Entscheidung über die Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs gegen die Aufforderung zur Stellung eines Antrags
auf vorzeitige Altersrente
Recht des Leistungsberechtigten auf fehlerfreien Ermessensgebrauch hinsichtlich der Aufforderung zur Antragsstellung
Anforderungen an die Begründung für die Aufforderung zur Stellung eines Antrags auf vorzeitige Altersrente
Gründe
I.
Die Antragstellerin begehrt die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruchs gegen die Aufforderung des Antragsgegners,
einen Antrag auf Altersrente zu stellen.
Die am 00.00.1951 geborene Antragstellerin bezieht seit 2005 durchgehend Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach
dem SGB II, zuletzt in Höhe von 854,54 EUR monatlich.
Mit Bescheid vom 25.07.2014 forderte der Antragsgegner die Antragstellerin auf, einen Antrag auf Altersrente zu stellen. Die
Antragstellerin sei verpflichtet, einen Antrag bei dem zuständigen Rentenversicherungsträger zu stellen, wenn sie eine geminderte
Altersrente (d.h. mit Abschlägen) beziehen könne und das 63. Lebensjahr vollendet habe. Unter Abwägung aller Gesichtspunkte
sei er zu der Entscheidung gekommen, die Antragstellerin zur Beantragung vorrangiger Leistungen aufzufordern. Er sei gehalten,
wirtschaftlich und sparsam zu handeln. Die Antragstellerin sei verpflichtet, die Hilfebedürftigkeit zu beseitigen oder zu
verringern. Es seien keine maßgeblichen Gründe ersichtlich, welche gegen die Beantragung der genannten vorrangigen Leistungen
sprächen. In Abwägung der Interessen der Antragstellerin mit seinem Interesse an der wirtschaftlichen und sparsamen Verwendung
von Leistungen nach dem SGB II sei der Antragstellerin die Beantragung der genannten vorrangigen Leistungen zumutbar, da die Hilfebedürftigkeit beseitigt
bzw. verringert werde.
Hiergegen legte die Antragstellerin Widerspruch ein. Sie rügte eine fehlerhafte Ermessensausübung und machte geltend, der
Antragsgegner habe keinerlei Überprüfung hinsichtlich der zu erwartenden Rente, der Höhe der zu erwartenden Abschläge und
der weiteren Absicherung zur Sicherung des Lebensunterhalts sowie der Kosten der Unterkunft vorgenommen. Ihre Altersrente
ohne Abschläge würde in etwa zur Deckung des Lebensunterhaltes ausreichen. Ihr stünde dann noch ein Anspruch auf Wohngeld
zu, so dass davon auszugehen sei, dass sie keine Leistungen nach dem SGB XII in Anspruch nehmen müsse. Wenn sie hingegen den Antrag auf vorzeitige Altersrente stellen müsse, sei sicher, dass sie Zeit
ihres Lebens auf Leistungen nach dem SGB XII angewiesen wäre. Da der Antragsgegner bei Erlass des Bescheides keine Kenntnis von der Rentenhöhe mit und ohne Abschläge
gehabt habe, habe er keine Interessenabwägung vornehmen können.
Am 13.08.2014 hat die Antragstellerin beim Sozialgericht Düsseldorf die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruchs
gegen den Bescheid vom 25.07.2014 beantragt. Sie könne ab dem 01.07.2016 eine Altersrente ohne Abschläge beziehen. Diese würde
sich unter Berücksichtigung der Mütterrente nach heutigen Berechnungen auf ca. 810,66 EUR netto belaufen. Falls sie eine vorzeitige
Altersrente für Frauen ab dem 01.08.2014 in Anspruch nehme, würden sich ihre Renteneinkünfte auf 766,88 EUR netto belaufen.
Die zu erwartende Nettoaltersrente ohne Abschläge werde sich im nächsten Jahr aufgrund Rentenanpassung nochmals erhöhen. Zudem
habe sie einen geringen Anspruch auf Wohngeld. Mit diesen Beträgen könne sie voraussichtlich ihren Lebensunterhalt bestreiten.
Ergänzend hat die Antragstellerin Rentenauskünfte der Deutschen Rentenversicherung Bund vorgelegt, wonach sich die Altersrente
ab dem 01.07.2016 voraussichtlich auf 866,39 EUR brutto und eine Altersrente für Frauen ab dem 01.07.2014 auf 827,08 EUR brutto
(5,7 % Rentenminderung) belaufen werde.
Der Antragsgegner hat vorgetragen, er habe die Antragstellerin unter Berücksichtigung der Weisungen der Bundesagentur für
Arbeit zur Beantragung der vorzeitigen Altersrente aufgefordert. Auch unter Berücksichtigung der Unbilligkeitsverordnung sei
danach kein Ausnahmefall gegeben.
Durch Beschluss vom 23.10.2014 hat das Sozialgericht den Antrag abgelehnt. Auf die Gründe wird Bezug genommen.
Gegen diesen Beschluss hat die Antragstellerin am 21.11.2014 Beschwerde eingelegt.
II.
Die zulässige Beschwerde ist begründet.
Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 25.07.2014, mit dem die Antragstellerin
zur Stellung eines Antrags auf vorzeitige Altersrente nach §§ 5 Abs. 3, 12a SGB II aufgefordert worden ist, ist nach §
86b Abs.
1 SGG zulässig (vgl. hierzu Beschluss des Senats vom 22.05.2013 - L 19 AS 291/13 B ER -, m.w.N.) und begründet.
Bei der Entscheidung über die Anordnung der aufschiebende Wirkung hat das Gericht eine Abwägung des Interesses des Antragstellers,
die Wirkung des angefochtenen Bescheides (zunächst) zu unterbinden (Aussetzungsinteresse), mit dem Vollzugsinteresse der Antragsgegnerin
vorzunehmen. Dabei besteht ein Regel-Ausnahmeverhältnis. In der Regel überwiegt das Vollzugsinteresse des Antragsgegners.
Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs ist anzuordnen, wenn das Aussetzungsinteresse das Vollzugsinteresse überwiegt.
Dies ist der Fall, wenn mehr gegen als für die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes spricht.
Vorliegend überwiegt das Aussetzungsinteresse der Antragstellerin das Vollzugsinteresse des Antragsgegners.
Der Bescheid vom 25.07.2014 ist wegen fehlerhafter Ermessensausübung rechtswidrig. Die Aufforderung eines Leistungsberechtigten
zur Stellung eines Antrags auf vorzeitige Altersrente nach §§ 5 Abs. 3, 12a SGB II steht im Ermessen des Leistungsträgers (vgl. hierzu Beschluss des Senats vom 22.05.2013 - L 19 AS 291/13 B ER -, m.w.N). Bei dem in § 5 Abs. 3 S. 1 SGB II enthaltenen Wort "können" handelt sich nicht um ein bloßes "Kompetenz-Kann" (vgl. LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 18.11.2014
- L 10 AS 2254/14 B -, m.w.N.). Vielmehr hat der Leistungsträger das Ermessen nach dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen
Grenzen des Ermessens einzuhalten (§
39 Abs.
1 S. 1
SGB I). Damit korrespondierend hat der Leistungsberechtigte einen Anspruch auf die pflichtgemäße Ausübung des Ermessen (§
39 Abs.
1 S. 2
SGB I).
Der Bescheid vom 25.07.2014 verletzt die Antragstellerin in ihrem Recht auf fehlerfreien Ermessensgebrauch. Der Antragsgegner
hat zwar erkannt, dass die Antragstellerin einen Anspruch auf eine pflichtgemäße Ausübung des Ermessens hat, er hat aber die
Ermessenausübung nicht hinreichend begründet. Gemäß § 35 Abs. 1 S. 3 SGB X muss die Begründung von Ermessensentscheidungen die Gesichtspunkte erkennen lassen, von denen der Leistungsträger bei der
Ausübung seines Ermessens ausgegangen ist. Der Leistungsträger muss daher seine Gründe für die Aufforderung von Leistungsberechtigten
zur Rentenantragstellung in seinem Aufforderungsschreiben darlegen. Wie bei einer gebundenen Entscheidung (§ 35 Abs. 1 S. 1 SGB X) muss die Begründung dieser Ermessensentscheidung die erforderlichen wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Gründe anführen
sowie die Gründe für die Ausübung des Ermessens, also die maßgebenden Erwägungen zur Zweckmäßigkeit der getroffenen Entscheidung
und deren Gewichtung, erkennen lassen. Formelhafte Wendungen, etwa dass "keine Besonderheiten gegeben" seien oder "hinsichtlich
der Umstände nichts besonderes ersichtlich" sei, reichen für die vorgeschriebene Begründung von Ermessensentscheidungen nicht
aus, weil bei derartigen "Leerformeln" nicht nachgeprüft werden kann, ob der Leistungsträger von seinem Ermessen überhaupt
und ggf. in einer dem Zweck der ihm erteilten Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat. Erforderlich ist eine
auf den Einzelfall eingehende Darlegung, dass und welche Abwägung der einander gegenüberstehenden Interessen stattgefunden
hat und welchen Erwägungen dabei die tragende Bedeutung zugekommen ist, damit dem Betroffenen bzw. dem Gericht die Prüfung
ermöglicht wird, ob die Ermessensausübung den gesetzlichen Vorgaben entspricht. Dazu sind die für die Ermessensentscheidung
relevanten, von Amts wegen ermittelten (§ 20 SGB X) Verhältnisse des Einzelfalls darzustellen (vgl. BSG, Urteil vom 18.04.2000 - B 2 U 19/99 R - SozR 3-2700 § 76 Nr. 2 - m.w.N; Mutschler in Kasseler Kommentar, § 35 Rn. 16f m.w.N., Stand März 2013; Engelmann in von Wulffen/Schütze, SGB X, 8 Aufl. 2014, § 35 Rn. 7f m.w.N.).
Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze mangelt es vorliegend an einer ordnungsgemäßen Begründung der Ermessensentscheidung.
Der Antragsgegner hat lediglich pauschal dargelegt, dass der Antragstellerin bei Abwägung mit seinem Interesse an wirtschaftlicher
und sparsamer Verwendung von Leistungen die Beantragung der vorzeitigen Rente zumutbar sei, ohne dass er konkret i.S.v. §
35 SGB X begründet hat, aus welchen Gründen im Einzelfall die Ermessensabwägung zu Ungunsten der Antragstellerin erfolgt. Bei der
Begründung, "es seien keine maßgeblichen Gründe ersichtlich, die gegen eine Beantragung einer vorgezogenen Altersrente" sprächen,
handelt es sich um eine Leerformel. Es ist aus der Begründung nicht erkennbar, welche Gründe der Antragsgegner als "maßgeblich"
betrachtet und weshalb solche Gründe bei der Antragstellerin nicht vorliegen. Der Sachverhalt ist dadurch gekennzeichnet,
dass der Antragsgegner die für die Ermessensabwägung relevanten Verhältnisse der Antragstellerin überhaupt nicht ermittelt
hat und damit nicht in der Ermessensabwägung berücksichtigen konnte. Eine Anhörung der Antragstellerin nach § 24 SGB X vor Erlass der Bescheides ist ebenfalls nicht erfolgt. Es ist nicht auf Aufgabe der Gerichte, die Feststellungen und die
darauf basierende Abwägung nachzuholen.
Nach der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren möglichen Prüfungsdichte bestehen keine Anhaltspunkte für einen Fall der Ermessensreduzierung
auf Null zu Gunsten des Antragsgegners (siehe zur Ermessensausübung im Fall einer Aufforderung nach § 5 Abs. 3 S. 1 SGB II: LSG Berlin-Brandenburg, Beschlüsse vom 18.11.2014 - L 10 AS 2254/14 B ER und vom 05.11.2014 - L 25 AS 2731/14 B ER, m.w.N.; LSG Sachsen, Beschluss vom 28.08.2014 - L 7 AS 836/14 B ER, m.w.N.).
Die Kostenentscheidung folgt aus der entsprechenden Anwendung des §
193 SGG.
Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde an das Bundesozialgericht anfechtbar (§
177 SGG).