SGB-II-Leistungen
Einstweiliger Rechtsschutz
Leistungsausschluss
Anwendung geltenden Rechts
Durchbrechung in vorläufigen Rechtsschutzverfahren
Gründe
Die zulässige Beschwerde des Antragsgegners ist begründet.
Das Sozialgericht hat dem von den Antragstellern gestellten und auf einstweilige Verpflichtung des Antragsgegners zur Gewährung
von Leistungen der Grundsicherung nach dem Sozialgesetzbuch 2. Buch (SGB II) gerichteten Antrag mit dem angefochtenen Beschluss zu Unrecht entsprochen. Im Ergebnis zu Recht hat es dem auf eine noch
weiterreichende Leistungsverpflichtung des Antragsgegners gerichteten Begehren der Antragsteller nicht entsprochen, so dass
deren Beschwerde zurückzuweisen war.
Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung zu Gunsten der Antragsteller sind nicht erfüllt. Nach §
86b Abs.
2 Satz 2
Sozialgerichtsgesetz (
SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug
auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint.
Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt somit voraus, dass ein materieller Anspruch besteht, für den vorläufiger Rechtsschutz
begehrt wird (Anordnungsanspruch), und dass der Erlass einer gerichtlichen Entscheidung besonders eilbedürftig ist (Anordnungsgrund).
Eilbedürftigkeit besteht, wenn dem Betroffenen ohne eine schnelle Entscheidung eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende
Verletzung seiner Rechte unmittelbar droht, die durch eine spätere Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden
kann (vgl. BVerfG, Beschl. vom 12.05.2005 zum Az. 1 BvR 569/05, Rn. 23 bei juris). Der gemäß Art.
19 Abs.
4 Grundgesetz (
GG) von den Gerichten zu gewährende effektive Rechtsschutz erfordert auch Rechtsschutzerlangung innerhalb angemessener Zeit.
Daraus folgt, dass gerichtlicher Rechtsschutz namentlich in Eilverfahren so weit wie möglich der Schaffung solcher vollendeter
Tatsachen zuvorzukommen hat, die dann, wenn sich eine Maßnahme bei (endgültiger) richterlicher Prüfung als rechtswidrig erweist,
nicht mehr rückgängig gemacht werden können (BVerfG, Beschl. vom 16.05.1995 - 1 BvR 1087/91, Rn. 28 bei juris).
Der geltend gemachte (Anordnungs-) Anspruch und die Eilbedürftigkeit sind glaubhaft zu machen (§
86b Abs.
2 Satz 4
SGG in Verbindung mit §§
920 Abs.
2,
294 Abs.
1 Zivilprozessordnung -
ZPO-). Dafür ist erforderlich, aber auch ausreichend, dass die tatsächlichen Voraussetzungen von Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund
zur Überzeugung des erkennenden Gerichts mit überwiegender Wahrscheinlichkeit vorliegen (vgl. BSG, Beschl. vom 08.08.2001 - B 9 V 23/01 B, Rn. 5 bei juris).
Ob ein Anordnungsanspruch vorliegt, ist in der Regel durch summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache zu
ermitteln. Können ohne die Gewährung von Eilrechtsschutz jedoch schwere und unzumutbare Nachteile entstehen, die durch das
Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, ist eine abschließende Prüfung erforderlich (BVerfG, Beschl. vom 12.05.2005
- 1 BvR 569/05, Rn. 24 f. bei juris). Liegt ein Anordnungsanspruch nicht vor, ist ein schützenswertes Recht zu verneinen und der Eilantrag
abzulehnen. Hat die Hauptsache hingegen offensichtlich Aussicht auf Erfolg, ist dem Eilantrag stattzugeben, wenn die Angelegenheit
eine gewisse Eilbedürftigkeit aufweist. Kann bei der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren vielfach nur möglichen summarischen
Prüfung die Erfolgsaussicht nicht abschließend beurteilt werden, muss das Gericht anhand einer Folgenabwägung unter umfassender
Berücksichtigung grundrechtlicher Belange entscheiden (BVerfG, Beschl. vom 12.05.2005 - 1 BvR 569/05, Rn. 26 bei juris; vgl. auch Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt,
SGG, 12. Aufl. 2017, §
86b Rn. 29a). Je schwerwiegender ein durch ein Abwarten des Hauptsacheverfahrens endgültig eintretender Schaden ausfiele, desto
geringere Anforderungen sind im Rahmen der Folgenabwägung an die Überzeugung des Gerichts vom Bestehen eines Anordnungsanspruchs
zu richten. Damit verbunden ist jedoch nicht eine Reduzierung der Bemühungen, die nach Lage des konkreten Einzelfalles vom
Rechtsschutzsuchenden zur Glaubhaftmachung des von ihm geltend gemachten Anordnungsanspruchs und Anordnungsgrundes zu verlangen
sind. Wer geltend macht, ohne eine schnelle gerichtliche Entscheidung von schweren und unzumutbaren Nachteilen unmittelbar
bedroht zu sein, von dem ist zu erwarten, dass er alles ihm Mögliche sowie nach den konkreten Umständen des Einzelfalls Zumutbare
unternimmt, um die ihm drohenden Nachteile nicht eintreten zu lassen. Fehlt es ersichtlich an derartigen Bemühungen, können
im Einzelfall erhebliche Zweifel insbesondere am Vorliegen des Anordnungsgrundes, aber auch des Anordnungsanspruchs gerechtfertigt
sein. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Gewährung von Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB II im Streit ist. Wird geltend gemacht, auf die Gewährung existenzsichernder Leistungen dringend angewiesen zu sein, dann muss
vom Antragsteller erwartet werden, dass er alles in seiner Macht Stehende unternimmt, diese Mittel möglichst schnell zur Überwindung
der behaupteten finanziellen oder sonstigen Notlage zu erhalten.
Unter Berücksichtigung der vorstehend angeführten Rechtsgrundsätze liegen die Voraussetzungen für eine einstweilige Leistungsverpflichtung
des Antragsgegners durch gerichtliche Anordnung nicht vor, denn es ist nicht glaubhaft, dass die Antragsteller Leistungsberechtigte
im Sinne von § 7 SGB II sind. Vielmehr ist davon auszugehen, dass sie dem Leistungsausschluss gemäß § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 Buchst. b SGB II unterfallen, weil sich das Aufenthaltsrecht der Antragstellerin zu 1) allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, was zu
einem Leistungsausschluss ihrer Person und der Antragsteller zu 2) bis 4) als Familienangehörige führt. Die Antragstellerin
zu 1) besitzt kein Freizügigkeitsrecht als Arbeitnehmerin, weil nicht glaubhaft ist, dass sie seit dem von ihr angegebenen
Zuzug ins Bundesgebiet im Mai 2014 eine mehr als völlig untergeordnete und unwesentliche Tätigkeit ausgeübt hat.
Es ist nicht glaubhaft, dass die Antragstellerin zu 1) die von ihr behauptete Hilfstätigkeit in der Pizzeria J in E bei B
ausgeübt hat. Diesbezüglich sind von ihr zwar sowohl ein Arbeitsvertrag als auch Stundenquittungen und Lohnabrechnungen vorgelegt
worden, gleichwohl geht der Senat aufgrund einer Vielzahl von Indizien von einem fingierten Arbeitsverhältnis zur Erlangung
von Sozialleistungen aus. Auffällig ist zunächst, dass in dem angeblich am 01.01.2017 geschlossenen Arbeitsvertrag eine Vergütung
von brutto 8,50 EUR pro Stunde benannt ist, während die maschinell erstellten Lohnabrechnungen ebenso wie die mit Stundennachweisen
verbundenen Abrechnungen einen Stundenlohn von 9 Euro ausweisen. Zudem stimmt auch der in den mit Stundennachweisen verbundenen
Abrechnungen benannte Gesamtbetrag für den jeweiligen Monat (324 EUR) nicht mit dem in den Quittungen angegebenen Betrag von
312,01 EUR überein. Auffällig ist zudem das in den Quittungen jeweils angegebene Datum, welches jeweils den ersten eines Abrechnungsmonats
benennt. Dies wäre nur i.V.m. einer erfolgten Vorauszahlung des Lohnes erklärlich, die aber arbeitsvertraglich nicht vereinbart
wurde und die auch nicht stattgefunden haben kann, weil kein gleichbleibendes Monatseinkommen, sondern eine variable wöchentliche
Arbeitszeit im Arbeitsvertrag vereinbart worden ist. Erhebliche Zweifel an der Echtheit der vorgelegten Belege begründet auch
der Umstand, dass auf den Lohnquittungen in dem ausweislich des Vordrucks für einen "Stempel/Unterschrift des Empfängers"
vorgesehenen Bereich ein Stempel sowie eine Unterschrift der Pizzeria angebracht wurde, eine Quittierung des Empfangs des
benannten Geldes durch die Antragstellerin zu 1) hingegen unterblieben ist. Eine Quittierung allein der Auszahlung des Betrages
durch den Auszahlenden ist aber im Hinblick auf die Beweisfunktion einer Quittung für eine erfolgte Auszahlung sinnlos. Zu
Recht weist schließlich der Antragsgegner zutreffend auf die völlig voneinander abweichenden arbeitgeberseitigen Unterschriften
auf den vorgelegten Arbeitsverträgen vom 01.11.2015 und 01.01.2017 bei demselben Arbeitgeber hin. Eine überzeugende Einlassung
der Antragsteller dazu ist nicht erfolgt. Die tatsächliche Durchführung des von den Antragstellern angegebenen Arbeitsverhältnisses
sieht der Senat auch aufgrund des Inhalts der von ihm beigezogenen Akten über die Insolvenz des Arbeitgebers (Amtsgericht
Münster Az. 88 IN 25/16) als widerlegt an. In diesem Verfahren war von B, der sich als Asylbewerber im Inland aufhält und nicht zur Ausübung einer
selbständigen Tätigkeit berechtigt ist, am 29.03.2017 angegeben worden, er habe die Bestellungen entgegengenommen und die
Speisen zubereitet, während sein Vater mit seinem eigenen Kraftfahrzeug die Auslieferung vorgenommen habe. An den Wochenenden
habe er zudem zwei Aushilfen als Fahrer beschäftigt. Angaben über eine Beschäftigung der Antragstellerin zu 1) wurden von
ihm nicht gemacht. Nach dem am 03.07.2017 erstellten Gutachten des Rechtsanwalts und Steuerberaters Dr. N für das Insolvenzantragsverfahren
hatte der Schuldner zu diesem Zeitpunkt bereits die Geschäftsräume geschlossen und am 30.05.2017 eine Vermögensauskunft gegenüber
dem Obergerichtsvollzieher abgegeben. In Anbetracht dessen ist nicht nur die hier geltend gemachte Fortführung des Arbeitsverhältnisses
bis einschließlich September 2017, sondern die gesamte Existenz des Arbeitsverhältnisses nicht glaubhaft.
Dies gilt auch in Bezug auf die weiteren von den Antragstellern angegebenen vorangegangenen Arbeitsverhältnisse. Auch insoweit
konnte wegen erheblicher Widersprüche in den Angaben der Antragsteller nicht von der Durchführung echter Arbeitsverhältnisse
ausgegangen werden. In der im sozialgerichtlichen Verfahren eingereichten eidesstattlichen Versicherung der Antragstellerin
zu 1) heißt es, sie habe vor der Arbeit in der Pizzeria über eine Dauer von ca. sieben Monaten einen Minijob in einem Imbiss
ausgeübt und sei danach etwa sechs Monate arbeitslos gewesen, bis sie am 01.01.2017 ihre neue Tätigkeit begonnen habe. Demgegenüber
findet sich in dem in den Verwaltungsakten befindlichen und am 10.05.2017 unterzeichneten Antrag auf Leistungen nach dem SGB II die Angabe, die Antragstellerin zu 1) habe sich von Juni 2015 bis Ende 2016 in Elternzeit befunden; Angaben über eine Beschäftigung
in jenem Zeitraum wurden von ihr nicht gemacht. Im Gerichtsverfahren wurde dann ein Arbeitsvertrag über eine Tätigkeit bei
der Pizzeria J in E ab November 2015 vorgelegt. Damit liegen auch diesen Zeitraum betreffend sich fundamental widersprechende
Angaben vor, wobei der Senat ein Versehen oder Erinnerungslücken als Ursache der Widersprüchlichkeiten ausschließt, weil es
sich nicht um Nebensächlichkeiten handelt und der Antragstellerin zu 1) schon aufgrund der Art ihrer Äußerung in Form einer
eidesstattlichen Versicherung die Wichtigkeit der Richtigkeit der Angaben bewusst gewesen sein muss. Widersprüchlich sind
schließlich auch die Angaben über eine Beschäftigung bei der Manns GmbH, die ausweislich der im Leistungsantrag gemachten
Angaben von Oktober 2013 bis November 2014 gedauert haben soll. In ihrer eidesstattlichen Versicherung war von der Antragstellerin
zu 1) demgegenüber eine erstmalige Einreise ins Bundesgebiet im Jahre 2014 und eine Arbeitsdauer beim vorgenannten Arbeitgeber
von ungefähr neun Monaten angegeben worden.
Wegen den von den Antragstellern behaupteten Arbeitsverhältnisse vor 2017 würde sich infolge der Regelungen in § 2 Abs. 3
S. 2 Freizügigkeitsgesetz/EU für den streitigen Zeitraum zudem schon kein Leistungsanspruch mehr aufgrund fortbestehender
Arbeitnehmereigenschaft ergeben. Ein Aufenthaltsrecht könnte insoweit nur auf Art. 10 der Verordnung EU 492/2011 gestützt
werden. Diesbezüglich sieht § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 Buchst. c SGB II jedoch auch einen Leistungsausschluss vor. Ob dieser Leistungsausschluss wegen Verstoßes gegen europarechtliche Bestimmungen
unwirksam ist, bestand im vorliegenden Verfahren kein Anlass zur Klärung. Vor einer Entscheidung über die Verfassungswidrigkeit
oder Europarechtswidrigkeit geltenden Rechts durch die dazu allein berufenen nationalen oder europäischen Gerichte (Bundesverfassungsgericht,
Europäischer Gerichtshof) ist geltendes Recht grundsätzlich anzuwenden. Eine Durchbrechung dieses Grundsatzes in vorläufigen
Rechtsschutzverfahren, in denen wegen der Eilbedürftigkeit keine Aussetzung des Verfahrens und Anrufung der für die Feststellung
der Verfassungswidrigkeit oder Europarechtswidrigkeit von gesetzlichen Regelungen allein zuständigen Gerichte erfolgen kann,
setzt nicht nur die Überzeugung des mit der Sache befassten Gerichts von der Verfassungswidrigkeit/ Europarechtswidrigkeit
der Rechtsnorm, sondern im Rahmen der allgemein anzustellenden Interessenabwägung auch die absolute Unzumutbarkeit der Hinnahme
der Anwendung geltenden Rechts bis zu einer Entscheidung über dessen Verfassungswidrigkeit/ Europarechtswidrigkeit voraus.
Schon von Letzterem ist hier nicht auszugehen, denn die Antragsteller haben ausgehend vom Zeitpunkt der Beantragung der Sozialleistungen
mehr als sieben Monate bis zur Inanspruchnahme gerichtlichen Eilrechtsschutzes verstreichen lassen und auch den Ablehnungsbescheid
vom 16.05.2017 zunächst hingenommen. Da sie zum Zeitpunkt der Antragstellung nach ihren Angaben im Leistungsantrag von Mai
2017 über keinerlei Vermögen verfügten und folglich solches zwischenzeitlich auch nicht zur Lebensführung aufgebraucht haben
können, muss davon ausgegangen werden, dass sie auch ohne die beantragten Sozialleistungen zur Sicherung ihres notwendigen
Lebensunterhalts befähigt sind.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von §
193 SGG.
Entgegen der Regelung des §
119 Abs.
1 S. 2 der
Zivilprozessordnung (
ZPO) war in Bezug auf die Rechtsverteidigung des durch die erstinstanzliche Entscheidung Erlangten keine PKH zu bewilligen, denn
das Obsiegen in erster Instanz beruhte auf einer vorsätzlich unrichtigen Sachverhaltsdarstellung der Antragsteller (vgl. Seiler,
in: Thomas/Putzo,
Zivilprozessordnung, 37. Aufl. 2016, §
119 Rn. 13 m.w.N.). Im Übrigen war die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren abzulehnen, weil es an
einer hinreichenden Aussicht auf Erfolg fehlte (§
114 Abs.
1 ZPO i.V.m. §
73a SGG).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§
177 SGG).