OVG Niedersachsen, Urteil vom 28.04.1999 - 4 L 5085/99
Sozialhilferecht - Kostenerstattung zwischen Sozialhilfeträgern bei Umzügen vor dem 1. Januar 1994
»Die Vorschrift des § 107
BSHG n. F. über die Kostenerstattung zwischen Sozialhilfeträgern bei Umzügen von Personen, die innerhalb eines Monats nach dem
Aufenthaltswechsel der Hilfe bedürfen, ist auch auf Umzüge anzuwenden, die vor dem Inkrafttreten der Vorschrift am 1. Januar
1994 abgeschlossen worden sind. In diesen Fällen sind die Kosten zu erstatten, die ab diesem Stichtag für höchstens zwei Jahre
seit dem Aufenthaltswechsel entstanden sind.«
Normenkette: BSHG § 107 (n. F.)
Vorinstanzen: VG Oldenburg 25.03.1998 3 A 473/96
Entscheidungstext anzeigen:
Tatbestand:
Die Beklagte gewährte dem im Jahre 1953 geborenen, ledigen Herrn R. vom 1. Juni 1992 bis zum 30. November 1993 laufende Hilfe
zum Lebensunterhalt. Herr R. zog am 12. November 1993 aus dem Gebiet der Beklagten in das Gebiet der Klägerin um. Diese gewährte
ihm ab dem 1. Dezember 1993 weiterhin laufend Sozialhilfe. Sie wandte in der Zeit vom 1. Januar 1994 bis zum 11. November
1995 14.295,85 DM für die Hilfe zum Lebensunterhalt (unter Einschluss einmaliger Beihilfen) sowie 709,80 DM für Krankenhilfe
auf. Ferner zahlte sie Mehraufwandsentschädigungen für gemeinnützige und zusätzliche Arbeit in Höhe von 811,50 DM.
Mit Schreiben vom 7. und vom 28. März 1994 verlangte die Klägerin von der Beklagten die Erstattung der Sozialhilfeleistungen
für Herrn R. gemäß § 107
BSHG n. F. Die Beklagte lehnte dies mit der Begründung ab, § 107
BSHG n. F. gelte erst seit dem 1. Januar 1994 und sei daher in diesem Fall nicht anwendbar, weil Herr R. bereits am 12. November
1993 verzogen sei.
Die von der Klägerin angerufene Spruchstelle für Fürsorgestreitigkeiten für die Länder Bremen und Niedersachsen beim Landkreis
Goslar wies das Begehren der Klägerin auf Verpflichtung der Beklagten zur Kostenerstattung mit Schiedsspruch vom 16. November
1995 zurück. Zur Begründung führte die Spruchstelle aus: Der Klägerin stehe ein Anspruch auf Kostenerstattung gemäß § 107 Abs. 1
BSHG n. F. gegen die Beklagte nicht zu, da diese Vorschrift nur auf Umzüge anzuwenden sei, die nach ihrem Inkrafttreten - 1. Januar
1994 - abgeschlossen worden seien. Eine Übergangsregelung, nach der für verschiedene Fälle unterschiedliches Recht anzuwenden
wäre, habe dadurch vermieden werden sollen, dass die durch das Gesetz zur Umsetzung des Föderalen Konsolidierungsprogramms
geänderten Regelungen über die örtliche Zuständigkeit und die Kostenerstattung sechs Monate später als das Gesetz im übrigen
in Kraft treten sollten.
Die Klägerin hat gegen diese Entscheidung der Spruchstelle zwar Berufung eingelegt. Nachdem sie die Fürsorgerechtsvereinbarung,
aufgrund derer die Spruchstellen tätig werden, zum 31. Dezember 1995 gekündigt hatte, ist das Berufungsverfahren aber - mangels
Einverständnis aller Beteiligter mit seiner Fortführung - eingestellt worden.
Am 13. Februar 1996 hat die Klägerin bei dem Verwaltungsgericht Klage erhoben und sinngemäß beantragt,
die Beklagte zu verpflichten, an sie 15.817,15 DM zu zahlen.
Das Verwaltungsgericht hat der Klage mit Urteil vom 25. März 1998 antragsgemäß stattgegeben. Zur Begründung hat es ausgeführt:
Der Verwaltungsrechtsweg sei gegeben. Die Beklagte habe nicht die Einrede erhoben, dass eine Schiedsvereinbarung zwischen
den Beteiligten vorliege. Im übrigen habe die Klägerin die Fürsorgerechtsvereinbarung zum Ende des Jahres 1995 gekündigt.
Ein "schiedsrichterliches Verfahren" nach der Fürsorgerechtsvereinbarung könne zwar ungeachtet einer Kündigung der Vereinbarung
durch eine Partei noch einvernehmlich durch die Beteiligten fortgeführt werden.
Die Klägerin habe aber durch ihr Verhalten deutlich gemacht, dass sie das Schiedsverfahren nicht weiterführen wollte.
Die Klage sei auch begründet. Die Klägerin habe einen Anspruch gegen die Beklagte auf Erstattung der Kosten, die ihr durch
die Gewährung der Sozialhilfe für Herrn R. in der Zeit vom 1. Januar 1994 bis zum 11. November 1995 entstanden seien.
Die Voraussetzungen des § 107 Abs. 1
BSHG in der Fassung, die diese Bestimmung durch Art. 7 Nr. 26 des Gesetzes zur Umsetzung des Föderalen Konsolidierungsprogrammes - FKPG - vom 23. Juni 1993 (BGBl. I S. 944) erhalten habe
und die gemäß Art. 43 Nr. 5 FKPG am 1. Januar 1994 in Kraft getreten sei, seien erfüllt. Eine Übergangsvorschrift etwa des
Inhalts, dass vor dem 31. Dezember 1993 durchgeführte Umzüge die Rechtsfolgen von § 107
BSHG n. F. nicht auslösen sollten, habe der Gesetzgeber nicht geschaffen. § 107
BSHG n. F. erfasse deshalb alle im Zeitpunkt seines Inkrafttretens noch nicht abgeschlossenen Sachverhalte. "Sachverhalt" in diesem
Sinn sei die durch den Umzug eines Hilfeempfängers begründete, bis zu zwei Jahren fortdauernde und für höchstens zwei Monate
minus einen Tag unterbrochene Pflicht eines anderen Trägers, dem Hilfeempfänger Sozialhilfe zu gewähren. Maßgeblich sei insoweit
das Regelungsprogramm von § 107
BSHG n. F. Die an den Ortswechsel eines Hilfeempfängers anknüpfende Pflicht zur Kostenerstattung nach § 107
BSHG a.F. sei durch das FKPG grundsätzlich geändert worden. Abgeschlossen im Sinne der Vorschrift sei demzufolge der Sachverhalt
erst, wenn nach Maßgabe von § 107
BSHG n.F. ein Anspruch auf Erstattung der Sozialhilfe am 1. Januar 1994 nicht (mehr) gegeben sei. Die Neuregelung umfasse deshalb
auch die Umzüge von Personen, die (auch) nach ihrem Aufenthaltswechsel sozialhilfebedürftig seien (würden), wenn und soweit
die Voraussetzungen für eine Kostenerstattung gemäß § 107
BSHG n. F. am 1. Januar 1994 - dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der Vorschrift - gegeben (gewesen) seien. Dies bedeute einerseits,
dass § 107
BSHG n. F. auch auf Erstattungsansprüche anzuwenden sei, die bei dem Inkrafttreten der Regelung am 1. Januar 1994 bereits entstanden
seien, und andererseits, dass der auf zwei Jahre ab Umzug begrenzte Erstattungsanspruch nur für die Zeit ab dem Zeitpunkt
des Inkrafttretens der Regelung bestehe.
Dass nach der Begründung der Neufassung des Gesetzes die Regelung nur auf Umzüge anzuwenden sei, die nach dem Inkrafttreten
abgeschlossen würden (BT-Drs. 12/4401 S.84), sei für die Auslegung von § 107
BSHG n. F. unerheblich. Der Wortlaut der Vorschrift selbst lege sich diese Beschränkung auf Umzüge nach dem 1. Januar 1994 nicht
bei. Sie werde auch nicht mittelbar dadurch herbeigeführt, dass § 107
BSHG n. F. gemäß Art. 43 Abs. 5 FKPG erst am 1. Januar 1994 in Kraft getreten sei. Letzteres führe nur dazu, dass Ansprüche nach § 107
BSHG n. F. erst mit Wirkung ab dem 1. Januar 1994 zu "laufen" begönnen. Das bedeute nur, dass die zwei Jahre, auf die der Anspruch
auf Kostenerstattung aus § 107 Abs. 1 Satz 1 BSHG n. F. gemäß § 107 Abs. 2 Satz 2 BSHG begrenzt sei, nicht die Zeit zwischen dem Abschluss des Umzugs und dem 31. Dezember 1993 umfassten, nicht aber, dass vor
dem 1. Januar 1994 durchgeführte Umzüge von am neuen Aufenthaltsort Sozialhilfebedürftigen nicht Erstattungsansprüche nach
§ 107
BSHG n. F. auslösen könnten.
Auch eine systematische Auslegung des FKPG zwinge nicht dazu, § 107
BSHG n. F. auf nach dem 1. Januar 1994 durchgeführte Umzüge zu beschränken. Insbesondere die Übergangsregelung des § 147
BSHG i.d.F. des FKPG zum Fortbestehen der Kostenerstattungspflicht nach § 108
BSHG a. F. könne lediglich für die Frage, ob und in welchem Umfang Ansprüche auf Kostenerstattung nach § 107
BSHG a. F. nach dem Inkrafttreten von § 107
BSHG n. F. fortbestünden, von Belang sein, nicht aber für die Auslegung von § 107
BSHG. n. F. selbst.
Dass die von ihm, dem Verwaltungsgericht, für richtig gehaltene Auslegung von § 107
BSHG n. F. zu einer "gespaltenen" Rechtsanwendung führe - der Klägerin stehe für den Monat Dezember 1993 ein Anspruch auf Kostenerstattung
nach § 107
BSHG n. F. nicht zu, sondern erst ab 1. Januar 1994 -, sei hinzunehmen; sie folge zwingend aus dem Wortlaut von § 107
BSHG n. F.
Die vorgenommene Auslegung von § 107
BSHG n. F. begegne auch nicht verfassungsrechtlichen Bedenken. Insbesondere werde dem Gesetz nicht unzulässige Rückwirkung beigelegt.
§ 107
BSHG n. F. sei lediglich eine Vorschrift mit "unechter" Rückwirkung bzw. mit (in der neueren Terminologie des Bundesverfassungsgerichts,
vgl. BVerfG, Beschl. d. 2. Senats vom 14.5.1986 - 2 BvL 2/83 -, BVerfGE 72, 200, 241 f. = DVBl. 1986, 814 ff. = NJW 1987, 1749 ff.) "tatbestandlicher Rückanknüpfung". Es bestehe auch nicht ein schutzwürdiges Vertrauen der Beklagten auf einen Fortbestand
der Rechtsfolgen entsprechend der alten Rechtslage.
Die Klägerin habe im übrigen ihren Anspruch frist- und formgerecht im Sinne des § 111
SGB X geltend gemacht.
Gegen dieses Urteil richtet sich die von dem Senat mit Beschluss vom 16. November 1998 (4 L 2247/98) gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 2
VwGO zugelassene Berufung der Beklagten. Sie trägt zur Begründung im wesentlichen vor:
Die Klage sei unzulässig, da sie, die Beklagte, vorsorglich den Einwand der Unzulässigkeit des Verwaltungsrechtsweges auf
Grund der Schiedsvereinbarung erhebe. Mit ihrer Erklärung vom 26. Januar 1996 gegenüber der Zentralen Spruchstelle für Fürsorgestreitigkeiten,
sie betrachte das Verfahren als erledigt, habe sie zum Ausdruck gebracht, dass sie ein Interesse an einer Fortführung des
Verfahrens nicht sehe und deshalb davon ausgehe, dass die Klägerin das Verfahren nicht weiterführen wolle; Gegenteiliges habe
die Klägerin auch nicht mitgeteilt. In der Sache habe das Verwaltungsgericht bei der Umschreibung des durch § 107
BSHG n.F. geregelten Sachverhalts verkannt, dass Herr R. am 12. November 1993 seinen Umzug abgeschlossen habe, abgeschlossener
"Sachverhalt" in diesem Sinne daher der Umzug des Hilfeempfängers im November 1993 gewesen sei. Wenn das Verwaltungsgericht
auf den Umzug des Herrn R. im November 1993 die Neufassung des § 107
BSHG anwende, greife es nachträglich in einen abgeschlossenen und durch § 107
BSHG a. F. geregelten Sachverhalt ein, werde das schutzwürdige Vertrauen der Beklagten in das unveränderte Fortbestehen dieses
Sachverhaltes verletzt und gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung aller Sozialhilfeträger verstoßen - bei einem erst im
Dezember 1993 erfolgten Umzug werde der Sozialhilfeträger bessergestellt als bei einem Umzug zu einem früheren Zeitpunkt,
da nur im ersteren Fall ein Anspruch auf Kostenerstattung für zwei Jahre bestünde -. Die Meinung des Verwaltungsgerichts,
§ 107
BSHG n. F. sei auch auf Erstattungsansprüche anzuwenden, die bei dem Inkrafttreten der Regelung am 1. Januar 1994 bereits entstanden
gewesen seien, aber der auf zwei Jahre ab Umzug begrenzte Erstattungsanspruch bestehe nur für die Zeit ab dem Zeitpunkt des
Inkrafttretens der Regelung, widerspreche insbesondere dem Wortlaut, dem Willen und der Systematik des Gesetzes, ausweislich
derer gerade nicht eine Übergangsvorschrift begründet werden sollte. Der Gesetzgeber habe vielmehr lediglich gemäß § 147 zu § 108
BSHG eine Übergangsregelung für Altfälle getroffen. Insoweit widerspreche die Auffassung des Verwaltungsgerichts, wie dieses selbst
einräume, auch dem in der Begründung des Regierungsentwurfs des Gesetzes zum Ausdruck gekommenen Willen des Gesetzgebers.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Verwaltungsgerichts Oldenburg vom 25. März 1998 zu ändern und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigt das angegriffene Urteil.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten
und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die Entscheidung ergeht im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (§§ 125 Abs. 1 Satz 1, 101 Abs. 2
VwGO).
Die Berufung der Beklagten ist nicht begründet.
Der Senat weist die Berufung aus den Gründen des angefochtenen Urteils zurück und sieht insoweit gem. § 130 b S. 2 VwGO von einer weiteren - nur wiederholenden - Darstellung der Entscheidungsgründe ab. Das Berufungsvorbringen der Beklagten rechtfertigt
eine andere Entscheidung nicht.
Der nunmehr vorsorglich erhobene Einwand der Beklagten, der Verwaltungsrechtsweg sei auf Grund der Schiedsvereinbarung unzulässig,
geht ins Leere. Denn eine Weiterführung des Spruchstellenverfahrens nach der Kündigung der Fürsorgerechtsvereinbarung durch
die Klägerin war nur im Einverständnis beider Streitbeteiligter möglich, worauf die Zentrale Spruchstelle mit Schreiben vom
1. Januar 1996 hingewiesen hat. Der Erklärung der Beklagten vom 26. Januar 1996 gegenüber der Zentralen Spruchstelle für Fürsorgestreitigkeiten,
sie betrachte das Verfahren als erledigt und sei an seiner Fortführung nicht interessiert, hat gerade dazu geführt, daß das
Berufungsverfahren vor der Zentralen Spruchstelle (mangels Einverständnisses der Beklagten mit dessen Fortführung) ohne Entscheidung
abgebrochen worden ist. Für die Meinung der Beklagten, die danach erfolgte Klageerhebung durch die Klägerin sei unzulässig,
fehlt eine rechtliche Grundlage. Insbesondere handelt die Klägerin nicht widersprüchlich oder treuwidrig. Denn sie hat damit,
dass sie gegen den Schiedsspruch Berufung eingelegt hat, gerade deutlich gemacht, dass sie den Spruch nicht hinnehmen will
und an ihrem Erstattungsanspruch festhält, den sie nunmehr nur noch auf dem Klagewege verfolgen kann.
Zur materiellen Rechtslage hebt die Beklagte - insoweit in Übereinstimmung mit dem Verwaltungsgericht - zutreffend hervor,
dass das FKPG zu § 107
BSHG n. F. eine Übergangsregelung nicht enthält. Das bedeutet, dass seit dem 1. Januar 1994, dem Tag des Inkrafttretens der Neufassung
des § 107
BSHG, die Vorschrift auf jeden ihrem Regelungsbereich unterliegenden Sachverhalt anzuwenden ist. Insoweit legt die Beklagte ihrer
Argumentation aber ein unzutreffendes, nämlich ein zu enges, Verständnis des geregelten Sachverhalts zugrunde. Denn § 107 Abs. 1
BSHG n. F. regelt nicht etwa nur den Umzug eines Sozialhilfeempfängers und sich daraus ergebende Rechtsfolgen - insoweit ist die
plakative Überschrift der Norm missverständlich -. Der Sachverhalt, an den § 107 Abs. 1
BSHG n. F. Rechtsfolgen knüpft, setzt sich vielmehr zusammen aus einem "Verziehen" einer Person aus dem Zuständigkeitsbereich
eines Sozialhilfeträgers in den eines anderen Sozialhilfeträgers einerseits und dem Entstehen eines Hilfebedarfs innerhalb
eines Monats nach dem Aufenthaltswechsel andererseits. Beide Tatbestandsmerkmale zusammen bilden den geregelten Sachverhalt.
Bezogen auf den vorliegenden Fall bedeutet das, dass der Sachverhalt nicht mit der Beendigung des Umzugs des Herrn R. im November
1993 abgeschlossen war, sondern dass die Sachverhaltselemente Umzug und am Zuzugsort bestehender Hilfebedarf einen Dauerzustand,
d. h. einen fortwährenden Sachverhalt, bildeten, der bei Inkrafttreten des § 107
BSHG n. F. noch andauerte und von der Neufassung des § 107
BSHG erfasst wurde.
Daraus folgt zugleich, dass eine Anwendung des § 107
BSHG n. F. auf diesen Sachverhalt mit Wirkung ab dem 1. Januar 1994 weder eine verfassungsrechtlich unzulässige Rückwirkung enthält
noch ein schutzwürdiges Vertrauen der Beklagten in ein Abgeschlossensein der Sozialhilfesache R. verletzt. Soweit bei der
Beklagten ein solcher Vertrauenstatbestand bestanden haben sollte, hätte er auf einer unzutreffenden Vorstellung von dem geregelten
Sachverhalt bestanden. Dass eine tatbestandliche Anknüpfung einer Norm an einen bei ihrem Inkrafttreten teilweise oder schon
ganz in der Vergangenheit liegenden Sachverhalt bei Begründung von Rechtsfolgen nur für die Zukunft zulässig ist (vgl. BVerfG
a.a.O., BVerfGE 72, 200, 242), stellt auch die Beklagte nicht in Abrede.
Dass der Gesetzgeber davon abgesehen hat, eine Übergangsvorschrift zu 107 BSHG n. F. zu schaffen, steht einer Anwendung dieser Norm auf (zumindest teilweise) in der Zeit vor ihrem Inkrafttreten begründete
Sachverhalte nicht entgegen. Maßgebend ist insoweit der Regelungsgehalt der Norm.
Schließlich ist auch nicht zu sehen, dass die von dem Verwaltungsgericht und dem Senat vertretene Rechtsauffassung zu Ungereimtheiten
oder einer "gespaltenen Rechtsanwendung" führt. Dass eine zu einem bestimmten Stichtag - hier dem 1. Januar 1994 - wirksam
werdende Rechtsänderung zu unterschiedlichen Rechtsfolgen hinsichtlich der Zeit vor dem Stichtag und der Zeit nach dem Stichtag
führt liegt in dem Wesen jeder Gesetzesänderung. Im übrigen ergeben sich hier nur folgende Fallgruppen:
- Liegt der Zeitpunkt des "Verziehens" des Hilfebedürftigen mindestens zwei Jahre vor dem 1. Januar 1994, so bleibt allein
§ 107
BSHG a. F. anwendbar.
- Liegen Umzug und Eintritt der Hilfebedürftigkeit des Hilfeempfängers weniger als zwei Jahre vor dem 1. Januar 1994, so richten
sich die Rechtsfolgen für die Zeit bis einschließlich 31. Dezember 1993 nach § 107
BSHG a. F., während sich für den Rest des Zeitraums von zwei Jahren seit dem Aufenthaltswechsel (§ 107 Abs. 2 Satz 2 BSHG n. F.) die Rechtsfolgen nach § 107
BSHG n. F. richten. Daraus folgt zugleich, dass eventuell entstandene Erstattungsansprüche nach § 107
BSHG a. F. ab dem 1. Januar 1994 für die Zukunft erloschen sind und sich für die Folgezeit (neu) nur nach Maßgabe des § 107
BSHG n. F. ergeben können (Senat, Beschl. v. 7. Juli 1997 - 4 O 3007/97 -, V. n. b.).
- In Fällen des Umzugs und des Eintritts der Hilfebedürftigkeit ab dem 1. Januar 1994 kommt lediglich § 107
BSHG zum Tragen.
Ein Eingehen auf die übrigen Argumente der Beklagten erübrigt sich, da diese auf der Voraussetzung beruhen, dass man - zu
Unrecht, wie ausgeführt - als geregelten Sachverhalt lediglich den Umzug als solchen des Hilfeempfängers ansieht.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 2, 188 Satz 2 VwGO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167
VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 10 ZPO.
Entscheidungstext anzeigen:
Tatbestand:
Die Beklagte gewährte dem im Jahre 1953 geborenen, ledigen Herrn R. vom 1. Juni 1992 bis zum 30. November 1993 laufende Hilfe
zum Lebensunterhalt. Herr R. zog am 12. November 1993 aus dem Gebiet der Beklagten in das Gebiet der Klägerin um. Diese gewährte
ihm ab dem 1. Dezember 1993 weiterhin laufend Sozialhilfe. Sie wandte in der Zeit vom 1. Januar 1994 bis zum 11. November
1995 14.295,85 DM für die Hilfe zum Lebensunterhalt (unter Einschluss einmaliger Beihilfen) sowie 709,80 DM für Krankenhilfe
auf. Ferner zahlte sie Mehraufwandsentschädigungen für gemeinnützige und zusätzliche Arbeit in Höhe von 811,50 DM.
Mit Schreiben vom 7. und vom 28. März 1994 verlangte die Klägerin von der Beklagten die Erstattung der Sozialhilfeleistungen
für Herrn R. gemäß § 107
BSHG n. F. Die Beklagte lehnte dies mit der Begründung ab, § 107
BSHG n. F. gelte erst seit dem 1. Januar 1994 und sei daher in diesem Fall nicht anwendbar, weil Herr R. bereits am 12. November
1993 verzogen sei.
Die von der Klägerin angerufene Spruchstelle für Fürsorgestreitigkeiten für die Länder Bremen und Niedersachsen beim Landkreis
Goslar wies das Begehren der Klägerin auf Verpflichtung der Beklagten zur Kostenerstattung mit Schiedsspruch vom 16. November
1995 zurück. Zur Begründung führte die Spruchstelle aus: Der Klägerin stehe ein Anspruch auf Kostenerstattung gemäß § 107 Abs. 1
BSHG n. F. gegen die Beklagte nicht zu, da diese Vorschrift nur auf Umzüge anzuwenden sei, die nach ihrem Inkrafttreten - 1. Januar
1994 - abgeschlossen worden seien. Eine Übergangsregelung, nach der für verschiedene Fälle unterschiedliches Recht anzuwenden
wäre, habe dadurch vermieden werden sollen, dass die durch das Gesetz zur Umsetzung des Föderalen Konsolidierungsprogramms
geänderten Regelungen über die örtliche Zuständigkeit und die Kostenerstattung sechs Monate später als das Gesetz im übrigen
in Kraft treten sollten.
Die Klägerin hat gegen diese Entscheidung der Spruchstelle zwar Berufung eingelegt. Nachdem sie die Fürsorgerechtsvereinbarung,
aufgrund derer die Spruchstellen tätig werden, zum 31. Dezember 1995 gekündigt hatte, ist das Berufungsverfahren aber - mangels
Einverständnis aller Beteiligter mit seiner Fortführung - eingestellt worden.
Am 13. Februar 1996 hat die Klägerin bei dem Verwaltungsgericht Klage erhoben und sinngemäß beantragt,
die Beklagte zu verpflichten, an sie 15.817,15 DM zu zahlen.
Das Verwaltungsgericht hat der Klage mit Urteil vom 25. März 1998 antragsgemäß stattgegeben. Zur Begründung hat es ausgeführt:
Der Verwaltungsrechtsweg sei gegeben. Die Beklagte habe nicht die Einrede erhoben, dass eine Schiedsvereinbarung zwischen
den Beteiligten vorliege. Im übrigen habe die Klägerin die Fürsorgerechtsvereinbarung zum Ende des Jahres 1995 gekündigt.
Ein "schiedsrichterliches Verfahren" nach der Fürsorgerechtsvereinbarung könne zwar ungeachtet einer Kündigung der Vereinbarung
durch eine Partei noch einvernehmlich durch die Beteiligten fortgeführt werden.
Die Klägerin habe aber durch ihr Verhalten deutlich gemacht, dass sie das Schiedsverfahren nicht weiterführen wollte.
Die Klage sei auch begründet. Die Klägerin habe einen Anspruch gegen die Beklagte auf Erstattung der Kosten, die ihr durch
die Gewährung der Sozialhilfe für Herrn R. in der Zeit vom 1. Januar 1994 bis zum 11. November 1995 entstanden seien.
Die Voraussetzungen des § 107 Abs. 1
BSHG in der Fassung, die diese Bestimmung durch Art. 7 Nr. 26 des Gesetzes zur Umsetzung des Föderalen Konsolidierungsprogrammes - FKPG - vom 23. Juni 1993 (BGBl. I S. 944) erhalten habe
und die gemäß Art. 43 Nr. 5 FKPG am 1. Januar 1994 in Kraft getreten sei, seien erfüllt. Eine Übergangsvorschrift etwa des
Inhalts, dass vor dem 31. Dezember 1993 durchgeführte Umzüge die Rechtsfolgen von § 107
BSHG n. F. nicht auslösen sollten, habe der Gesetzgeber nicht geschaffen. § 107
BSHG n. F. erfasse deshalb alle im Zeitpunkt seines Inkrafttretens noch nicht abgeschlossenen Sachverhalte. "Sachverhalt" in diesem
Sinn sei die durch den Umzug eines Hilfeempfängers begründete, bis zu zwei Jahren fortdauernde und für höchstens zwei Monate
minus einen Tag unterbrochene Pflicht eines anderen Trägers, dem Hilfeempfänger Sozialhilfe zu gewähren. Maßgeblich sei insoweit
das Regelungsprogramm von § 107
BSHG n. F. Die an den Ortswechsel eines Hilfeempfängers anknüpfende Pflicht zur Kostenerstattung nach § 107
BSHG a.F. sei durch das FKPG grundsätzlich geändert worden. Abgeschlossen im Sinne der Vorschrift sei demzufolge der Sachverhalt
erst, wenn nach Maßgabe von § 107
BSHG n.F. ein Anspruch auf Erstattung der Sozialhilfe am 1. Januar 1994 nicht (mehr) gegeben sei. Die Neuregelung umfasse deshalb
auch die Umzüge von Personen, die (auch) nach ihrem Aufenthaltswechsel sozialhilfebedürftig seien (würden), wenn und soweit
die Voraussetzungen für eine Kostenerstattung gemäß § 107
BSHG n. F. am 1. Januar 1994 - dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der Vorschrift - gegeben (gewesen) seien. Dies bedeute einerseits,
dass § 107
BSHG n. F. auch auf Erstattungsansprüche anzuwenden sei, die bei dem Inkrafttreten der Regelung am 1. Januar 1994 bereits entstanden
seien, und andererseits, dass der auf zwei Jahre ab Umzug begrenzte Erstattungsanspruch nur für die Zeit ab dem Zeitpunkt
des Inkrafttretens der Regelung bestehe.
Dass nach der Begründung der Neufassung des Gesetzes die Regelung nur auf Umzüge anzuwenden sei, die nach dem Inkrafttreten
abgeschlossen würden (BT-Drs. 12/4401 S.84), sei für die Auslegung von § 107
BSHG n. F. unerheblich. Der Wortlaut der Vorschrift selbst lege sich diese Beschränkung auf Umzüge nach dem 1. Januar 1994 nicht
bei. Sie werde auch nicht mittelbar dadurch herbeigeführt, dass § 107
BSHG n. F. gemäß Art. 43 Abs. 5 FKPG erst am 1. Januar 1994 in Kraft getreten sei. Letzteres führe nur dazu, dass Ansprüche nach § 107
BSHG n. F. erst mit Wirkung ab dem 1. Januar 1994 zu "laufen" begönnen. Das bedeute nur, dass die zwei Jahre, auf die der Anspruch
auf Kostenerstattung aus § 107 Abs. 1 Satz 1 BSHG n. F. gemäß § 107 Abs. 2 Satz 2 BSHG begrenzt sei, nicht die Zeit zwischen dem Abschluss des Umzugs und dem 31. Dezember 1993 umfassten, nicht aber, dass vor
dem 1. Januar 1994 durchgeführte Umzüge von am neuen Aufenthaltsort Sozialhilfebedürftigen nicht Erstattungsansprüche nach
§ 107
BSHG n. F. auslösen könnten.
Auch eine systematische Auslegung des FKPG zwinge nicht dazu, § 107
BSHG n. F. auf nach dem 1. Januar 1994 durchgeführte Umzüge zu beschränken. Insbesondere die Übergangsregelung des § 147
BSHG i.d.F. des FKPG zum Fortbestehen der Kostenerstattungspflicht nach § 108
BSHG a. F. könne lediglich für die Frage, ob und in welchem Umfang Ansprüche auf Kostenerstattung nach § 107
BSHG a. F. nach dem Inkrafttreten von § 107
BSHG n. F. fortbestünden, von Belang sein, nicht aber für die Auslegung von § 107
BSHG. n. F. selbst.
Dass die von ihm, dem Verwaltungsgericht, für richtig gehaltene Auslegung von § 107
BSHG n. F. zu einer "gespaltenen" Rechtsanwendung führe - der Klägerin stehe für den Monat Dezember 1993 ein Anspruch auf Kostenerstattung
nach § 107
BSHG n. F. nicht zu, sondern erst ab 1. Januar 1994 -, sei hinzunehmen; sie folge zwingend aus dem Wortlaut von § 107
BSHG n. F.
Die vorgenommene Auslegung von § 107
BSHG n. F. begegne auch nicht verfassungsrechtlichen Bedenken. Insbesondere werde dem Gesetz nicht unzulässige Rückwirkung beigelegt.
§ 107
BSHG n. F. sei lediglich eine Vorschrift mit "unechter" Rückwirkung bzw. mit (in der neueren Terminologie des Bundesverfassungsgerichts,
vgl. BVerfG, Beschl. d. 2. Senats vom 14.5.1986 - 2 BvL 2/83 -, BVerfGE 72, 200, 241 f. = DVBl. 1986, 814 ff. = NJW 1987, 1749 ff.) "tatbestandlicher Rückanknüpfung". Es bestehe auch nicht ein schutzwürdiges Vertrauen der Beklagten auf einen Fortbestand
der Rechtsfolgen entsprechend der alten Rechtslage.
Die Klägerin habe im übrigen ihren Anspruch frist- und formgerecht im Sinne des § 111
SGB X geltend gemacht.
Gegen dieses Urteil richtet sich die von dem Senat mit Beschluss vom 16. November 1998 (4 L 2247/98) gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 2
VwGO zugelassene Berufung der Beklagten. Sie trägt zur Begründung im wesentlichen vor:
Die Klage sei unzulässig, da sie, die Beklagte, vorsorglich den Einwand der Unzulässigkeit des Verwaltungsrechtsweges auf
Grund der Schiedsvereinbarung erhebe. Mit ihrer Erklärung vom 26. Januar 1996 gegenüber der Zentralen Spruchstelle für Fürsorgestreitigkeiten,
sie betrachte das Verfahren als erledigt, habe sie zum Ausdruck gebracht, dass sie ein Interesse an einer Fortführung des
Verfahrens nicht sehe und deshalb davon ausgehe, dass die Klägerin das Verfahren nicht weiterführen wolle; Gegenteiliges habe
die Klägerin auch nicht mitgeteilt. In der Sache habe das Verwaltungsgericht bei der Umschreibung des durch § 107
BSHG n.F. geregelten Sachverhalts verkannt, dass Herr R. am 12. November 1993 seinen Umzug abgeschlossen habe, abgeschlossener
"Sachverhalt" in diesem Sinne daher der Umzug des Hilfeempfängers im November 1993 gewesen sei. Wenn das Verwaltungsgericht
auf den Umzug des Herrn R. im November 1993 die Neufassung des § 107
BSHG anwende, greife es nachträglich in einen abgeschlossenen und durch § 107
BSHG a. F. geregelten Sachverhalt ein, werde das schutzwürdige Vertrauen der Beklagten in das unveränderte Fortbestehen dieses
Sachverhaltes verletzt und gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung aller Sozialhilfeträger verstoßen - bei einem erst im
Dezember 1993 erfolgten Umzug werde der Sozialhilfeträger bessergestellt als bei einem Umzug zu einem früheren Zeitpunkt,
da nur im ersteren Fall ein Anspruch auf Kostenerstattung für zwei Jahre bestünde -. Die Meinung des Verwaltungsgerichts,
§ 107
BSHG n. F. sei auch auf Erstattungsansprüche anzuwenden, die bei dem Inkrafttreten der Regelung am 1. Januar 1994 bereits entstanden
gewesen seien, aber der auf zwei Jahre ab Umzug begrenzte Erstattungsanspruch bestehe nur für die Zeit ab dem Zeitpunkt des
Inkrafttretens der Regelung, widerspreche insbesondere dem Wortlaut, dem Willen und der Systematik des Gesetzes, ausweislich
derer gerade nicht eine Übergangsvorschrift begründet werden sollte. Der Gesetzgeber habe vielmehr lediglich gemäß § 147 zu § 108
BSHG eine Übergangsregelung für Altfälle getroffen. Insoweit widerspreche die Auffassung des Verwaltungsgerichts, wie dieses selbst
einräume, auch dem in der Begründung des Regierungsentwurfs des Gesetzes zum Ausdruck gekommenen Willen des Gesetzgebers.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Verwaltungsgerichts Oldenburg vom 25. März 1998 zu ändern und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigt das angegriffene Urteil.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten
und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs verwiesen.
Gründe
für eine Zulassung der Revision liegen nicht, vor. Insbesondere hat die Sache nicht grundsätzliche Bedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1
VwGO), da die zwischen den Beteiligten streitigen Rechtsfragen nur einen bereits abgelaufenen Übergangszeitraum von bis zu zwei
Jahren ab dem 1. Januar 1994 betreffen und außerdem nicht ersichtlich ist, dass die Entscheidung für eine nennenswerte Zahl
noch offener anderer Verfahren Bedeutung hätte.
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