Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Form der Regelleistung
Aussetzung der Vollstreckung durch einstweilige Anordnung
Ordnungsgemäße Ermessensentscheidung
Aussetzung nur in Ausnahmefällen
1. Bei der im Rahmen einer Entscheidung über die Aussetzung der Vollstreckung durch einstweilige Anordnung auszuübenden Ermessensentscheidung
sind die Interessen des Gläubigers an der Vollziehung des Titels mit dem Interesse des Schuldners, nicht vor der Beendigung
des Instanzenzuges leisten zu müssen, abzuwägen.
2. In die Ermessensentscheidung einzustellen sind die Folgen einer Ablehnung der Vollstreckungsaussetzung bei nachfolgender
Aufhebung des angefochtenen Beschlusses einerseits und die Folgen einer Stattgabe des Aussetzungsantrages bei nachfolgender
Zurückweisung der Beschwerde andererseits.
3. Zu beachten ist der grundsätzliche Wille des Gesetzgebers, Berufungen bzw. Beschwerden in der Regel keine aufschiebende
Wirkung zuzumessen.
4. Eine Aussetzung ist daher nur in Ausnahmefällen zuzulassen, wenn das Rechtsmittel offensichtlich Aussicht auf Erfolg hat.
Gründe
Die Entscheidung beruht auf §
199 Abs.
2 SGG. Danach kann der Vorsitzende des Gerichts, das über das Rechtsmittel zu entscheiden hat, die Vollstreckung durch einstweilige
Anordnung aussetzen, wenn das Rechtsmittel keine aufschiebende Wirkung hat.
Der Aussetzungsantrag ist zulässig. Der vom Antragsteller mit der Beschwerde angefochtene Beschluss des Sozialgerichts ist
ein vollstreckbarer Titel (§
199 Abs.
1 Nr.
2 SGG). Mit ihm wurde der Antragsteller als Antragsgegner des Eilverfahrens im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, Leistungen
zur Sicherung des Lebensunterhalts in Form des Regelleistung für die Zeit vom 02.12.2016 bis zum 27.03.2017 an die Antragsgegnerin
vorläufig zu erbringen, wobei die Zahlbeträge beziffert worden sind.
Der Antrag ist teilweise begründet. Im Rahmen des bei der Entscheidung nach §
199 Abs.
2 SGG auszuübenden Ermessens (BSG, Beschluss vom 08.12.2009 - B 8 SO 17/09 R m.w.N.; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 28.06.2013 - L 11 SF 74/13 ER mit Zusammenfassung des Meinungstandes; Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 11. Aufl., § 199 Rn. 8 m.w.N.; abweichend BSG, Beschluss vom 06.08.1999 - B 4 RA 25/98 B) sind die Interessen des Gläubigers an der Vollziehung des Titels mit dem Interesse des Schuldners, nicht vor der Beendigung
des Instanzenzuges leisten zu müssen, abzuwägen. Zu gewichten sind daher die Folgen einer Ablehnung der Vollstreckungsaussetzung
bei nachfolgender Aufhebung des angefochtenen Beschlusses einerseits und die Folgen einer Stattgabe des Aussetzungsantrages
bei nachfolgender Zurückweisung der Beschwerde andererseits (Leitherer, a.a.O., § 199 Rn. 8 m.w.N.). Bei der Abwägung ist
der in §
154 Abs.
2 SGG bzw. §
175 S. 1
SGG zum Ausdruck kommende Wille des Gesetzgebers zu berücksichtigen, Berufungen bzw. Beschwerden in der Regel keine aufschiebende
Wirkung zuzumessen. Diese gesetzliche Wertung legt nahe, eine Aussetzung nur in Ausnahmefällen zuzulassen, wenn das Rechtsmittel
offensichtlich Aussicht auf Erfolg hat (BSG, Beschluss vom 08.12.2009 - B 8 SO 17/09 R). Dies gilt umso mehr, als bei der Nichtgewährung existenzsichernder Leistungen
regelmäßig das Individualinteresse höher als das öffentliche Interesse anzusetzen ist (BSG, Beschluss vom 08.12.2009 - B 8 SO 17/09 R m.w.N.).
Bei der Abwägung der Interessen des Antragstellers, die Nachteile, die für ihn regelmäßig mit der Zwangsvollstreckung aus
dem Titel verbunden sind, abzuwenden mit den Interessen der Antragsgegnerin auf Erhalt von existenzsichernden Leistungen in
Form des Regelbedarfs überwiegen die Interessen der Antragsgegnerin für die Zeit ab dem 29.12.2016. Nach derzeitiger Aktenlage
hat die Antragsgegnerin das Vorliegen der Leistungsvoraussetzungen des § 7 Abs. 1 S. 1 SGB II nachvollziehbar dargelegt. Insbesondere hat sie in der Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse
angegeben, kein Einkommen zu beziehen. Insoweit ist im Beschwerdeverfahren zu klären, ob die Antragsgegnerin Krankengeld bezieht.
Nach summarischer Prüfung ist offen, ob der Leistungssauschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II i.d.F. vom 22.12.2016 (Gesetz vom 22.12.2016, BGBl. I 3155, in Kraft getreten zum 29.12.2016, - n.F. -) zu Ungunsten der
Antragsgegnerin für die Zeit ab dem 29.12.2016 eingreift. Dabei kann dahinstehen, ob die Antragsgegnerin ein Aufenthaltsrecht
aus § 2 Abs. 3 FreizügG/EU ableiten kann. Denn nach § 7 Abs. 2 S. 3 SGB II n.F. erhalten Ausländerinnen und Ausländer und ihre Familienangehörigen Leistungen nach diesem Buch abweichend von Satz 2
Nummer 2, wenn sie seit mindestens fünf Jahren ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet haben. Die Antragsgegnerin ist
nach der im erstinstanzlichen Verfahren vorlegten Meldebescheinigung seit dem 16.04.2011 unter der Anschrift G 00, X gemeldet
und hat damit länger als fünf Jahren ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet. Grund für die Einreise war nach Angaben
der Antragsgegnerin der Zuzug zu ihrem Lebensgefährten. Anhaltspunkte für eine längere Unterbrechung des Aufenthalts der Antragsgegnerin
im Bundesgebiet nach ihrer Einreise sind nicht ersichtlich. Eine Verlustfeststellung des Freizügigkeitsrechts seitens der
Ausländerbehörde ist nicht erfolgt.
Bei der Abwägung der Interessen des Antragstellers, die Nachteile, die für ihn regelmäßig mit der Zwangsvollstreckung aus
dem Titel verbunden sind, abzuwenden mit den Interessen der Antragsgegnerin auf Erhalt von existenzsichernden Leistungen in
Form des Regelbedarfs für die Zeit vom 02.12.2016 bis zum 28.12.2016 überwiegen die Interessen des Antragstellers. Offen ist,
ob die Antragsgegnerin sich auf ein Aufenthaltsrecht aus § 2 Abs. 3 FreizügG/EU für die Zeit vom 02.12.2016 bis zum 28.12.2016, das dem Leistungsauschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II a.F. entgegensteht, berufen kann. Nach § 2 Abs. 3 S. 1 Nr. 1, S. 2 FreizügG/EU wirkt die durch eine Erwerbstätigkeit erworbene Arbeitnehmereigenschaft i.S.v. § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU bei unfreiwilliger und durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigter Arbeitslosigkeit nach - wie vorliegend - weniger
als einem Jahr Beschäftigung während der Dauer von 6 Monaten fort und vermittelt ein Aufenthaltsrecht. Unfreiwilligkeit der
Arbeitslosigkeit liegt vor, wenn diese unabhängig von dem Willen des Antragstellers bzw. nicht aus einem in seinem Verhalten
liegenden Grund eingetreten oder durch einen legitimen Grund für die Beendigung des Arbeitsverhältnisses von seiner Seite
gerechtfertigt ist bzw. wenn der Arbeitnehmer die Gründe, die zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses (Kündigung/Aufhebungsvertrag)
geführt haben, nicht zu vertreten hat (vgl. Beschluss des Senats vom 17.03.2016 - L 19 AS 390/16 B ER m.w.N.). Insoweit spricht nach derzeitigem Kenntnisstand vieles dafür, dass die Antragsgegnerin - auch unter Berücksichtigung
der im Arbeitsvertrag unter Ziffer 13.3 geregelten Meldepflichten bei Arbeitsverhinderung sowie der in Ziffer 5.3. geregelten
wichtigen Gründe für eine außerordentliche Kündigung - die vorzeitige Beendigung des auf den 30.10.2016 befristeten Arbeitsvertrages
durch eine außerordentliche Kündigung der Arbeitgeberin vom 26.09.2016 zum 27.09.2016 zu vertreten hat. Soweit das Sozialgericht
darauf abstellt, dass die Antragsgegnerin jedenfalls nach Ablauf der Befristung des Arbeitsverhältnisses zum 30.10.2016 arbeitslos
geworden wäre und zu diesem Zeitpunkt sich auf ein Aufenthaltsrecht aus § 2 Abs. 3 FreizügG/EU berufen könne, ist fraglich, ob der Gesichtspunkt einer überholenden Kausalität bei der Prüfung eines Aufenthaltsrechts aus
§ 2 Abs. 3 FreizügG/EU zu beachten ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von §
193 SGG.
Die Anordnung der Aussetzung der Vollstreckung ist unanfechtbar (§
199 Abs.
2 S. 3
SGG).