelung. Mit der Möglichkeit,
bei Eintritt des Versicherungsfalls während einer Schul- oder Berufsausbildung die Bemessungsgrundlage anzuheben, weicht das
Gesetz für einen Sonderfall von dem die Unfallversicherung beherrschenden Grundsatz ab, dass die Verdienstverhältnisse vor
dem Arbeitsunfall für alle Zukunft die maßgebende Grundlage der Geldleistungen bleiben und spätere Erwerbsaussichten bei der
Feststellung des JAV nicht zu berücksichtigen sind. Einzig Personen, die bereits während der Zeit der Ausbildung für einen
späteren Beruf einen Arbeitsunfall erleiden und deshalb im Jahr vor dem Unfall regelmäßig noch kein Arbeitsentgelt, sondern
allenfalls eine geringe Ausbildungsvergütung erhalten haben, sowie aufgrund des Versicherungsfalls ihre Ausbildung später
beenden, sollen zur Vermeidung von Härten geschützt und so gestellt werden, als hätten sie den Unfall nach der voraussichtlichen
Beendigung der Berufsausbildung erlitten. Eine solche genau umschriebene Ausnahmeregelung kann nicht im Wege richterlicher
Rechtsfortbildung auf andere, vermeintlich ähnlich liegende Sachverhalte erstreckt werden. Hiergegen bestehen auch im Hinblick
auf Art.
3 des
Grundgesetzes keine Bedenken (zu alledem mit ausführlicher Begründung und weiteren Nachweisen: BSG, Urteil vom 26. April 2016 – B 2 U 14/14 R).
Die Zugrundelegung dieser Entgelte in Höhe von anfänglich 14.503,00 DM ist auch nicht in erheblichem Maße unbillig gewesen
im Sinne des § 577
RVO. Nach dieser Vorschrift ist der JAV, soweit der nach den §§ 571 bis 576
RVO berechnete JAV in erheblichem Maße unbillig ist, im Rahmen des § 575
RVO nach billigem Ermessen festzustellen. Hierbei ist außer den Fähigkeiten, der Ausbildung und der Lebensstellung des Verletzten
seine Erwerbstätigkeit zur Zeit des Arbeitsunfalls oder, soweit er nicht gegen Entgelt tätig war, eine gleichartige oder vergleichbare
Erwerbstätigkeit zu berücksichtigen. Die Wertung, ob der berechnete JAV "in erheblichem Maße unbillig" ist, ist als unbestimmter
Rechtsbegriff durch das Gericht in vollem Umfang selbst vorzunehmen. § 577
RVO soll atypische Fallgestaltungen erfassen und – ausgerichtet unter anderem am Lebensstandard des Versicherten – für diesen
zu einem billigen Ergebnis führen. Ziel der Regelung ist es, den JAV als Grundlage der Rente so zu bemessen, dass der Lebensstandard
gesichert wird, den der Versicherte zeitnah vor dem Versicherungsfall erreicht und auf den er sich eingerichtet hat. Die Regelungen
zur Berechnung des JAV sollen für den Regelfall eine einfache, schnell praktizierbare und nachvollziehbare Berechnung des
JAV in der Verwaltungspraxis ermöglichen. Nur wenn besondere Umstände vorliegen, die sich auf den maßgeblichen Zeitraum auswirken
und die eine erhebliche Unbilligkeit der Regelberechnung begründen (z.B. unterwertige Beschäftigung in Teilen des Bemessungszeitraums;
Verdienstausfall innerhalb der Jahresfrist z.B. durch unbezahlten Urlaub), kann zur Vermeidung von Zufallsergebnissen eine
Korrektur des JAV angezeigt sein. Auch in diesem Zusammenhang bleibt es allerdings bei dem bereits oben dargelegten Grundsatz,
dass die Verhältnisse vor dem Versicherungsfall für alle Zukunft die maßgebende Grundlage der Geldleistungen bleiben und spätere
Erwerbsaussichten bei der Feststellung des JAV nicht zu berücksichtigen sind. Die Festsetzung des JAV ist daher nicht in erheblichem
Maße unbillig, wenn der ermittelte JAV – wie hier – den Fähigkeiten, der Ausbildung und Tätigkeit des Versicherten in den
zwölf Monaten vor dem Monat des Versicherungsfalles entspricht (BSG a.a.O.).
Für die vom Kläger offenbar begehrte Anpassung im Hinblick auf eine hypothetisch günstigere Entwicklung seiner Einkünfte nach
dem Eintritt des Versicherungsfalles ohne diesen gibt es, worauf bereits das Sozialgericht hingewiesen hat, keine Rechtsgrundlage.
Die Anpassung des JAV erfolgt vielmehr ausschließlich auf der Grundlage des § 579
RVO bzw. des §
95 SGB VII. Nichts Anderes folgt aus dem möglicherweise progredienten Verlauf der Erkrankung des Klägers. Hierin ist kein Fall einer
Unbilligkeit zu sehen, einem Fortschreiten einer BK ist vielmehr durch Überprüfung der Höhe der MdE Rechnung zu tragen.
Die Kostenentscheidung folgt aus §
193 SGG. Gründe für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor.