Schadensersatz- und Schmerzensgeldanspruch eines minderjährigen Kindes gegen das zuständige Jugendamt wegen schwerster Misshandlungen
durch die unzureichend überwachten Pflegeeltern
Entscheidungsgründe:
I.
Der Kläger verlangt vom Beklagten Schadensersatz wegen mangelhafter Überprüfung der Pflegeeltern Klaus und Ulrike R., bei
denen der Kläger in der Zeit vom 06.12.1990 bis 28.11.1997 untergebracht war und misshandelt worden ist.
Der am 02.06.1989 geborene Kläger wurde am 06.12.1990 vom damals zuständigen Kreisjugendamt H. der Familie R. zunächst vorübergehend
zur Vollzeitpflege zugewiesen. Hintergrund war die Alkoholabhängigkeit der leiblichen Mutter des Klägers und deren Lebenspartner
sowie Gewalttätigkeiten in dieser Beziehung. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Eheleute R. bereits zwei eigene Kinder. Im Oktober
1993 zog die ganze Familie nach W. um. Mit Schreiben vom 07.04.1994 bat das Landratsamt - Kreisjugendamt - H. die Kreisverwaltung
des K. unter Berufung auf § 86 Abs. 6 SGB VIII um Übernahme der Hilfe zur Erziehung unter Zusicherung der Kostenerstattung. Auf Anforderung des K. erstellte und übersandte
das Landratsamt H. den Hilfeplan gemäß § 36 SGB VIII für den Kläger vom 20.07.1994. Dort heißt es unter V.: "Das Milieu, in dem Frau G. lebt, wird sich auch in absehbarer Zeit
nicht verändern. Zum einen muss mit einer Fortsetzung der Gewalttätigkeit nach der Entlassung des Herrn G. gerechnet werden,
zum anderen fehlen Frau G. die Voraussetzungen für eine Rückkehr Andreas (Wohnverhältnisse, Suchtproblematik, Kontakte zwischen
Mutter und Sohn)". Der Hilfeplan ist von der sorgeberechtigten leiblichen Mutter des Klägers nicht unterschrieben, weil sie
sich beim Vormundschaftsgericht um eine Rückkehr des Kindes bemühen wollte, was tatsächlich nicht geschehen ist. Das Landratsamt
K. lehnte mit Schreiben vom 24.08.1994 eine Übernahme mit Hinweis darauf ab, die Unterbringung des Klägers könne nicht "als
auf Dauer" angesehen werden, weil die sorgeberechtigte Mutter mit der Unterbringung ihres Sohnes bei Familie R. nicht einverstanden
sei. Hilfe zur Erziehung im Rahmen von Vollzeitpflege entspreche aber sehr gut dem Bedarf des Klägers. Mit Schreiben vom 06.09.1994
wies das Kreisjugendamt des Landratsamts H. nochmals darauf hin, dass sich die Verhältnisse der Kindsmutter in absehbarer
Zeit nicht verändern werden und ggf. beim Vormundschaftsgericht Antrag auf Entzug der elterlichen Sorge gestellt werden würde.
In den folgenden Jahren entwickelte sich ein Schriftwechsel zwischen den beiden Landratsämtern, in dem beide ihre jeweiligen
Position beibehielten. Am 07.11.1996 erteilte dann der Beklagte den Eheleuten R. eine Pflegeerlaubnis für den Kläger und übernahm
ab 01.06.1997 die Zuständigkeit für Hilfeleistungen. Zuvor hatte am 09.04.1997 ein Gespräch im Jugendamt des Beklagten stattgefunden,
an dem neben der sorgeberechtigten Mutter des Klägers die Pflegemutter und für den Beklagten Frau Be. sowie für das Kreisjugendamt
H. Frau B. teilnahmen. Daran schloss sich ein Hausbesuch bei den Pflegeeltern ohne die Mitarbeiterin des Kreisjugendamtes
des Beklagten E. Be. an. Die leibliche Mutter des Klägers erklärte sich mit seinem Verbleib bei der Familie R. einverstanden.
Hierauf wurde im Kreisjugendamt des Beklagten eine Vorlage für die Gewährung einer Jugendhilfemaßnahme gefertigt, in der es
zu Hilfemaßnahmen heißt: "Die Jugendhilfe im Rahmen einer Vollzeitpflege entspricht dem Bedarf von Andreas. Die Pflegefamilie
R. ist sehr gut geeignet." Im Umlaufverfahren wurde die Jugendhilfemaßnahme beschlossen und mit der Anordnung einer jährlichen
Hilfeplanung am 12.06.1997 vom Amtsleiter genehmigt. Der Kläger hatte bis zur Herausnahme aus der Pflegefamilie am 28.11.1997
keinen Kontakt mit einem Mitarbeiter des Jugendamts des Beklagten.
Am 10.05.1994 wurden von der Familie R. die Pflegekinder Alois, fast drei Jahre alt und Alexander E., 1 1/2 Jahre alt, aufgenommen.
Bei Aufnahme in die Familie R. waren alle drei Pflegekinder körperlich in einem altersentsprechend guten Zustand. Ab Beginn
der Pflegezeit blieb die Entwicklung des Gewichts und der Größe der Pflegekinder hinter der zu erwartenden Entwicklung und
der statistischen Entwicklung Gleichaltriger weit zurück. Die eigenen zuletzt drei Kinder der Eheleute bzw. von Frau R. entwickelten
sich altersentsprechend. Unter Beteiligung einer Mitarbeiterin des Jugendamts des Beklagten fanden für die Pflegekinder Alois
und Alexander im Hause R. am 20.03.1996 in Anwesenheit aller drei Pflegekinder und am 12.12.1996 in Anwesenheit der Brüder
Alois und Alexander Hilfeplangespräche statt. Am 27.11.1997 um 1.33 Uhr starb das Pflegekind Alexander infolge von Unterernährung.
Der Kläger und Alois wurden mit extremem Untergewicht in eine Klinik eingewiesen. Bei Ende des Pflegeverhältnisses mit den
Eheleuten R. war der Kläger 8 1/2 Jahre alt. Er war 11,8 kg schwer und 104 cm groß. Bei normaler Entwicklung wären 23 kg und
130 cm zu erwarten gewesen. Seine Körperlänge entsprach einem 4-jährigen, der dann aber regelmäßig 16,5 kg wiegen würde.
Wegen des Todes des Pflegekindes Alexander wurden die Eheleute R. durch inzwischen rechtskräftiges Urteil des Landgerichts
Stuttgart vom 30.06.1999, Az.: 9 Ks 116 Js 100180/97 wegen Mordes in Tateinheit mit der Misshandlung von drei Schutzbefohlenen jeweils zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt.
Es heißt dort: "Während die Angeklagten die eigenen Kinder gut versorgten, quälten sie die Pflegekinder von Anfang an, um
deren Willen zu brechen und sie gefügig zu machen, indem sie ihnen ihre Zuwendung vorenthielten und sie misshandelten. Dazu
setzten sie vor allem auf das natürliche und elementare Bedürfnis nach Nahrung. Also gaben sie den Pflegekindern zu wenig,
Minderwertiges oder zeitweise gar nichts zu essen. Daneben sperrten sie die Kinder aber auch ein und schlugen sie. Beide Angeklagten
bemerkten und nahmen es hin, wie sie durch die chronische Vernachlässigung und den erlittenen Hunger die Kinder an der Gesundheit
schädigten, so dass die drei in ihrer körperlichen und seelischen Entwicklung, insbesondere auch in ihrem Längenwachstum gestört
wurden und psycho-sozialer Minderwuchs (Kleinwuchs) eintrat. Auf dem Hintergrund der sich im Jahr 1996 entfaltenden Ehe- und
Berufskrise, weiter verschärft durch ein scheineheliches Kind der Ehefrau, entglitt ihnen die Kontrolle über die Nahrungszufuhr,
mit der sie die Pflegekinder gerade soweit bei Kräften hielten, als sie deren Zustand mit erfundenen Geschichten über Epilepsie,
Alkoholembrypathie und andere Ursachen plausibel machen konnten."
Bezüglich der Einzelheiten des Martyriums des Klägers einschließlich des Miterlebens des sich anbahnenden Hungertods des Pflegebruders
Alexander wird auf das Strafurteil gegen die Eheleute R. verwiesen.
Die Staatsanwaltschaft Stuttgart hat mit Verfügung vom 03.03.2000, Az.: 112 Js 105221/97, das Ermittlungsverfahren gegen die Verantwortlichen des Jugendamts W. wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung
gemäß §
170 Abs.
2 StPO eingestellt, weil die Mitarbeiter des Jugendamts in W. aufgrund der geschickten Vertuschungsmaßnahmen der Pflegeeltern keine
ausreichenden Anhaltspunkte für ein gravierendes Fehlverhalten der Pflegeeltern gehabt hätten.
Der Kläger beantragte in der ersten Instanz, die Beklagte zur Zahlung eines Schmerzensgeldes von 25.000,00 EUR zu verurteilen
und festzustellen, dass der Beklagte zum Ersatz sämtlicher materieller und immaterieller Schäden aufgrund der Unterbringung
zur Pflege bei den Eheleuten R. verpflichtet ist.
Das Landgericht hat der Klage unter Begrenzung der Feststellung auf zukünftige immaterielle Schäden und auf Ansprüche, die
nicht auf Dritte übergegangen sind, stattgegeben.
Hiergegen wendet sich die Berufung des Beklagten, mit der Auffassung, gemäß § 86 c SGB VIII sei bis zum 01.06.1997 das Landratsamt H. für die Gewährung von Hilfeleistungen nach dem SGB VIII zuständig gewesen, weil der Beklagte keine Übernahmeerklärung abgegeben habe. Das Jugendamt des Landkreises H. sei dieser
Verpflichtung auch nachgekommen. Weil bis zum 01.06.1997 die Mutter des Klägers ihre Zustimmung zum Verbleib des Klägers
in der Pflegefamilie R. verweigert habe, sei ein Verbleib in der Pflegefamilie auf Dauer nicht zu erwarten gewesen und deshalb
bis dahin § 86 Abs. 6 SGB VIII nicht anwendbar. Der Beklagte sei zu einer zeitnahen Überprüfung der Pflegefamilie vor Ort nach dem Zuständigkeitswechsel
nicht zwingend verpflichtet gewesen. Erforderlich für eine ordnungsgemäße Fallübernahme sei lediglich eine entsprechende Dokumentation,
die geschehen sei. Ohne konkrete Anhaltspunkte für eine Gefährdung des Kindeswohls und in Anbetracht des Umstands, dass der
Kläger zum Zeitpunkt des Zuständigkeitswechsels bereits seit gut 6 1/2 Jahren in der Pflegefamilie gelebt hatte, habe nach
dem letzten Hilfeplangespräch "an Ort und Stelle" Anfang April 1997 nach Übernahme der Zuständigkeit kein weiterer Ortstermin
erfolgen müssen. Selbst wenn vor Ort eine Eingangsprüfung vorgenommen worden wäre, wären die eklatanten Misshandlungen des
Klägers durch die Pflegeeltern, die die Ursache der Entwicklung verschleiert hatten, keineswegs ohne weiteres zutage getreten.
Der Beklagte und Berufungskläger beantragt:
Das Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 07.02.2003, Az. 15 O 276/02 wird abgeändert; die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger und Berufungsbeklagte beantragt,
die Berufung des Beklagten/Berufungsklägers zurückzuweisen.
Er verweist auf die Ausführungen des Landgerichts im angegriffenen Urteil.
Die Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft Stuttgart, Az.: 112 Js 105221/97 gegen Verantwortliche des Jugendamts W. und die Jugendhilfe-Akte des Landratsamts K. für den Kläger waren zu Informationszwecken
beigezogen und Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
II.
Die zulässige Berufung ist weitestgehend unbegründet.
Zu Recht hat das Landgericht einen Schadensersatz- und Schmerzensgeldanspruch des Klägers gemäß §
839 Abs.
1, 847 Abs. 1
BGB a. F. i.V.m. Art.
34 Abs.
1 GG zu Grunde gelegt. Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe gemäß dem SGB VIII erbringen die Mitarbeiter eines Jugendamts in Ausübung eines öffentlichen Amtes.
1.
Die Mitarbeiter der Beklagten konnten ihre Amtspflichten gegenüber dem Kläger nur ab dem Zeitpunkt verletzen, in dem sie für
die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe zuständig geworden sind. Nach § 86 Abs. 6 SGB VIII in der Fassung vom 01.04.1993 ist oder wird der örtliche Träger der Jugendhilfe zuständig, in dessen Bereich die Pflegeperson
ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat, wenn ein Kind oder ein Jugendlicher zwei Jahre bei einer Pflegeperson lebt und sein Verbleiben
bei dieser Pflegeperson auf Dauer zu erwarten ist. Nach dem Wortlaut des § 86 Abs. 6 SGB VIII tritt ein Zuständigkeitswechsel kraft Gesetzes ein (vgl. auch DIJuF-Rechtsgutachten JAmt 2002, 18, 19; Krug/Grüner/Dalichau,
SGB VIII - Kinder- und Jugendhilfe § 86 Kap. XI) und bedarf daher keiner zuständigkeitsbegründenden Erklärung des übernehmenden Trägers der Jugendhilfe.
a)
Die Zuständigkeit des Jugendamtes am Ort des neuen gewöhnlichen Aufenthalts der Pflegeperson tritt unmittelbar mit der Begründung
des neuen gewöhnlichen Aufenthaltsorts ein, wenn der Aufenthalt bei der Pflegeperson vorher bereits mindestens zwei Jahre
betragen hat (vgl. Heilemann in LPK-SGB VIII § 86 Rn. 31; Schellhorn in Schellhorn, SGB VIII/KJHG § 86 Rn. 49; Jans/Happe/Saurbier, Kinder- und Jugendhilferecht, 3. Aufl., § 86 Art. 1 KJHG Rn. 74; Wiesner, SGB VIII, 2. Aufl., § 86 Rn. 34 u. 35; Reisch ZfJ 1993, 157, 158). Zum Zeitpunkt des Umzugs in den Zuständigkeitsbereich des Beklagten im Oktober 1993 befand sich der Kläger auf Veranlassung
des Jugendamts schon über zwei Jahre in der Pflegefamilie.
b)
Zum Zeitablauf von zwei Jahren hinzu kommen muss die Prognose für den künftigen Verbleib des Kindes oder Jugendlichen auf
Dauer bei dieser Pflegeperson. Wann dies der Fall ist und wer diese Prognose anzustellen hat, wird in § 86 Abs. 6 SGB VIII selbst nicht definiert. Es handelt sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der der Auslegung bedarf. Dabei ist es zu weitgehend,
wenn der Begriff "auf Dauer zu erwarten" so ausgelegt wird, dass die Rückkehr in die Herkunftsfamilie für alle Zeiten ausgeschlossen
ist. Vielmehr ist es ausreichend, wenn prognostiziert wird, dass eine Rückkehr bis auf weiteres nicht zu erwarten ist und
die Pflegeperson bereit und in der Lage ist, das Kind oder den Jugendlichen auf Dauer, d. h. mindestens bis zur Vollendung
des 18. Lebensjahres zu betreuen. Nicht ausgeschlossen ist, dass zu einem späteren Zeitpunkt die Rückkehr in das Elternhaus
doch möglich wird, wenn sich z. B. die Verhältnisse im Elternhaus geändert haben (Heilemann, a.a.O., Rn. 34; Wiesner, a.a.O.,
Rn. 36). Bei den dazu notwendigen Einschätzungen über die Zukunft ist der Kontinuitätsgrundsatz zu beachten (DIJuF-Rechtsgutachten,
a.a.O.). Grundlage für die Prognose sind daher die im Rahmen des Hilfeplanes bzw. auf seiner Fortschreibung (§ 36 Abs. 2 SGB VIII) getroffenen Feststellungen (Wiesner, a.a.O., Rn. 36; Jans/Happe/Saurbier, a.a.O., Rn. 75; Klinkhardt, Kinder- und Jugendhilfe
SGB VIII, 1. Aufl., 1994, § 86 Rn. 30 m.w.N.). Wenn nach einem zweijährigen Aufenthalt bei der Pflegeperson nach dem aktuellen Hilfeplan der noch bemessene
Zeitraum des Verbleibs nicht auf wenige Monate begrenzt ist und konkret keine Rückkehr in die Herkunftsfamilie zu erwarten
oder geplant ist, ist ein Zuständigkeitswechsel auf das Jugendamt des gewöhnlichen Aufenthaltsorts der Pflegeperson im Interesse
einer ortsnahen Planung und Betreuung bei der Erziehungshilfe geboten (vgl. Jans/Happe/Saurbier, a.a.O., Rn. 75). Folglich
wird das Jugendamt am neuen gewöhnlichen Aufenthaltsort des Kindes oder Jugendlichen in aller Regel an die Einschätzungen
des bisher zuständigen Jugendamtes gebunden sein (DIJuF-Rechtsgutachten, a.a.O.).
Zum Zeitpunkt der Unterrichtung des Beklagten durch Schreiben des Kreisjugendamts des Landratsamts H. vom 07.04.1994 über
den Wechsel der Zuständigkeit gemäß § 86 Abs. 6 SGB VIII bezüglich des Klägers war auch ohne Hilfeplan, der zu diesem Zeitpunkt aus der Akte des Landratsamts H. nicht zu entnehmen
war, aus den dokumentierten Gesamtumständen zu erkennen, dass eine Rückkehr des Klägers zu seiner leiblichen Mutter auf absehbare
Zeit nicht seinem Wohl entsprechen würde. Auch das Jugendamt des Beklagten hat die Erforderlichkeit der Jugendhilfegewährung
ausdrücklich nie in Frage gestellt, sondern sich lediglich auf die fehlende Mitwirkung und Akzeptanz der leiblichen Mutter
berufen. Das Verhalten der Mutter stand jedoch der Gewährung von Jugendhilfe und angesichts der Gesamtumstände auch der Prognose
eines dauerhaften Verbleibs des Klägers in der Pflegefamilie nicht entgegen. Dies galt um so mehr nach der Mitteilung des
Kreisjugendamts H. mit Schreiben vom 06.09.1994, dass ggf. beim Vormundschaftsgericht ein Antrag auf Entzug der elterlichen
Sorge gestellt werden würde. Die Mitarbeiter des Beklagten hätten deshalb bereits schon aufgrund des Schreibens vom 07.04.1994
die eigene Zuständigkeit erkennen können. Ein Hilfeplan ist weder für die Frage der Notwendigkeit und Geeignetheit der Hilfe
noch damit für die nach § 86 Abs. 6 SGB VIII zuständigkeitsbegründende Frage der Prognose der Dauer der Pflege unabdingbare Voraussetzung (vgl. BVerwG NVwZ 2000, 325, 328 unter Ziff. 4; OVG Nordrhein-Westf. JAmt 2002, 413, 414).
Vom Landratsamt H. wurde ein Hilfeplan erst am 20.07.1994 erstellt. Allein die fehlende Unterschrift der Sorgeberechtigten
führt nicht zur Unverbindlichkeit der behördlichen Planung. Auch nach den Feststellungen dieses Hilfeplanes wurde eine Änderung
der Ursachen für die Notwendigkeit der Hilfe zur Erziehung in absehbarer Zeit nicht erwartet, so dass die Voraussetzungen
für eine Rückkehr des Klägers zu seiner leiblichen Mutter auf unbestimmte Zeit fehlten. Angesichts dieser Erkenntnisse aus
dem Hilfeplan stand die erklärte, aber nicht in die Tat umgesetzte Absicht der leiblichen Mutter des Klägers, sich beim Vormundschaftsgericht
um eine Rückkehr des Kindes zu bemühen, der Prognose eines Verbleibs auf Dauer bei der Pflegefamilie nicht entgegen. Weil
sich die Grundlagen für die Prognoseentscheidung bezüglich der Dauer des Verbleibs des Klägers bei der Pflegefamilie seit
dem Umzug im Oktober 1993 nicht geändert hatten, war die Zuständigkeit für Leistungen der Hilfe zur Erziehung an den Kläger
gemäß § 86 Abs. 6 SGB VIII im Oktober 1993 auf den Beklagten übergegangen.
Dies musste den Mitarbeitern des Beklagten spätestens mit Eingang des Hilfeplanes vom 20.07.1994 am 21.07.1994 klar werden.
Nochmals eindringlich hingewiesen wurden sie hierauf mit Eingang des Schreibens des Kreisjugendamtes H. vom 06.09.1994. Indem
sich die Mitarbeiter des Beklagten noch bis zum 01.06.1997 auf den Rechtsstandpunkt ihrer Unzuständigkeit gestellt haben und
die ihr obliegende Aufgabenerfüllung nach dem SGB VIII, insbesondere eine Hilfeplanung gemäß § 36 Abs. 2 SGB VIII und die Überprüfungspflicht gemäß § 37 Abs. 3 SGB VIII hartnäckig verweigert haben, hat der Beklagte seine Amtspflichten gegenüber dem Kläger, zu dessen Wohl diese Vorschrift einer
ortsnahen Zuständigkeit für die Leistungsgewährung besteht, zumindest fahrlässig verletzt.
c)
Zweck des § 86 c SGB VIII ist die Sicherstellung der Fortführung einer Jugendhilfeleistung im Fall eines Wechsels der örtlichen Zuständigkeit (Krug/Grüner/Dalichau
a.a.O. § 86 c Kapitel II). § 86 c Satz 1 SGB VIII ordnet deshalb an, dass beim Wechsel der örtlichen Zuständigkeit der bisher zuständige Träger solange zur Gewährung der Leistung
verpflichtet ist, bis der nunmehr zuständige örtliche Träger die Leistung fortsetzt. Dabei handelt es sich nicht um eine Zuständigkeitsregelung,
sondern um eine materielle Anspruchsgrundlage des Leistungsberechtigten gegenüber dem nunmehr für Leistungen nach dem SGB VIII grundsätzlich unzuständigen Träger (Münder u.a. FK-SGB VIII § 86 c Rdnr. 1; Jans/Happe/Saurbier a.a.O. § 86 c Rdnr. 1; Krug/Grüner/Dalichau a.a.O.; aA wohl Schellhorn SGB VIII/KJHG § 86 c Rdn. 1 und 6, der von einer Doppelzuständigkeit
des alten und des neuen Trägers ausgeht). Durch die Verpflichtung des nunmehr unzuständig gewordenen früheren Trägers zur
Weitergewährung der Leistung wird die kraft Gesetzes eingetretene örtliche Zuständigkeit des neuen Trägers und die damit verbundene
Verpflichtung zur Erbringung der Leistungen nach dem SGB VIII nicht berührt (vgl. Jans/Happe/Sauerbier a.a.O. § 86 c Rdn. 4). Dies ergibt sich sowohl aus dem Wortlaut des § 86 c SGB VIII ("nunmehr zuständige") und dessen Zweck, lediglich Versorgungslücken auszuschließen, als auch aus dem Wortlaut des § 89 c Abs. 1 SGB VIII, der trotz der Anwendbarkeit des § 86 c SGB VIII von einem Wechsel der Zuständigkeit auf den örtlichen Träger ausgeht. § 86 c SGB VIII will dem Leistungsberechtigten nicht den Anspruch gegen den neu zuständig gewordenen Träger nehmen, sondern ihm einen zusätzlichen
Verpflichteten geben. Deshalb trat aufgrund der Weigerung des Beklagten, seine Pflichten nach dem SGB VIII gegenüber dem Kläger zu erfüllen, neben seine fort bestehende primäre Leistungsverpflichtung eine nach dem Zweck des § 86 c SGB VIII lediglich ergänzende, die Leistungspflicht des neu zuständigen Jugendamts nicht verdrängende sekundäre Leistungsverpflichtung
des bisher zuständig gewesenen Jugendamts. Der Beklagte konnte durch eine pflichtwidrige Verweigerung der Übernahme der Leistungsverpflichtung
seine durch § 86 Abs. 6 SGB VIII zwingend eingetretene Zuständigkeit und damit verbundene Leistungspflicht nicht umgehen oder wieder aufheben. Ansonsten wäre
ein Zuständigkeitswechsel in das Belieben des neuen örtlichen Trägers gestellt.
3.
Auch nach tatsächlicher Übernahme der Zuständigkeit im Jahr 1997 genügten die Mitarbeiter des Beklagten ihren Verpflichtungen
aus §§ 36 Abs. 2, 37 Abs. 3 SGB VIII gegenüber dem Kläger nicht. Nach dem 1.06.1997 haben die Mitarbeiter des Jugendamts der Beklagten behördenintern im Umlaufverfahren
am 6.06.1997/12.06.1997 über die Gewährung einer Jugendhilfemaßnahme entschieden, ohne den Kläger persönlich gesehen oder
angehört zu haben.
Weil eine jährliche Hilfeplanung vom Jugendamt des Beklagten vorgesehen war, war ein erster persönlicher Kontakt des Jugendamts
zum Kläger erstmals zum Juni 1998 und damit viel zu spät geplant gewesen.
Schon der grundrechtlich durch Art.
1,
2 Abs.
1 GG geschützte Anspruch des Klägers, an seinem eigenen Schicksal mitwirken zu dürfen (vgl. Wiesner a.a.O. § 8 Rdnr. 9 m.w.N.),
hätte bei der Prüfung der Fortführung der Hilfe zur Erziehung gemäß §§ 27, 33 SGB VIII nach dem 1.06.1997 durch das Jugendamt des Beklagten eine kindgerechte Anhörung des Klägers geboten. Das aus seinen Grundrechten
abgeleitete Recht des Kindes, seine Wünsche und Vorstellungen einzubringen, ist für den Träger der öffentlichen Jugendhilfe
in §§ 8, 80 Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII verbindlich geregelt (Wiesner a.a.O. § 8 Rdnr. 32 ff). Zur Entscheidung über die geeignete und notwendige Hilfe nach §§ 27, 33 SGB VIII dient als Vorbereitungsmaßnahme ein Hilfeplan gemäß § 36 Abs. 2 SGB VIII, der während der Dauer der Hilfe fortzuschreiben ist (vgl. Wiesner, a.a.O., § 36 Rn. 61). In § 36 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII hat der Gesetzgeber eine Mitwirkungsbefugnis des Kindes oder des Jugendlichen beim Aufstellen des Hilfeplanes ausdrücklich
vorgeschrieben. Der Hilfeplan soll auch die Vorstellungen und Erwartungen u. a. des betroffenen Minderjährigen dokumentieren
(Münder, FK-SGB VIII, 2. Aufl., § 36 Rn. 29; allgemein zur Beteiligung des Kindes Funkel in LPK-SGB VIII, § 36 Rn. 5, Krug/Grüner/Dalichau, Kinder- und Jugendhilfe SGB VIII, § 36 Kap. II Ziff. 1). Auch eine Überprüfung gemäß § 37 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII wird bei einer entsprechenden Entwicklung des Kindes ohne ein Gespräch mit ihm nur rudimentär möglich sein.
Angesichts der Bedeutung der Grundrechte des Kindes oder Jugendlichen gemäß Art.
1,
2 Abs.
1 GG bedarf die Entscheidung darüber, welche Hilfemaßnahmen erforderlich und zu gewähren sind, einer möglichst fundierten Entscheidungsgrundlage.
Eine solche Entscheidungsgrundlage fehlt in aller Regel, wenn die Entscheidung über die Gewährung einer Erziehungshilfe allein
nach dem Akteninhalt geschieht, ohne dass ein Mitarbeiter des zuständigen Jugendamtes jemals einen persönlichen Kontakt zum
Kind oder Jugendlichen gesucht und sich dadurch einen unmittelbaren eigenen Eindruck von dessen Bedürfnissen verschafft hat.
Gemäß §§ 27, 33 SGB VIII i.V.m. § 36 Abs. 2 SGB VIII i.V.m. § 37 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII wäre deshalb der Beklagte gehalten gewesen, nach Übernahme der Verantwortung für den Kläger möglichst bald durch einen Besuch
von Mitarbeitern vor Ort sich einen unmittelbaren Eindruck von der Pflegefamilie und insbesondere vom Zustand und den Erwartungen
des Klägers zu verschaffen. Ohne einen ersten unmittelbaren Kontakt zum Pflegekind, soweit dies das Alter des Pflegekindes
- wie hier - zulässt, ist eine Zusammenarbeit bei einer Hilfeplanung unmöglich. Das Kind wird in seinen Grundrechte und Mitwirkungsbefugnisse
gemäß §§ 8 Abs. 1, 36 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII unzulässigerweise beschnitten.
Das Landgericht war deshalb zu Recht der Auffassung, dass als Minimum an "laufender" Überprüfungstätigkeit und der Gestattung
einer Mitwirkung an der Planung und künftiger Entscheidungen vom Jugendamt innerhalb einer angemessenen Frist von wenigen
Wochen nach Übernahme der Zuständigkeit eine Eingangsprüfung an Ort und Stelle durchzuführen war, um sich auch dem Kind als
Ansprechpartner bekannt zu machen und aufgrund der gewonnenen Erkenntnisse das weitere Vorgehen ggf. neu festlegen zu können.
Dem steht der Kontinuitätsgrundsatz nicht entgegen, weil das Ergebnis von den Festsetzungen des gültigen Hilfeplans nicht
abweichen muß. Andererseits ist eine Überprüfung schon deshalb angezeigt, um eventuelle Fehlentscheidungen der bisher zuständig
gewesenen Behörde ggf. korrigieren zu können.
Zu Recht weist das Landgericht Bedenken gegen eine Überprüfungspflicht wegen des besonderen Schutzes der Familie durch Art.
6 Abs.
1 GG zurück. Neben dem besonderen Schutz des Kindeswohls durch Art.
6 Abs.
3 GG ist allerdings auch auf die Grundrechte des Klägers aus Art.
1,
2 Abs.
1 und Abs.
2 Satz 1
GG abzustellen, die verhindern sollen, dass ein Mensch lediglich ein Objekt staatlicher Gewalt wird, und auf den besonderen
Schutz der Beziehung des Klägers zu seiner leiblichen Mutter gemäß Art.
6 GG.
Ein persönliches Gespräch mit dem Kläger, gerade weil es eine Selbstverständlichkeit sein sollte, muss sich nicht beeinträchtigend
auf das Verhältnis der Pflegeeltern zum Pflegekind auswirken, sondern kann bei richtig verstandenen Rechten des Kindes und
einer angemessenen Vorgehensweise das Verhältnis des Pflegekindes zu seinen Pflegeeltern wie auch dem Jugendamt ebenso fördern
wie z. B. das Verhältnis des Pflegekinds zu seinen leiblichen Eltern.
4.
Entgegen der Auffassung des Beklagten wäre bei Vornahme der erforderlichen Kontrollen und Gespräche die Unterversorgung des
Klägers entdeckt worden. Aufgrund der oben stehenden Ausführungen hätten die Mitarbeiter des Jugendamtes des Beklagten spätestens
nach Eingang des Hilfeplans am 21.07.1994 ihre Zuständigkeit für den Kläger seit Oktober 1993 feststellen und einen ersten
persönlichen Kontakt zeitnah herstellen müssen. Spätestens zwei Monate später, also ab dem 22.09.1994 hätte den Mitarbeitern
des Beklagten die Vernachlässigung des Klägers klar sein müssen mit der Folge, dass dieser aus der Pflegefamilie herausgenommen
hätte werden müssen.
a)
Spätestens auf seinen erkennbar problematischen Körperzustand und auf die von den Pflegeeltern vorgeschobenen gesundheitlichen
Probleme angesprochen, hätte der Kläger Angaben zu den ihm zuteil gewordenen Misshandlungen durch die Pflegeeltern gemacht,
die entweder sofort eine Herausnahme aus der Pflegefamilie oder eine umgehende medizinische Untersuchung veranlasst hätten.
Der Kläger hätte auch bei einer entsprechenden Anhörung oder Befragung Angaben zu den ihn belastenden Lebensumständen gemacht.
Dies ergibt sich daraus, dass er Angaben sogar in der besonders belastenden Situation einer mündlichen Verhandlung gegenüber
dem Strafgericht gemacht hat (Bl. 146 ff des Strafurteils). Aber schon während seiner Zeit in der Pflegefamilie R. hatte er
sich auf entsprechende Fragen hin geäußert. So hatte der Kläger seiner leiblichen Mutter am 09.04. 1997 erklärt, der faustgroße
Bluterguss an seinem Rükken stamme von einem Schlag der Pflegeeltern. Schon früher hatte sich der Kläger bei seiner leiblichen
Mutter beschwert, er bekomme "dort so viel Haue" (S. 51 des Strafurteils). So befürchtete auch die Pflegemutter am 16.05.1991,
bei einem Verbleib des Klägers im Krankenhaus würde er von der ihm widerfahrenen Misshandlung berichten, die zu einer Oberarmschaftspiralfraktur
geführt hatte (S. 52 des Strafurteils). Im Sommer 1992 wimmerten der Kläger und ein anderes damaliges Pflegekind namens Florian
in Anwesenheit der Nachbarin "Hunger, Hunger", während sie dem Rest der Familie beim Vespern zuschauten. Allerdings schwieg
der Kläger später beharrlich, als er in der Schule von der Lehrerin nach dem Grund gefragt wurde, warum er in den Abfallkörben
des Schulhofs nach Essbarem stöberte und anderen Kindern die Pausenbrote stahl. Von der Schule konnte sich der Kläger aus
seiner Sicht aber keine Hilfe versprechen, während das Jugendamt auf seine Lebenssituation entscheidend Einfluß nehmen konnte.
Ebenso wie er mit seiner leiblichen Mutter - angesprochen auf seinen blauen Fleck - offen war, wäre er dies aller Voraussicht
nach auch in einem persönlichen Gespräch mit ihm gegenüber einem Mitarbeiter des Beklagten im Jahr 1994 gewesen.
b)
Auch ohne Angaben des Klägers hätte medizinischer Rat eingeholt werden müssen.
Wie aus dem Strafurteil vom 30.06.1999 ersichtlich ist, ist verschiedenen Personen die schlechte körperliche Verfassung der
Pflegekinder, auch des Klägers, aufgefallen. Bei Mitarbeitern des Jugendamts ist für die körperliche Entwicklung und den Zustand
eines Kindes oder Jugendlichen eine gewisse Erfahrung zu erwarten, die das Entdecken von Auffälligkeiten hätte erleichtern
müssen. Am 2.09.1994 hatte der Kläger im Alter von 5 Jahren und 3 Monaten eine Länge von 90 cm, was dem Durchschnitt von Jungen
im Alter von ca. 2 Jahren 3 Monaten entspricht. Sein Körpergewicht betrug 11,5 kg und war damit einem Kind im Alter von 1
Jahr und 6 Monaten angemessen (zu den Durchschnittswerten vgl. S 123 des Strafurteils). Diese Auffälligkeiten hätten die Mitarbeiter
des Jugendamts zu einer medizinischen Abklärung der Ursachen veranlassen müssen.
Die körperlichen Auffälligkeiten verstärkten sich noch im Lauf der Zeit.
Nach den Angaben der Gerichtssachverständigen im Strafverfahren ist ein Untergewicht zweifelsfrei und ohne medizinische Ausbildung
erkennbar, wenn die Körpermasse 80 % des bei der Körperlänge zu erwartenden Sollgewichts unterschreitet, also wenn über 20
% Untergewicht erreicht ist. Ausweislich der medizinischen Untersuchung zur Einschulung im Juli 1996 war das Körpergewicht
des Klägers bereits unter diese 80 %-Grenze gerutscht und damit die Magerkeit augenfällig geworden.
In diesem Zusammenhang ist den Mitarbeitern des Jugendamts nicht zum Vorwurf zu machen, dass sie mit einem vorsätzlichen Aushungern
der Pflegekinder nicht gerechnet haben. Ihnen ist aber anzulasten, dass ihnen der schlechte körperliche Zustand trotz ausreichender
Auffälligkeiten, der jedenfalls bei einer professionellen Betrachtung durch einen Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin des
Jugendamts schon im Jahr 1994 entdeckt werden musste und spätestens ab dem Jahr 1996 für jeden Laien sich aufdrängen musste,
keinen Anlass gegeben hat, die medizinische Versorgung der Kinder zu hinterfragen. Dabei wäre es angesichts der Bedeutung
der Gesundheit des Pflegekinds unzureichend gewesen, nur auf die Angaben der Pflegeeltern zu vertrauen. Vielmehr hätte ein
verantwortungsvoller Mitarbeiter des Jugendamtes die Pflegeeltern veranlassen müssen, eine medizinische Untersuchung aller
drei Pflegekinder in die Wege zu leiten und vom Arzt über den Befund und die beabsichtigte Behandlung der Pflegekinder ein
entsprechendes Attest ausstellen zu lassen, damit die körperlichen Belange der Pflegekinder in der weiteren Hilfeplanung ausreichend
Berücksichtigung finden konnten. Eine ernsthaft betriebene fachgerechte Untersuchung der Pflegekinder hätte zutage gefördert,
dass der körperliche Zustand des Klägers entgegen der Angaben der Pflegeeltern gegenüber Dritten, denen der Zustand der Pflegekinder
aufgefallen ist, nicht auf genetischen Bedingungen, Vorschädigungen, einer körperlichen oder psychischen Erkrankung oder anderen
äußeren Einflüssen, sondern auf einer Unterernährung beruhte. Ein entsprechendes verantwortungsbewusstes, am gesundheitlichen
Wohl des Kindes ausgerichtetes Verhalten der Mitarbeiter des Jugendamts des Beklagten hätte im Jahr 1994 zur Herausnahme des
Klägers aus der Pflegefamilie führen müssen.
Der Beklagte kann sich nicht darauf berufen, dass noch am 09.04.1997 Frau B. vom Kreisjugendamt H. das äußere Erscheinungsbild
des Klägers als klein und kräftig beschrieben hat. Nach wie vor esse er sehr gerne, jedoch entwickle er ein Mengengespür.
Er bewege sich gerne, welches sich günstig auf seinen Stoffwechsel und seine Figur ausgewirkt hat. Zu diesem Zeitpunkt war
ausweislich der Einschulungsuntersuchung das Körpergewicht bereits über 20 % unter dem bei der Körperlänge zu erwartenden
Soll-Gewicht und damit nach den sachverständigen Ausführungen im Strafverfahren für jeden medizinischen Laien auffällig, weil
ein solches Kind unnatürlich mager ist. Selbst in bekleidetem Zustand entgeht dann dem Gegenüber nicht die beginnende Vergreisung
im Gesicht. Wer dann noch von einem kräftigen Erscheinungsbild und der günstigen Auswirkung der Bewegung auf die Figur spricht,
hat den Kläger nicht wahrgenommen, sondern sich trotz eines Ortstermins allein auf die Angaben der Pflegeeltern verlassen.
Überzeugend ist der Hinweis des Landgerichts, auch einem medizinischen Laien hätte klar sein müssen, dass ein Kind, das -
wie die Pflegemutter im Jahr 1997 angab - angeblich besonders viel isst, jedoch langsam ein Mengengespür entwickelt, eher
zu dick als zu dünn sein muss.
5.
Die Mitarbeiter des Beklagten haben damit ihre gegenüber dem Kläger bestehenden Amtspflichten gemäß §§ 27, 33, 36 Abs. 2 Satz 2, 37 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII verletzt. Die Verkennung der eigenen Zuständigkeit sowie das Unterlassen von Überprüfungen der Pflegefamilie mit einer angemessen
kritischen Einstellung gegenüber Behauptungen der Pflegeeltern und das Unterlassen einer Beschäftigung mit dem Kläger persönlich
beruhen auf einer Verletzung der von den Mitarbeitern des Beklagten zu erwartenden Sorgfalt und waren daher fahrlässig. Der
Kläger besitzt keine anderweitige Ersatzmöglichkeit i.S.d. §
839 Abs.
1 Satz 2
BGB. Die inhaftierten Pflegeeltern sind zur Leistung von Schadensersatz nicht in der Lage. Auf eine evtl. Mithaftung des Landkreises
H. kann der Kläger ebenfalls nicht verwiesen werden (BGHZ 13, 88, 104; Staudinger-Wurm,
BGB, 13. Aufl., Bearb. April 2002, §
839 Rn. 280 m.w.N.).
Nach der zutreffenden Rechtsauffassung des Landgerichts sind die Schadensersatzansprüche des Klägers nicht verjährt.
5.
Gemäß § 847 Abs. 1
BGB a. F. steht dem Kläger ein Schmerzensgeld zu. Die Höhe des Schmerzensgeldes muss in einer angemessenen Beziehung der Entschädigung
zu Art. und Dauer der Verletzung unter Berücksichtigung aller für die Höhe maßgeblicher Umstände bestimmt werden. Im vorliegenden
Fall ist bei der Höhe zu berücksichtigen, dass aufgrund des Zuständigkeitsgerangels der beteiligten Jugendämter und der Amtspflichtverletzungen
der Mitarbeiter des Beklagten der Kläger über drei Jahre länger in der Pflegefamilie R. verblieben ist und sich in dieser
Zeit aufgrund der Unterernährung sein körperlicher Zustand immer weiter verschlechtert hatte. Am Schluss hatte der Kläger
lediglich noch 1,9 kg über der todbringenden 60-%-Prozent-Grenze des für ihn damals kritischen Werts von 9,9 kg. Zuvor war
bereits bei Unterschreiten der 80-%-Grenze insoweit eine abstrakte Lebensgefahr eingetreten, als schon grippale Infekte tödlich
enden konnten, weil das körpereigene Abwehrsystem geschwächt ist (S. 134 des Strafurteils). Neben der durch Aushungern bedingten
körperlichen Entwicklung des Klägers während der letzten drei Jahre in der Pflegefamilie sind die daneben von den Pflegeeltern
ausgeübten Repressalien, wie sie sich aus dem Strafurteil ergeben, erhöhend beim Schmerzensgeld zu berücksichtigen. Durch
die Nachlässigkeiten des Jugendamtes musste der Kläger den Tod seines Pflegebruders Alexander miterleben. Seine Erlebnisse
und damit verbundenen Belastungen hat er als Zeuge im Strafverfahren ebenso wie die ihm zuteil gewordenen Repressalien ausführlich
und nach einer sachverständigen Begutachtung glaubhaft geschildert. Durch die Verlängerung des Aufenthalts des Klägers bei
den Pflegeeltern R. um über drei Jahre und das Erlebnis des Todes des als Bruder angesehenen Alexander wurde die nach der
Festnahme der Eheleute R. verbliebene Traumatisierung des Klägers, wie sie auch im Strafurteil, insbesondere bei der Wiedergabe
der Angaben des Klägers als Zeuge und den Ausführungen zur kinderpsychiatrischen Untersuchung zum Ausdruck kommt, wesentlich
mit verursacht.
Andererseits waren die Täter der Misshandlungen zu Lasten des Klägers die Eheleute R., während die Mitarbeiter des Beklagten
(lediglich) ihre Überwachungspflichten fahrlässig verletzt hatten. Insoweit kann ein gegenüber den Eheleuten R. auszusprechender
Schmerzensgeldanspruch der Höhe nach nicht auf den Beklagten übertragen werden. Vor diesem Hintergrund hat das Landgericht,
auch wenn es eine kürzere Zeitspanne für den Verantwortungsbereich der Beklagten zu Grunde gelegt hat, im Ergebnis zu Recht
ein Schmerzengeld in Höhe von 25.000,00 EUR zugesprochen. Augrund des Zwischenvergleichs der Parteien vom 2.07.2003 ist dieser
Betrag wie aus dem Tenor ersichtlich anzulegen und auszuzahlen.
6.
Spätestens ab dem 22.09.1994 (s.o. 4.)) wurde die fahrlässige Amtspflichtverletzung der Mitarbeiter des Beklagten mitursächlich
für den Verbleib des Klägers in der Pflegefamilie und die sich fortsetzende und vertiefende Unterernährung sowie für das Miterleben
des Todes des Pflegebruders. Mangels abgrenzbarer Schadensanteile führt diese Mitursächlichkeit zu einer Haftung für den ganzen
dem Kläger entstandenen Schaden ab dem 22.09.1994 in Gesamtschuld mit der Haftung der Pflegeeltern und ggf. einer Haftung
des Landkreises H. (vgl. BGH NZV 2002, 113, 114).
Die Dauer und Schwere der Beeinträchtigung des Klägers und seines Erlebens sowie die im Strafurteil vom 30.06.1999 dokumentierten
Folgen der Misshandlungen des Klägers durch seine Pflegeeltern, die dadurch entstandenen schweren körperlichen und psychischen
Beeinträchtigungen und die im Strafurteil ab S. 146 dokumentierten Angaben des Klägers als Zeuge geben ausreichend Grund für
die Befürchtung, dass der Kläger auch zukünftig Beeinträchtigungen hinnehmen muss und materielle Schäden zu deren Behandlung
entstehen können.
Seinen materiellen Schaden musste der Kläger für die Vergangenheit schon deshalb nicht beziffern, weil bei Ansprüchen gegen
öffentlich-rechtliche Körperschaften erwartet werden kann, dass diese bereits auf ein Feststellungsurteil leisten werden (BGH
NVwZ 2001, 1193, 1194; NJW 1984, 1118, 1119 m. w. N.).
Damit ist der Klage im Hinblick auf die Feststellung der Ersatzpflicht für materielle Schäden erst ab dem 22.09.1994 stattzugegeben.
Angesichts der Schwere der Verletzungen ist auch nicht ausgeschlossen, dass es zu einem bisher nicht vorhersehbarem Verlauf
kommt, der zu einem weiteren immateriellen Schaden führen kann.
7.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
97 ZPO i.V.m. einer entsprechenden Anwendung des §
92 Abs.
2 Nr.
1 ZPO. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§
708 Nr. 10,
711 S. 1 u. S. 2, 709 S. 2
ZPO.
Der Zwischenvergleich vom 2.07.2003 führte nicht zu einer (Teil-)Erledigung des Rechtsstreits, sondern beinhaltete lediglich
die Abwicklung einer eventuellen Zahlungspflicht und hat deshalb keinen eigenen Streitwert.
Die Revision wird zur Fortbildung des Rechts zugelassen (§
543 Abs.
2 S. 1 Nr.
2 ZPO). Der Beklagte hat in der mündlichen Verhandlung vorgetragen, die hier vorliegenden Verfahrensweise des Jugendamts des Beklagten
bei der Übernahme der Zuständigkeit nach § 86 Abs. 6 SGB VIII und das Unterlassen eines zeitnahen unmittelbaren Kontakts mit dem Kind oder Jugendlichen nach der Übernahme sei eine verbreitete
Praxis der Jugendämter. Darüber hinaus berührt die Frage, wann nach einem Umzug ein Jugendamt für Leistungen nach dem SGB VIII zuständig wird und ob es sich mit Hinweis auf die Leistungsverpflichtung des früher zuständig gewesenen Trägers gemäß § 86 c SGB VIII von seinen Pflichten entbinden kann sowie die Frage der Gestaltung und Intensität der persönlichen Kontakte zwischen Jugendamt
und Kind oder Jugendlichen einschließlich dessen Mitwirkungsbefugnisse die Interessen der Allgemeinheit in besonderem Maß
(vgl. BGH NJW 2003, 65).