Anspruch auf Leistungen der Hilfe zur Pflege nach dem SGB XII
Prüfung der Pflegebedürftigkeit ab dem 1. Januar 2017 nach neuem Recht
Anspruch auf Erweiterung des Regelsatzes bei Bedarf an Hilfen im Bereich der geringfügigen Pflegeleistungen
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt von der Beklagten Leistungen der Hilfe zur Pflege auch für die Zeit ab Juli 2017.
Die 1940 geborene Klägerin ist ukrainische Staatsbürgerin. Sie siedelte im Mai 2005 in die Bundesrepublik Deutschland über
und ist Inhaberin einer Niederlassungserlaubnis nach § 23 Abs. 2 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG). Sie erhält seither von der Beklagten Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. In ihrer Wohnung
lebt sie allein. Bei den täglichen Verrichtungen erhält sie Hilfe von ihrem Neffen und dessen Ehefrau. Die Klägerin bezieht
Leistungen aus der gesetzlichen Krankenversicherung nach §
264 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB V). Sie ist nicht Mitglied in der gesetzlichen Krankenversicherung und sozialen Pflegeversicherung. Die Leistungen erfolgen
gegen Erstattung.
Am 24. November 2009 beantragte die Klägerin bei der Beklagten, ihr Leistungen der Hilfe zur Pflege zu gewähren. Daraufhin
fertigte das Gesundheitsamt der Beklagten am 22. Dezember 2009 ein Gutachten zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit der
Klägerin an. Dabei wurde ein Zeitaufwand von fünf Minuten täglich für die Grundpflege ermittelt und ein solcher für die hauswirtschaftliche
Versorgung von 40 Minuten täglich. Auf dieser Grundlage bewilligte die Beklagte der Klägerin Leistungen der Hilfe zur Pflege
ab Januar 2012 in Höhe von zuletzt 97,60 EUR monatlich (Bescheide vom 6. Januar 2012 und 30. Januar 2015). Da die Klägerin
mit einem Grundpflegebedarf von fünf Minuten täglich nur leicht pflegebedürftig sei, werde sie der sogenannten Pflegestufe
"0" zugeordnet (Bezug: 40 % des Pflegebedarfs der Pflegestufe I).
Nachdem das Dritte Pflegestärkungsgesetz (PSG III) vom 23. Dezember 2016 (BGBl. I, Seite 3191) zum 1. Januar 2017 in Kraft getreten war, veranlasste die Beklagte eine Begutachtung der Klägerin nach dem neuen Begutachtungsinstrument.
Im Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK) vom 20. Juni 2017 wurden folgende pflegebegründende Diagnosen
festgestellt:
- nachlassende körperliche Kräfte im Alter - Sehminderung beidseits - Bluthochdruck - Harnteilinkontinenz - Zustand nach Basalzellkarzinomentfernung
im Bereich des Kopfes.
Die Versorgungssituation wurde wie folgt beschrieben: Der Neffe helfe der Klägerin an vier Tagen pro Woche nachmittags bei
der Haushaltsführung. Dessen Ehefrau unterstütze an einem Tag pro Woche bei körperbezogenen Maßnahmen sowie an vier Tagen
pro Woche nachmittags bei der Haushaltsführung.
Die Summe der gewichteten Punkte betrage "0". Es bestehe kein Pflegegrad.
Darauf hin erging der Aufhebungsbescheid vom 26. Juni 2017. Nachdem die Klägerin keinem Pflegegrad zuzuordnen sei, sei die
Entscheidung über die Bewilligung von Leistungen der Hilfe zur Pflege aufzuheben zum 1. Juli 2017. Die Beklagte kündigte an,
wegen dieser Entscheidung den Bedarf der Klägerin an Hauswirtschaftshilfe und/oder Essen auf Rädern von Amts wegen zu prüfen.
In ihrem Widerspruch vom 18. Juli 2017 führte die Klägerin aus, dass der MDK den Pflegebedarf unzureichend festgestellt habe.
Ihr Neffe habe den Pflegebedarf durch ein EDV-Programm ermittelt. Demnach sei die Klägerin bei 68,75 gewichteten Punkten dem
Pflegegrad III zuzuordnen.
Darauf hin erstellte der MDK auf Bitte der Beklagten das weitere Pflegegutachten vom 2. November 2017. Demnach erfolge das
Treppensteigen überwiegend selbständig (ein Einzelpunkt). Ferner könne die Klägerin das Duschen und Baden überwiegend selbständig
ausführen (ein Einzelpunkt). Im Ergebnis seien keine gewichteten Punkte zu verzeichnen, weshalb die Klägerin keinem Pflegegrad
zuzuordnen sei.
Die Beklagte erließ sodann den Widerspruchsbescheid vom 5. Januar 2018. Nachdem kein pflegerischer Bedarf nach § 63a Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) festzustellen sei, könnten Leistungen der Hilfe zur Pflege nicht mehr gewährt werden. Rechtsgrundlage für die Aufhebungsentscheidung
sei § 48 Abs. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X). Danach sei ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen,
die bei seinem Erlass vorgelegen hätten, eine wesentliche Änderung eingetreten sei. Bei dem zum 1. Januar 2017 in Kraft getretenen
PSG III handele es sich um eine wesentliche Änderung der rechtlichen Verhältnisse. In Folge dessen bestehe für die Klägerin
kein Anspruch auf Leistungen der Hilfe zur Pflege mehr.
Bereits zuvor, durch Hausbesuch am 19. Dezember 2017, hatte die Beklagte den Bedarf der Klägerin an Hilfen im hauswirtschaftlichen
Bereich auf 2,5 Stunden pro Woche eingeschätzt. Auf dieser Grundlage erging der Bescheid vom 5. Februar 2018. Die Beklagte
erweiterte den Regelsatz der Klägerin mit Wirkung ab dem 1. Juli 2017 um 65,00 EUR monatlich für derartige Leistungen der
Hauswirtschaftshilfe (berechnet wie folgt: 2,5 Stunden wöchentlich x 6,00 EUR pro Stunde für Leistungen durch Familienangehörige
x 52 Wochen / 12 Monate). In ihrem Widerspruch vom 7. März 2018 teilte die Klägerin mit, dass sich ihr Bedarf an Hauswirtschaftshilfe
auf vier Stunden wöchentlich belaufe, ohne dass sie dies näher begründet hätte. Die Beklagte prüfte den Vortrag der Klägerin
nochmals durch ihren Sachbereich "Pflege". Aufgrund der Stellungnahme dieses Sachgebiets vom 13. März 2018 erließ die Beklagte
sodann den Widerspruchsbescheid vom 27. April 2018. Ein höherer zeitlicher Bedarf sei nicht festzustellen. Dabei habe die
Beklagte die im Widerspruch der Klägerin angegebenen Zeiten für das Reinigen der Wohnung und Waschen der Wäsche anerkannt.
Bei den Einkäufen gehe die Beklagte allerdings von 30 Minuten aus, da diese geplant werden könnten und eine Vorratshaltung
möglich sei.
Gegen den Bescheid vom 26. Juni 2017 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 5. Januar 2018 hat sich die am 2. Februar
2018 vor dem Sozialgericht Leipzig erhobene Klage gerichtet, die unter dem Aktenzeichen S 10 SO 11/18 anhängig gewesen ist.
Ferner hat sich die Klägerin gegen den Bescheid vom 5. Februar 2018 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 27. April
2018 mit der am 23. Mai 2018 erhobenen Klage an das Sozialgericht Leipzig gewandt, die unter dem Aktenzeichen S 10 SO 56/18
anhängig gewesen ist. Beide Streitsachen hat das Sozialgericht während der mündlichen Verhandlung am 7. Mai 2019 zur gemeinsamen
Verhandlung und Entscheidung verbunden.
Zur Begründung hat die Klägerin ausgeführt, dass sie ab Juli 2017 Leistungen der Hilfe zur Pflege nach dem Pflegegrad 3 beanspruchen
könne. Dies habe das Gutachten zur Pflegebedürftigkeit ergeben, welches der Neffe der Klägerin mit Hilfe eines Internetportals
erstellt habe. Demgegenüber habe der MDK den Pflegebedarf nur oberflächlich erhoben. Zudem bestehe ein Bedarf von mindestens
vier Stunden wöchentlich an Hilfe im Bereich der Hauswirtschaft.
Das Sozialgericht hat darauf hin das Pflegegutachten des Dipl.-Pflegewirts B ... eingeholt, welches dieser am 3. November
2018 erstellt hat. Demnach ist es der Klägerin möglich, Treppen mit Hilfe zu steigen. Aufgrund der Teilharninkontinenz nutze
die Klägerin kleine Vorlagen, welche diese selbst wechsle. Die Orientierung der Klägerin sei uneingeschränkt. Es bestünden
keine Veränderungen der Wahrnehmung und des Denkens. Die Summe der gewichteten Punkte belaufe sich auf 2,5. Die Wertungen
beider MDK-Gutachten seien im Wesentlichen zu bestätigen. Die Behauptungen der Klägerin in ihren Widersprüchen ließen sich
hingegen nicht objektivieren. Den Hilfebedarf im Bereich der Hauswirtschaft habe die Beklagte umsichtig und sachgerecht ermittelt.
In der Summe seien 2,5 Stunden pro Woche ausreichend.
Das Sozialgericht hat die angefochtenen Bescheide aufgehoben (Urteil vom 7. Mai 2019). Eine wesentliche Änderung der Verhältnisse
sei nicht eingetreten. Da sich der tatsächliche Hilfebedarf der Klägerin nicht verringert habe, sei der fortbestehende Bedarf
als Hilfe in besonderen Lebenslagen zu decken.
Gegen das ihr am 19. Juni 2019 zugstellte Urteil wendet sich die Beklagte mit der am 10. Juli 2019 beim Sächsischen Landessozialgericht
eingelegten Berufung. Die Klägerin könne seit dem 1. Januar 2017 keinem Pflegegrad zugeordnet werden. Darin sei die wesentliche
Änderung in den rechtlichen Verhältnissen zu sehen, weshalb die Klägerin nach Inkrafttreten des PSG III zeitnah nach dem neuen
Begutachtungsinstrument begutachtet worden sei. Da der MDK keinen Pflegedarf ermittelt habe, welcher die Zuordnung der Klägerin
zu einem Pflegegrad gerechtfertigt habe, sei die Entscheidung über die Bewilligung von Leistungen der Hilfe zur Pflege aufzuheben
gewesen. Die Beklagte habe sodann den Bedarf der Klägerin an hauswirtschaftlichen Hilfen mit 2,5 Stunden pro Woche festgestellt.
Letztlich sei sowohl der Pflegebedarf der Klägerin als auch ihr Bedarf an hauswirtschaftlichen Hilfen durch das Gutachten
des Pflegesachverständigen B ... im erstinstanzlichen Verfahren bestätigt worden. Da die Leistungen der Hilfe zur Pflege im
SGB XII in den §§ 61 ff. geregelt seien, sei ein Rückgriff auf § 73 SGB XII nicht möglich. Der Gesetzgeber habe den Personenkreis mit nur geringem Hilfebedarf - darunter auch laufende Fälle - von Leistungen
der Hilfe zur Pflege ausgeschlossen. Damit sei er vom Grundsatz der Bedarfsdeckung abgekehrt. Deshalb bestünden verfassungsrechtliche
Bedenken. Ein atypischer Sachverhalt im Sinne des § 73 SGB XII sei jedoch nicht ersichtlich.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Leipzig vom 7. Mai 2019 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
das Urteil des Sozialgerichts Leipzig vom 7. Mai 2019 zu ändern und festzustellen, dass ihr in Erweiterung des Regelsatzes
35,00 EUR zusätzlich pro Monat für die Gesundheitspflege gewährt werden ab dem 1. Juli 2017.
Die Klägerin meint, dass sie Leistungen der Hilfe zur Pflege auch über den 1. Juli 2017 hinaus beanspruchen könne. Die Aufhebungsentscheidung
der Beklagten sei rechtswidrig. Jedenfalls seien ihr weiterhin Leistungen der Sozialhilfe zur Deckung des fortbestehenden
Bedarfs an körperbezogenen Pflegemaßnahmen zu erbringen. Höhere Leistungen an hauswirtschaftlichen Hilfen macht die Klägerin
im Berufungsrechtszug nicht mehr geltend.
Der Vorsitzende hat die Sache am 6. Dezember 2019 als Einzelrichter mündlich verhandelt, diese aber auf den Senat zurückübertragen,
nachdem er sich von der rechtsgrundsätzlichen Bedeutung der Angelegenheit überzeugt hat. Wegen der weiteren Einzelheiten wird
auf das Protokoll vom 6. Dezember 2019, im Übrigen auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie auf die beigezogenen Verwaltungsakte
verwiesen, die Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Der Senat konnte den Rechtstreit durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden, nachdem sich die Beteiligten mit einem
solchen Vorgehen einverstanden erklärt haben (vgl. §
124 Abs.
2 Sozialgerichtsgesetz [SGG]).
Die statthafte, form- und fristgerecht eingelegte Berufung (§§
143,
151 SGG) der Beklagten ist begründet und führt zur Aufhebung der angefochtenen erstinstanzlichen Entscheidung unter Abweisung der
Klage.
Anzumerken ist zunächst, dass der Tenor der erstinstanzlichen Entscheidung nicht zur offensichtlich beabsichtigten Leistungsverpflichtung
der Beklagten führt. Das Sozialgericht hat sowohl den Bescheid vom 26. Juni 2017 in der Fassung des Widerspruchsbescheides
vom 5. Januar 2018 als auch den Bescheid vom 5. Februar 2018 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 27. April 2018
aufgehoben. Daraus ergibt sich allerdings nicht, dass die Beklagte der Klägerin Leistungen der Sozialhilfe zu erbringen hätte.
Bezogen auf die Aufhebung der Bewilligung von Leistungen der Hilfe zur Pflege geht das Sozialgericht selbst davon aus, dass
nicht diese Leistungen, sondern solche der Hilfe in besonderen Lebenslagen (§ 73 SGB XII) zu gewähren seien. Dies ist dem Tenor jedoch nicht zu entnehmen. Soweit das Sozialgericht auch den Bescheid vom 5. Februar
2018 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 27. April 2018 aufgehoben hat, ist darauf hinzuweisen, dass damit die Rechtsgrundlage
für die Gewährung von Leistungen der Hauswirtschaftshilfe entfallen würde. Dies läge nicht im wohlverstandenen Interesse der
Klägerin, gerade weil sie insoweit höhere Leistungen im Berufungsrechtszug nicht mehr geltend gemacht hat. Die darauf bezogene
Klage war abzuweisen, da der Sachverständige B. den von der Beklagten erhobenen Bedarf nachvollziehbar bestätigt hat. Nachdem
die Klägerin im Rechtsmittelverfahren dazu nicht weiter ausgeführt hat, ist der erstinstanzlich erhobene Anspruch auf höhere
Leistungen der Hauswirtschaftshilfe im Berufungsrechtszug nicht mehr streitgegenständlich.
Die Klage war auch abzuweisen, soweit sie sich auf die von der Klägerin geltend gemachten Leistungen der Hilfe zur Pflege
über den 1. Juli 2017 hinaus bezieht. Die Beklagte hat zu Recht die Entscheidung über die Bewilligung von Leistungen der Hilfe
zur Pflege aufgehoben.
Bezüglich der über den 1. Juli 2017 hinaus geltend gemachten Leistungen der Hilfe zur Pflege ist Rechtsgrundlage für die Aufhebung
§ 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Danach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder
rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Bezogen auf die wesentlichen
Änderungen sind die Verhältnisse, die beim Erlass des Dauerverwaltungsaktes bestanden haben, zu vergleichen mit den im Zeitpunkt
der in Aussicht genommenen Aufhebung bestehenden Verhältnissen (Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 13. März 2001 - B 3 P 20/00 R - SozR3-3300 § 18 Nr. 2; Urteil vom 30. Oktober 2001 - B 3 P 7/01 R).
Damit sind die tatsächlichen Verhältnisse, die dem Bescheid vom 6. Januar 2012 zugrunde gelegen haben zu vergleichen mit denen,
die dem Aufhebungsbescheid vom 26. Juni 2017 zugrunde gelegt worden sind. Im Gutachten vom 22. Dezember 2009 hat die Beklagte
einen Zeitaufwand von fünf Minuten täglich für die Grundpflege sowie von 40 Minuten für die hauswirtschaftliche Versorgung
angenommen. Der MDK ist in seinem Gutachten vom 20. Juni 2017 und 2. November 2017 davon ausgegangen, dass keine gewichteten
Punkte zu verzeichnen seien und die Klägerin deshalb keinem Pflegegrad zugeordnet werden könne. Diese Wertungen hat der Sachverständige
B ... in seinem Gutachten vom 3. November 2018 im Wesentlichen bestätigt. Wenngleich er von 2,5 gewichteten Punkten ausgeht,
ist auch aus seiner Sicht kein Pflegegrad festzustellen. Damit ergibt der Vergleich der tatsächlichen Verhältnisse, ungeachtet
der unterschiedlichen Begutachtungsrichtlinien für die Zeit bis zum 31. Dezember 2016 sowie für die Zeit ab dem 1. Januar
2017, dass sich der Pflegebedarf der Klägerin allenfalls geringfügig erhöht hat. Darin ist eine Änderung zu erkennen. Diese
ist aber nicht wesentlich, da die Klägerin keinem Pflegegrad zugeordnet werden kann. Nach wie vor ist der Pflegebedarf als
geringfügig zu bewerten.
Allerdings haben sich die rechtlichen Verhältnisse aufgrund des zum 1. Januar 2017 in Kraft getretenen PSG III wesentlich
geändert. Denn damit ist ein neuer Begriff der Pflegebedürftigkeit in den §§
14,
15 Elftes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB XI) sowie im § 61 SGB XII eingeführt worden. Pflegebedürftige sind nach §
14 Abs.
1 SGB XI nunmehr Personen, die Beeinträchtigungen in der Selbständigkeit oder Fähigkeitsstörungen nach näherer Bestimmung des §
14 Abs.
2 SGB XI aufweisen und deshalb der Hilfe durch andere bedürfen. Der Hilfebedarf muss auf den Beeinträchtigungen der Selbständigkeit
oder den Fähigkeitsstörungen beruhen. Andere Ursachen für Hilfebedarf - etwa die bis zum 31. Dezember 2016 festzustellende
Krankheit im Sinne des §
14 Abs.
2 SGB XI a.F. - bleiben außer Betracht. Die Beeinträchtigungen der Selbständigkeit und der Fähigkeitsstörungen werden personenbezogen
und unabhängig vom jeweiligen Wohnumfeld ermittelt.
Aufgrund der umfassenden Reform des Begriffs der Pflegebedürftigkeit haben sich die rechtlichen Verhältnisse zum 1. Januar
2017 im Vergleich zum Zeitpunkt des Erlasses der Bescheide über die Bewilligung von Leistungen der Hilfe zur Pflege bis zum
31. Dezember 2016 wesentlich geändert.
Da die Klägerin weder gesetzlich krankenversichert (§
264 SGB V) noch sozial pflegeversichert ist, hat sie keinen Anspruch auf Leistungen nach dem
SGB XI. Insbesondere besteht kein Beitrittsrecht nach §
26 a Abs.
3 Satz 1
SGB XI. Danach besteht ab dem 1. Juli 2002 ein Beitrittsrecht zur sozialen oder privaten Pflegeversicherung nur für nicht pflegeversicherte
Personen, die als Zuwanderer oder Auslandsrückkehrer bei Wohnsitznahme im Inland keinen Tatbestand der Versicherungspflicht
nach diesem Buch erfüllen und das 65. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, sowie für nicht versicherungspflichtige Personen
mit Wohnsitz im Inland, bei denen die Ausschlussgründe nach §
26 a Abs.
1 Satz 2
SGB XI entfallen sind. Zwar hat die Klägerin einen Wohnsitz im Inland. Sie erfüllt aber keinen Tatbestand der Versicherungspflicht
oder Mitversicherung in der sozialen oder privaten Pflegeversicherung und hatte das 65. Lebensjahr bei ihrer Übersiedlung
in die Bundesrepublik Deutschland bereits vollendet. Darüber hinaus liegt der Ausschlussgrund nach §
26 a Abs.
1 Satz 2
SGB XI vor, da die Klägerin als Bezieherin von Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nicht dazu in der
Lage ist, einen Beitrag zu zahlen. Der Ausschluss der Grundsicherungsbezieher ist verfassungsgemäß, da bei Eintritt von Pflegebedürftigkeit
der Einsatz öffentlicher Mittel zu erfolgen hat. Sie geraten daher aufgrund anderweitiger Absicherung durch einen Sozialleistungsträger
nicht in existentielle Not und bedürfen daher nach der Ansicht des BSG des Schutzes durch die soziale Pflegeversicherung nicht (vgl. Urteil vom 21. September 2005 - B 12 P 6/04 R - SozR4-3300 § 26 a Nr. 2).
Die Klägerin könnte daher allenfalls Leistungen der Hilfe zur Pflege erhalten nach den §§ 61 ff. SGB XII. Die gesetzlichen Voraussetzungen in der Fassung seit dem 1. Januar 2017 liegen jedoch nicht vor. Nach § 61 Satz 1 SGB XII haben Personen, die pflegebedürftig im Sinne des § 61a SGB XII sind, Anspruch auf Hilfe zur Pflege, soweit ihnen und ihren nicht getrennt lebenden Ehegatten oder Lebenspartnern nicht zuzumuten
ist, dass sie die für die Hilfe zur Pflege benötigten Mittel aus dem Einkommen und Vermögen nach den Vorschriften des Elften
Kapitels aufbringen.
Die Klägerin ist zwar in diesem Sinne bedürftig, da sie nach den zutreffenden Feststellungen der Beklagten über kein einsetzbares
Einkommen nach den §§ 85 ff. SGB XII bzw. verwertbares Vermögen nach den §§ 90 ff. SGB XII verfügt. Daher bezieht die Klägerin von der Beklagten Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, um
ihr menschenwürdiges Existenzminimum zu sichern (für die Zeit vom 1. Januar 2017 bis zum 31. Dezember 2020 sind die Bescheide
vom 25. November 2016, 7. Dezember 2017, 5. Februar 2018, 27. November 2018 und 17. Dezember 2019 ergangen).
Die Klägerin ist jedoch nicht pflegebedürftig nach den Voraussetzungen des §§ 61a Abs. 1 SGB XII. Dieser ist mit Ausnahme der zeitlichen Untergrenze des
SGB XI (§
14 Abs.
1 Satz 3
SGB XI: auf Dauer, mindestens sechs Monate) inhaltsgleich mit §
14 Abs.
1 SGB XI. Darüber hinaus erhielten nach § 61 Abs. 1 Satz 2 SGB XII a.F. auch die Personen Hilfe zur Pflege, die - wie die Klägerin - einen geringeren Hilfebedarf aufwiesen, als ihn die soziale
Pflegeversicherung voraussetzte, also weniger als 45 Minuten täglich der Grundpflege bedurften, oder die Hilfe für andere
als die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen benötigten.
Diese Erweiterung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs ist im Zuge der Umstellung von drei Pflegestufen auf fünf Pflegegrade weggefallen,
da der Gesetzgeber die Leistungssysteme von SGB XII und
SGB XI angeglichen hat. Als pflegebedürftig im Sinne der Hilfe zur Pflege gelten daher nur solche Personen, die einem Pflegegrad
zugeordnet werden können. Wer somit nach dem Begutachtungsverfahren weniger als 12,5 gewichtete Gesamtpunkte erhält und keinem
Pflegegrad zugeordnet wird - wie die Klägerin - kann keine Leistungen der Hilfe zur Pflege mehr erhalten (Klie in: Hauck/Noftz,
SGB XII, Stand: 7/2019, §
61 a Rn. 9; Kruse in: LPK-
SGB XI, 5. Aufl. 2018, §
13 Rn. 24).
Anders als die Klägerin meint, war die Beklagte dazu gehalten, die Pflegebedürftigkeit der Klägerin zeitnah nach dem neuen
Recht zu beurteilen. § 137 SGB XII sieht die Zuordnung leistungsberechtigter pflegebedürftiger Personen zu einem Pflegegrad ohne erneute Begutachtung nur vor,
sofern diesen am 31. Dezember 2016 mindestens die Pflegestufe I zuerkannt gewesen ist (dies war bei der Klägerin nicht der
Fall). Nach § 138 Satz 1 SGB XII sind einer Person, die - wie die Klägerin - am 31. Dezember 2016 einen Anspruch auf Leistungen nach dem Siebenten Kapitel
in der am 31. Dezember 2016 geltenden Fassung hat, die ihr am 31. Dezember 2016 zustehenden Leistungen über diesen Tag hinaus
bis zum Abschluss des von Amts wegen zu betreibenden Verfahrens zur Ermittlung und Feststellung des Pflegegrades und des notwendigen
pflegerischen Bedarfs nach § 63a SGB XII in der ab dem 1. Januar 2017 geltenden Fassung weiter zu gewähren. Für den Fall, dass aufgrund der Ermittlung des Pflegebedarfs
nach neuem Recht geringere Leistungen zu gewähren sind als in der Fassung des Gesetzes bis zum 31. Dezember 2016, sind gemäß
§ 138 Satz 4 SGB XII keine Leistungen vom Betroffenen zu erstatten. Dies gilt zu Gunsten der Klägerin für die bis zum 30. Juni 2017 bezogenen
Leistungen der Hilfe zur Pflege.
Allerdings orientiert sich die Sozialhilfe am Bedarfsdeckungsprinzip. Art, Form und Maß der Sozialhilfe richten sich nach
der Besonderheit des Einzelfalles, vor allem nach der Person des Hilfeempfängers, der Art seines Bedarfs, den örtlichen Verhältnissen
(§ 9 Abs. 1 SGB XII). Zunächst bedarf es daher der Individualisierung bei der Feststellung einer Notlage. Ob durch das Eingreifen des Hilfeträgers
geholfen werden muss, setzt voraus, dass der Hilfeträger die Bedarfslage ermittelt. Auf der zweiten Entscheidungsebene muss
die zu gewährende Hilfe ihrem Zweck nach auf den einzelnen Leistungsberechtigten ausgerichtet werden. Auf der dritten Ebene
ist darauf zu achten, dass dem Betroffenen ein subjektives Leistungsrecht zugeordnet wird. Dieses Leistungsrecht ist in einem
umfassenden Sinn zu verstehen, als sogenannter "Gesamtfallgrundsatz". Der Hilfeträger darf sich nicht damit begnügen, nur
über das Vorliegen einer einzelnen Hilfeart zu entscheiden, auch wenn der Hilfeempfänger sein Begehren nur auf eine Hilfeart
abgestellt hat (Bundesverwaltungsgericht [BVerwG], Urteil vom 10. November 1965 - V C 104.64; Wahrendorf in: Grube/Wahrendorf, SGB XII, 6. Aufl. 2018, § 9 Rn. 20).
Nachdem im Zuge der Umstellung von drei Pflegestufen auf fünf Pflegegrade die Leistungssysteme von
SGB XI und SGB XII angeglichen worden sind, werden als pflegebedürftig auch im Sinne der Hilfe zur Pflege nur solche Personen berücksichtigt,
die in einem Pflegegrad eingestuft werden. Personen, die - wie die Klägerin - im Begutachtungsverfahren weniger als 12,5 Gesamtpunkte
erhalten und daher keinen Pflegegrad erreichen, erhalten - wie aufgezeigt - keine Leistungen der Hilfe zur Pflege mehr. In
der Literatur wird die Ansicht vertreten, dass damit gegenüber der Rechtslage bis zum 31. Dezember 2016 keine Verschlechterung
verbunden sei. Trotz des weiter reichenden Charakters des § 61 SGB XII a.F. seien die darin enthaltenen Bestimmungen durch den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff abgedeckt. Bereits der Beirat zur
Überprüfung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs sei in seinem Umsetzungsbericht davon ausgegangen, dass Personen, deren ermittelter
Gesamtpunktwert unter einem Schwellenwert von 15 Punkten liege, lediglich geringfügige Einbußen im Bereich der Selbständigkeit
aufwiesen, die aus pflegewissenschaftlicher Sicht keine Leistungen rechtfertigten; zumal andere Leistungen der Sozialhilfe,
darunter die der Klägerin bewilligten Leistungen der Haushaltshilfe, weiterhin möglich blieben (Klie in: Hauck/Noftz, SGB XII, Stand: 7/2019, § 61 a Rn. 9). Aus pflegewissenschaftlicher Sicht mag der Pflegebedarf der Klägerin geringfügig sein. Sozialhilferechtlich darf
jedoch auch dieser Bedarf nach dem Gesamtfallgrundsatz nicht offen bleiben.
Vor diesem Hintergrund ist die Berufungserwiderung der Klägerin vom 22. August 2019 in Verbindung mit ihrer Erklärung während
der mündlichen Verhandlung vom 6. Dezember 2019 sinngemäß als Anschlussberufung anzusehen. Diese ist im
SGG nicht ausdrücklich geregelt, aber nach §
202 Satz 1
SGG in Verbindung mit §
524 Zivilprozessordnung (
ZPO) möglich (vgl. z.B. BSG, Urteil vom 1. Juni 2006 - B 7a AL 86/05 R). Die Bindung des Gerichts bezieht sich auf den erhobenen Anspruch, nicht aber
auf die Fassung der Anträge (§
123 SGG). Wenn die Klage keinen nach §
92 SGG bestimmten Antrag enthält, der zu Zweifeln über das Gewollte keinen Anlass gibt, muss das Gericht mit dem Kläger klären,
was gewollt ist, und darauf hinwirken, dass sachdienliche und klare Anträge gestellt werden (§
106 Abs.
1 SGG, §
112 Abs.
2 Satz 2
SGG). Sofern erforderlich, muss der Antrag ausgelegt werden entsprechend §
133 Bürgerliches Gesetzbuch (
BGB). Dabei geht das Gericht von dem aus, was der Kläger mit der Klage erreichen möchte; im Zweifel wird dieser den Antrag stellen
wollen, der ihm am Besten zum Ziel verhilft ("Meistbegünstigungsprinzip", vgl. z.B. BSG, Urteil vom 6. April 2011 - B 4 AS 119/10 R - BSGE 108, 86, 92). Bei der Auslegung sind das gesamte Vorbringen und alle bekannten Umstände zu berücksichtigen (Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt,
SGG, 12. Aufl. 2017, §
123 Rn. 3). So kann die Auslegung beispielsweise ergeben, dass keine Anfechtungsklage, sondern eine Verpflichtungsklage gewollt
ist. Wenn die Auslegung nicht hilft, kann auch eine Umdeutung in Betracht kommen (Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt,
SGG, 12. Aufl. 2017, §
123 Rn. 3b).
In ihrer Berufungserwiderung hat die Klägerin angekündigt, die Zurückweisung des Rechtsmittels der Beklagtem beantragen zu
wollen, offenbar in der Annahme, dass aufgrund des angefochtenen Urteils Leistungen in unverminderter Höhe über den 30. Juni
2017 hinaus gewährt werden würden, wenn auch als Leistungen in besonderen Lebenslagen. Auf den Hinweis des Vorsitzenden, dass
dies wohl nicht möglich sein werde, hat die Klägerin schließlich beantragt festzustellen, dass ihr höhere Leistungen der Grundsicherung
im Alter und bei Erwerbsminderung zu gewähren seien, damit ihr Bedarf an körperbezogenen Pflegemaßnahmen gedeckt werde.
Sie strebt damit im Wege der (vom Senat für sachdienlich erachteten) Klageänderung nach §
99 SGG eine Verbesserung ihrer Rechtsposition im Berufungsverfahren an. Wie oben aufgezeigt, vermag die Klägerin aufgrund des Tenors
des erstinstanzlichen Urteils mit der zunächst erwogenen Zurückweisung der Berufung ihr Ziel nicht zu erreichen, absehbar
dauerhaft auch Leistungen für den körperbezogenen Pflegebedarf zu erhalten. Mit der Anschlussberufung soll demjenigen, der
nicht Berufung einlegen kann oder will, die Möglichkeit gegeben werden, der Hauptberufung mit eigenen Anträgen entgegen zu
treten. Die Anschließung ist also nicht eigentlich Rechtsmittel, sondern nur ein angriffsweise wirkender Antrag, mit dem sich
der Gegner innerhalb des Rechtsmittels des Berufungsklägers an dieses anschließt; sie bietet die Möglichkeit, die vom Berufungskläger
angefochtene Entscheidung auch zu des Anschließenden Gunsten - also in Bezug auf den Berufungskläger unter Ausschaltung des
Verbots der reformatio in peius - ändern zu lassen (BSG, Urteil vom 23. Juni 1998 - B 4 RA 33/97 R). Die Anschlussberufung dient damit einerseits der Billigkeit, und zwar im Interesse des Beteiligten, der sich an sich
mit dem Ersturteil zufrieden geben will, dessen Gegner aber dann doch Berufung einlegt; andererseits dient sie im Sinne der
Vermeidung vorsorglich eingelegter Rechtsmittel der Prozessökonomie (BGH, Urteil vom 10. November 1983 - VII ZR 72/83 - NJW 1984, 1240). Dabei setzt die Anschlussberufung keine Beschwer des Berufungsbeklagten voraus (Leitherer in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt,
SGG, 12. Aufl. 2017, §
143 Rn. 5a).
Auf die Anschlussberufung war die im Tenor ausgewiesene Feststellung zu Gunsten der Klägerin zu treffen. Das für eine Klage
nach §
55 Abs.
1 Nr.
1 SGG notwendige Feststellungsinteresse besteht im Falle der Klägerin, da effektiver Rechtschutz nicht anderweitig zu erreichen
ist. Wie aufgezeigt, begehrt sie Leistungen der Sozialhilfe zur Deckung des Bedarfs an körperbezogenen Pflegemaßnahmen. Ein
Anspruch auf Leistungen der Hilfe zur Pflege besteht - wie erwähnt - seit dem 1. Juli 2017 nicht mehr. Es kommt allenfalls
die Erweiterung des Regelsatzes nach § 27a Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 SGB XII in Betracht. Da die Bescheide über die Bewilligung von Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung ab
dem 1. Januar 2017 durchweg bestandskräftig geworden sind, lässt sich das Rechtschutzbegehren der Klägerin nicht mittels Anfechtungs-
oder Verpflichtungsklage durchsetzen. Ein nunmehr gestellter Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X vermag die Zeit bis zum 1. Juli 2017 nicht mehr zu erfassen (vgl. § 116a Nr. 2 SGB XII). Der Feststellungsantrag bietet daher effektiveren Rechtschutz als Gestaltungs- und Leistungsklagen. Ferner ermöglicht er
die umfassendere Klärung des Rechtsverhältnisses (vgl. Berchtold in: Berchtold/Richter, Prozesse in Sozialsachen, 1. Aufl.
2009, § 5 Rn. 429).
Der Sache nach hat die Klägerin einen Anspruch auf die Erweiterung des Regelsatzes. Nach § 27a Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 SGB XII wird der Regelsatz im Einzelfall abweichend von der maßgebenden Regelbedarfsstufe festgesetzt (abweichende Regelsatzfestsetzung),
wenn ein durch die Regelbedarfe abgedeckter Bedarf nicht nur einmalig, sondern für eine Dauer von voraussichtlich mehr als
einem Monat unausweichlich in mehr als geringem Umfang oberhalb durchschnittlicher Bedarfe liegt, wie sie sich nach der Ermittlung
der Regelbedarfe zugrunde liegenden durchschnittlichen Verbrauchsausgaben ergeben, und die dadurch bedingten Mehrausgaben
begründbar nicht anderweitig ausgeglichen werden können.
Diese Voraussetzungen liegen im Falle der Klägerin vor. Dabei hat das Sozialgericht zutreffend auf den Grundsatz der Bedarfsdeckung
hingewiesen. Da die Beklagte sachgerecht den aufgrund der aufgezeigten Rechtsänderung von Leistungen der Hilfe zur Pflege
entfallenen Anspruch der Klägerin auch auf Hilfen im Bereich der Hauswirtschaft erkannt hat (s.o.), ist noch der Bedarf an
Hilfen im Bereich der geringfügigen Pflegeleistungen offen. Dieser betrifft ausweislich der Gutachten des MDK sowie des Sachverständigen
B. zur Unterstützung beim Treppensteigen und beim Baden/Duschen.
Anders als das Sozialgericht meint, lässt sich dieser nicht durch Leistungen der Hilfe in sonstigen Lebenslagen decken nach
§ 73 Satz 1 SGB XII. Denn bei der Pflegebedürftigkeit handelt es sich - ungeachtet ihres Umfangs - um keine "sonstige" Lebenslage im Sinne des
Gesetzes. Vielmehr handelt es sich um eine in § 8 SGB XII aufgeführte und daher vom Gesetzgeber als typisch angesehene Notlage. Die Hilfe in sonstigen Lebenslagen ergänzt den in §
8 SGB XII ausgewiesenen Hilfekatalog. Eine solche Regelung ist notwendig, um den Auftrag der Sozialhilfe, jedem die Menschenwürde widersprechenden
Zustand zu begegnen, gerecht zu werden und verfassungskonforme Ergebnisse zu ermöglichen. Sonstige Lebenslagen liegen nur
vor, wenn sich die Hilfesituation thematisch oder systematisch keinem Tatbestand der in § 8 SGB XII aufgeführten Hilfen zuordnen lässt (vgl. Schlette in: Hauck/Noftz, SGB XII, Stand: 7/2019, § 73 Rn. 1, 5; Wahrendorf in: Grube/Wahrendorf, SGB XII, 6. Aufl. 2018, § 73 Rn. 1, 2). Die Leistungen der Hilfe zur Pflege werden hingegen in § 8 Nr. 5 SGB XII ausdrücklich erwähnt. Die Maßnahmen der körperbezogenen Pflege werden davon erfasst, auch wenn die Klägerin aufgrund des
vom Gesetzgeber für gering erachteten Bedarfs keine Leistungen erhalten kann. Eine "Leistungskorrektur" über den § 73 SGB XII kommt insoweit nicht in Betracht (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 27. August 2007 - L 9 B 146/07 AS-ER).
Ebenfalls nicht einschlägig zur Deckung des sozialhilferechtlichen Bedarfs der Klägerin sind Mehrbedarfe nach § 30 SGB XII; zumal der Klägerin kein Merkzeichen "G" zuerkannt ist. Auch ein einmaliger Bedarf nach § 31 SGB XII ist nicht anzunehmen, da die Klägerin dauerhaft in geringem Maße pflegebedürftig ist.
Bliebe der aufgezeigte Bedarf der Klägerin offen, wäre das Grundrecht der Klägerin auf die Gewährleistung ihres menschenwürdigen
Existenzminimums aus Art.
1 Abs.
1 Grundgesetz (
GG) in Verbindung mit Art.
20 GG betroffen. Dieses Grundrecht sichert jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen, die für seine physische
Existenz und von einem Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind.
Das Sozialstaatsgebot erteilt demnach dem Gesetzgeber den Auftrag, jedem ein menschenwürdiges Existenzminimum zu sichern und
hält den Gesetzgeber dazu an, die soziale Wirklichkeit zeit- und realitätsgerecht im Hinblick auf die Gewährleistung des menschenwürdigen
Existenzminimums zu erfassen, wobei dem Gesetzgeber ein Gestaltungsspielraum bei den unausweichlichen Wertungen zukommt, die
mit der Höhe des Existenzminimums verbunden sind. Die Zuerkennung eines gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums zugleich verbunden
mit einer reduzierten gerichtlichen Kontrolldichte (vgl. Rothkegel, ZfSH/SGB 2010, 137), äußert sich im ersten Schritt in einer Evidenzkontrolle und in einem zweiten Prüfungsschritt in einer Verfahrens- und nicht
in einer Inhaltskontrolle. Die gesetzlich vorgesehenen Leistungen müssen nachvollziehbar sein auf der Grundlage verlässlicher
Zahlen und eines schlüssigen Berechnungsverfahrens. Der Gesetzgeber unterliegt einem Transparenzgebot; demnach hat dieser
die eingesetzten Methoden und Berechnungsschritte nachvollziehbar offenzulegen (Voßkuhle, SGb 2011, 185). Im existentiellen Kernbereich des menschlichen Existenzminimums besteht der prozedurale Kerngehalt des Grundrechts in der
Überprüfung, ob verfahrensmäßige Vorgaben durch den Gesetzgeber eingehalten worden sind. Dem gemäß hat der Gesetzgeber alle
existenznotwendigen Aufwendungen folgerichtig in einem transparenten und sachgerechten Verfahren nach dem tatsächlichen Bedarf
zu bemessen. Das gefundene Ergebnis bedarf einer fortwährenden Überprüfung und Weiterentwicklung, insbesondere, wenn Festbeträge
vorgesehen sind (Bundesverfassungsgericht [BVerfG], Urteil vom 9. Februar 2010 - 1 BvL 1/09 u.a.).
Mit Urteil vom 18. Juli 2012 (Az.: 1 BvL 10/10 u.a.) hat das Bundesverfassungsgericht dem Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum weitere Konturen verliehen.
Dieses Grundrecht steht demnach deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland
aufhalten - darunter die Klägerin - gleichermaßen zu. Durch den Einsatz einer "allein richtigen" Berechnungsmethode kann die
Höhe des existenznotwendigen Lebensunterhalts mit Blick auf den prozeduralen Kerngehalt des Grundrechts auf ein menschenwürdiges
Existenzminimum jedoch nicht punktgenau ermittelt werden (BSG, Urteil vom 12. Juli 2012 - B 14 AS 153/11 R).
Mit der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der Regelsätze hat das Bundesverfassungsgerichts seine Überlegungen zum Grundrecht
auf ein menschenwürdiges Existenzminimum im Urteil vom 23. Juli 2014 (Az.: 1 BvL 10/12 u.a.) weiter entwickelt. Die sich aus der Verfassung ergebenden Anforderungen an die methodisch sachgerechte Bestimmung grundrechtlich
garantierter Leistungen beziehen sich demnach nicht auf das Verfahren der Gesetzgebung, sondern auf dessen Ergebnisse. Das
Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums bringt für den Gesetzgeber keine spezifischen Pflichten
im Verfahren mit sich; entscheidend ist, dass sich die Höhe existenzsichernder Leistungen durch realitätsgerechte, schlüssige
Berechnungen sachlich differenziert begründen lässt. Das
Grundgesetz verpflichtet den Gesetzgeber insofern auch nicht, durch Einbeziehung aller denkbaren Faktoren eine optimale Bestimmung des
Existenzminimums vorzunehmen; darum zu ringen, ist vielmehr Sache der Politik (BVerfG, Urteil vom 23. Juli 2014 - 1 BvL 10/12 u.a. - juris Rn. 77).
Das
Grundgesetz schreibt insofern auch keine bestimmte Methode vor, wodurch der dem Gesetzgeber zustehende Gestaltungsspielraum begrenzt
würde. Es kommt dem Gesetzgeber zu, die Methode zur Ermittlung der Bedarfe und zur Berechnung der Leistungen zur Sicherung
der menschenwürdigen Existenz im Rahmen der Tauglichkeit und der Sachgerechtigkeit selbst auszuwählen. Dabei sind die Ergebnisse
eines sachgerechten Verfahrens zur Bestimmung grundrechtlich garantierter Ansprüche fortlaufend zu überprüfen und weiter zu
entwickeln. Der Gesetzgeber kommt seiner Pflicht zur Aktualisierung von Leistungsbeträgen zur Sicherung eines menschenwürdigen
Existenzminimums nach, wenn er die Entwicklung der tatsächlichen Unterhaltungskosten zur Deckung des existenznotwendigen Bedarfs
durch regelmäßige Neuberechnungen und Fortschreibungen berücksichtigt. Auf Änderungen der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen
wie auf Preissteigerungen oder auf die Erhöhung von Verbrauchssteuern muss er zeitnah reagieren, um sicherzustellen, dass
der aktuelle Bedarf gedeckt wird (BVerfG, Urteil vom 23. Juli 2014 - 1 BvL 10/12 u.a. - juris Rn. 78, 79, 85).
Im Urteil vom 5. November 2019 hat das Bundesverfassungsgericht schließlich betont, dass sich der verfassungsrechtlich garantierte
Leistungsanspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums erstreckt auf die unbedingt erforderlichen Mittel
als einheitliche Gewährleistung zur Sicherung sowohl der physischen Existenz als auch zur Sicherung eines Mindestmaßes an
Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben. Die Verankerung des Gewährleistungsrechts im Grundrecht
des Art.
1 Abs.
1 GG bedeutet, dass Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung (Art.
1 Abs.
3 GG) den Menschen nicht auf das schiere physische Überleben reduzieren dürfen, sondern mit der Würde mehr als die bloße Existenz
und damit auch die soziale Teilhabe als Mitglied der Gesellschaft gewährleistet wird. Es widerspräche dem nicht relativierbaren
Gebot der Unantastbarkeit, wenn nur ein Minimum unterhalb dessen gesichert würde, was der Gesetzgeber bereits als Minimum
normiert hat; insbesondere lässt sich die Gewährleistung aus Art.
1 Abs.
1 GG in Verbindung mit Art.
20 Abs.
1 GG nicht in einen "Kernbereich" der physischen und einen "Randbereich" der sozialen Existenz aufspalten. Der Gesetzgeber kann
auch weder für einen internen Ausgleich noch zur Rechtfertigung einer Leistungsminderung auf die Summen verweisen, die in
der pauschalen Berechnung der Grundsicherungsleistungen für die soziokulturellen Bedarfe veranschlagt werden, denn die physische
und soziokulturelle Existenz werden durch Art.
1 Abs.
1 GG in Verbindung mit Art.
20 Abs.
1 GG einheitlich geschützt (BVerfG, Urteil vom 5. November 2019 - 1 BvL 7/16 - juris Rn. 119).
Wenn einem Menschen die zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins notwendigen materiellen Mittel fehlen, weil er sie
weder aus eigener Erwerbstätigkeit noch aus eigenem Vermögen noch durch Zuwendungen Dritter erhalten kann, ist der Staat im
Rahmen seines Auftrags zum Schutz der Menschenwürde und in Ausfüllung seines sozialstaatlichen Gestaltungsauftrags verpflichtet,
dafür Sorge zu tragen, dass die materiellen Voraussetzungen für dieses menschenwürdige Dasein zur Verfügung stehen (BVerfG,
Urteil vom 5. November 2019 - 1 BvL 7/16 - juris Rn. 120).
Wie erwähnt, ist der aktuelle Bedarf der Klägerin nicht gedeckt, da rund 35 Euro monatlich fehlen für die aufgezeigten körperbezogenen
Pflegemaßnahmen. Dabei handelt es sich um einen für die Klägerin erheblichen Betrag. Das BSG geht davon aus, dass allenfalls monatliche Euro-Beträge im einstelligen Bereich und für einen nur kurzen Zeitraum von längstens
sechs Monaten eine allenfalls durchschnittliche Bedeutung für einen Bezieher von Grundsicherungsleistungen haben (Urteil vom
1. Juli 2009 - B 4 AS 21/09 R - SozR4-1935 § 14 Nr. 2).
Zur Vermeidung eines Verstoßes gegen das Grundrecht der Klägerin auf Deckung ihrer menschenwürdigen Existenz ist aus der Sicht
des Senats § 27a Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 SGB XII heranzuziehen. Demnach müssen zusätzliche Leistungen gewährt werden, wenn der Bedarf unausweichlich und in mehr als geringem
Umfang oberhalb durchschnittlicher Bedarfe liegt. Die Vorschrift soll kein "Einfallstor" sein für jegliche wünschenswerte,
aber im SGB XII nicht geregelte Bedarfe. Ein atypischer Bedarf ist erheblich, wenn er von dem durchschnittlichen Bedarf in nicht nur unbedeutendem
wirtschaftlichen Umfang abweicht (BSG, Urteil vom 1. Dezember 2007 - B 8/9b SO 21/06 R). Jede Prüfung hat sich darauf zu erstrecken, ob das Existenzminimum ohne
die Aufstockung der Regelleistung gefährdet wäre. Dabei liegt die Substantiierungslast und Beweislast für den überdurchschnittlichen
Bedarf bei dem Leistungsberechtigten, da normativ bestimmt ist, dass die Regelleistung den Bedarf zu decken vermag, umgekehrt
liegt die Beweislast beim Leistungsträger, wenn der Regelsatz abgesenkt werden soll (Wahrendorf in: Grube/Wahrendorf, SGB XII, 6. Aufl. 2018, § 27a Rn. 55, 57, 64).
Danach ist die Beklagte unter Berücksichtigung der aufgezeigten Grundsätze zur Wahrung des Grundrechts auf ein menschenwürdiges
Existenzminimum dazu verpflichtet, den geringfügigen Pflegebedarf der Klägerin in Erweiterung des Regelsatzes zu decken. Der
Bedarf als solcher ist nachgewiesen aufgrund der erwähnten Pflegegutachten. Einsparungsmöglichkeiten der Klägerin sind nicht
ersichtlich.
Der Senat sieht hier in Übereinstimmung mit den Beteiligten während der mündlichen Verhandlung vom 6. Dezember 2019 einen
Betrag von 35,00 EUR monatlich als angemessen an, der über die 15,00 EUR monatlich gemäß § 5 Abs. 1 RBEG - Abteilung 6 - hinaus
geht (monatlicher Bedarf somit: 50 Euro, davon sind 15 Euro im Regelsatz enthalten). Die Klägerin erhält auf diese Weise etwa
denselben Betrag, der ihr bis zum 30. Juni 2017 im Rahmen der "Pflegestufe 0" gewährt worden ist (35 Euro monatlich für körperbezogene
Pflegemaßnahmen und 65 Euro monatlich an Leistungen der Haushaltshilfe).
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 Abs.
1 SGG.
Der Senat hat die Revision zugelassen, da die Sache rechtsgrundsätzlich bedeutsam sein dürfte (§
160 Abs.
2 SGG).