Tatbestand
Der im Jahr 1979 geborene Kläger beantragte im November 2010 die Gewährung von Versorgung nach dem
OEG wegen einer Gewalttat vom 27.06.1996. An diesem Tag tötete der Vater des damals 16-jährigen Klägers den Herrn a.F. (Opfer),
der mit der Mutter und dem Vater des Klägers gemeinsam ein Einfamilienhaus bewohnte und mit dem die Mutter des Klägers ein
intimes Verhältnis unterhalten hatte. Der Vater des Klägers wollte, nachdem es Streit zwischen seiner Mutter und dem Opfer
gegeben hatte, klare Verhältnisse schaffen, das intime Verhältnis seiner Frau mit dem Opfer nicht mehr hinnehmen und begab
sich dazu in den ersten Stock des Einfamilienhauses in das Zimmer des Opfers, schlug diesen mit einem Pflasterstein zu Boden
und brachte ihm mit einem Brotmesser Stichverletzungen im Bereich der linken Wange und hinter dem linken Ohr bei, wodurch
der Geschädigte noch am Tatort an schweren Schädelverletzungen verstarb. Der Vater des Klägers wurde wegen dieser Tat zu einer
Freiheitsstrafe von neun Jahren verurteilt (Urteil des Landgerichts Koblenz vom 20.03.1979, Az.: 2103 Js 27829/96-3 KS).
Der Kläger teilte mit, er sei durch den Lärm am Tatabend wach geworden, habe sich nach oben begeben und dort seinen Vater
im Zimmer des Geschädigten stehen gesehen, Messer und Stein noch in den Händen und dadurch einen Schockschaden erlitten. Seitdem
leide er an einer posttraumatischen Belastungsstörung, Anpassungsstörung und Drogenmissbrauch aufgrund von fehlender Resozialisierung.
Das Amt für soziale Angelegenheiten zog einen Behandlungsbericht der Psychosomatischen Klinik für Kinder und Jugendliche,
Bad N , den Entlassungsbericht über eine stationäre Heilbehandlung in der A -Klinik M vom 09.05.2011, den Abschlussbericht
über eine stationäre Heilbehandlung in der R -M -Fachklinik A vom 10. bis 13.08.1998 bei, holte einen Befundbericht der Dipl.-Psych.
M ein und ließ den Kläger durch den Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. N begutachten. Dieser untersuchte den Kläger im
April 2012 und kam in seinem Gutachten im Wesentlichen zu dem Ergebnis, beim Kläger bestehe eine Zwangsstörung in Form eines
leicht bis mittelgradig ausgeprägten Waschzwangs sowie ein leicht ausgeprägter Kontrollzwang. Als typisches Zeichen des Waschzwanges
falle eine raue und rissige Haut im Bereich beider Handrücken auf. Der Waschzwang sei nach Angaben des Klägers erstmals ca.
ein halbes Jahr nach dem Vorfall aufgetreten, weil er zu dieser Zeit stark gemobbt worden sei. Die Zwangsstörung werde jedoch
nicht als typische komorbide Störung einer posttraumatischen Belastungsstörung gesehen. Im Anschluss an das Trauma habe sich
eine chronische Schmerzstörung entwickelt, vor allem im Bereich der Halswirbelsäule, teilweise in den Kopf und in die Schulter
ausstrahlend. In der Vorgeschichte gebe der Kläger einen Drogenabusus, insbesondere in der Form von Canabis und Amphetaminen
an, der sich ebenfalls im Anschluss an das Trauma entwickelt habe. Seit einem halben Jahr seit der Kläger aber abstinent.
Während der Begutachtung hätten sich Hinweise auf eine Vorschädigung ergeben. In der biographischen Anamnese gebe der Kläger
bereits vor dem schädigenden Ereignis Gewalterlebnisse seitens des Vaters an, der wohl ein Alkoholproblem gehabt zu haben
scheine. Weiterhin beschreibe der Kläger zur damaligen Zeit regelmäßige gewalttätige Übergriffe des Vaters auf die Mutter,
was wiederum zu einer Sozialproblematik geführt habe, weswegen er von anderen häufig ausgegrenzt worden sei. Die vom Kläger
geltend gemachten Gesundheitsstörungen, wie Angst vor Menschenansammlungen, Angstzustände, nächtliche Schweißausbrüche, Depressionen
und Albträume ließen sich bei der Begutachtung nachweisen. Es bestehe eine posttraumatische Belastungsstörung, die wahrscheinlich
im ursächlichen Zusammenhang mit dem schädigenden Ereignis stehe. Der GdS bezüglich der posttraumatischen Belastungsstörung
sei auf 30 einzuschätzen.
Mit Bescheid vom 30.01.2013 lehnte das Amt für soziale Angelegenheiten den Antrag des Klägers ab. Zur Begründung wurde ausgeführt,
nach den Feststellungen im Ermittlungsverfahren und der Schilderung in der Anklageschrift sei der Kläger nicht unmittelbar
Tatzeuge gewesen. Das stimme auch mit seiner Vernehmung im Ermittlungsverfahren am 02.07.1996 überein. Dort habe er angegeben,
er sei erst nach der Tat in das Zimmer des Opfers hineingegangen und habe dort seinen Vater gesehen. Dies stimme nicht mit
den Angaben im Antrag auf Gewährung von Opferversorgung überein, wo der Kläger angegeben habe, er habe mitansehen müssen,
wie der Vater den Liebhaber seiner Mutter erschlagen und erstochen habe. Da der Kläger somit den Tod des Geschädigten nicht
persönlich miterlebt habe, sei er kein unmittelbarer Zeuge. Eine besondere emotionale Beziehung (Sonderbeziehung zwischen
unmittelbarem Opfer und Dritten) habe nicht bestanden, da der Kläger kein naher Angehöriger des Geschädigten gewesen sei.
Den Widerspruch des Klägers wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 11.12.2013 zurück.
Im vor dem Sozialgericht Koblenz durchgeführten Klageverfahren hat der Kläger darauf hingewiesen, dass er sich nach der Gewalttat
in psychiatrischer Behandlung begeben habe und den Bericht über die stationäre Heilbehandlung vom 13.10.1997 bis 03.03.1998
in der Psychosomatischen Klinik für Kinder und Jugendliche, Bad N , vorgelegt. Der Kläger hat zudem ausgeführt, er habe, als
er die Treppe hochgegangen sei, immer wieder dumpfe Schläge gehört. Als er in das Zimmer des Geschädigten hineingesehen habe,
habe er gesehen, wie sein Vater den Geschädigten mehrmals mit einem Pflasterstein auf den Kopf geschlagen habe, überall sei
nur Blut gewesen. Er sei wie gelähmt gewesen. Er habe dann noch gesehen, wie der Vater den Geschädigten mit dem Messer attackiert
habe und habe das röchelnde Geräusch des Geschädigten gehört. Überall sei Blut gewesen, er sei völlig hilflos gewesen, er
sei die Treppe runter gelaufen, um nach seiner Mutter zu sehen. Dass er dies nicht so ausführlich direkt nach der Schädigung
der Polizei geschildert habe, habe damit zu tun, dass er seinerzeit seinen Vater schützen wollte und Repressalien seitens
des gewalttätigen Vaters befürchtet habe.
Mit Urteil vom 22.05.2014 hat das Sozialgericht die angefochtenen Bescheide aufgehoben und den Beklagten verurteilt, eine
posttraumatische Belastungsstörung des Klägers als Schädigungsfolge nach dem
OEG anzuerkennen und Versorgung nach einem GdS von 30 zu gewähren. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, dass die
Kammer davon ausgehe, dass der Kläger Tatzeuge eines Todschlags gewesen sei. Der Kläger habe zwar den unmittelbaren Tötungsakt
nicht gesehen, sei jedoch Sekunden nach den todbringenden Schlägen hinzugekommen, habe den Vater mit blutverschmierten Händen,
den Pflasterstein und das noch lebende und sich im Todeskampf befindliche Opfer in seinem Blut liegend gesehen. Wenn der Kläger
angebe, er habe auch die eigentliche Tat gesehen, aber bei der Polizei keine Angaben gemacht, um den Vater nicht zu belasten,
überzeuge das nicht. Den damaligen Aussagen im Ermittlungsverfahren komme ein höher Beweiswert zu, als den heutigen Angaben.
Zudem sei der Kläger durch die Geräusche bei der Tathandlung wach geworden und erst dann nach oben gegangen. Das Opfer sei
dem Kläger seit Jahren bekannt gewesen, habe zusammen mit dem Kläger über einen längeren Zeitraum zusammen gewohnt, sei in
die Familie des Klägers aufgenommen worden und vom Kläger auch als Opa angesehen worden. Insofern habe eine emotionale Beziehung
des Klägers zum Opfer bestanden. Nach dem Gutachten des Dr. N und auch der versorgungsärztlichen Stellungnahme der Frau Dr.
W -Sch vom 27.04.2013 sei der GdS mit 30 zu bewerten.
Am 18.07.2014 hat der Beklagte gegen das ihm am 01.07.2014 zugestellte Urteil Berufung eingelegt.
Der Beklagte trägt vor,
zwar könnten auch Sekundärgeschädigte nach dem
OEG entschädigt werden, selbst wenn der Angriff nicht gegen sie direkt gerichtet sei. Nach der Rechtsprechung sei das Erfordernis
der Unmittelbarkeit auch für die örtliche Nähe als noch gegeben anzusehen, wenn das Sekundäropfer durch die Übermittlung der
Nachricht des Todes einen Schock erleide, da der Erhalt der Nachricht von der schweren Gewalttat gegen das Primäropfer das
Ende der Gewalttat bilde. Von einer unmittelbaren Tatzeugenschaft des Klägers sei nicht auszugehen. Eine besondere emotionale
Beziehung zwischen dem Kläger und dem Opfer habe nicht bestanden. Die Tatsache, dass das Opfer über einen längeren Zeitraum
zusammen mit dem Kläger im elterlichen Haus gewohnt habe, reiche dafür nicht aus.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 22.05.2014 aufzuheben und die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
die Revision zuzulassen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Kläger trägt vor,
auch das Sozialgericht sei davon ausgegangen, dass er das im Todeskampf befindliche Opfer im Blut liegend gesehen habe. Das
Sozialgericht habe auch zu Recht eine Sonderbeziehung zwischen dem Opfer und ihm angenommen. Zudem sei zu berücksichtigen,
dass er der Sohn des Täters sei.
Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens des Arztes für Psychiatrie und Neurologie, Forensische Psychiatrie
Dr. B . Der Sachverständige hat den Kläger im Oktober 2014 untersucht und ist in seinem Gutachten im Wesentlichen zu dem Ergebnis
gelangt, hinsichtlich der verschiedenen psychotropen Substanzen sei der Kläger gegenwärtig vollumfänglich remittiert und habe
seit einem Jahr keine Drogen mehr konsumiert. Ein ständiger Gebrauch von Drogen sei nicht mehr nachweisbar. Eine Dysthymie,
wie von Dr. N diagnostiziert, sei nicht mehr gegeben. Der Kläger sei im Gespräch stimmungsmäßig ausgeglichen. Die Angststörung
habe sich mittlerweile gebessert, der Kläger sei unauffällig. Eine erhöhte Angstbereitschaft sei ebenfalls nicht gegeben.
Der Kläger weise massive orthopädische Befunde auf, die im Zusammenhang mit der chronischen Schmerzstörung stünden. Im Vergleich
zum Gutachten des Dr. N habe sich die Symptomatik hinsichtlich der posttraumatischen Belastungsstörung deutlich gebessert.
Unter Zugrundelegung des Sachverhalts, von dem das Sozialgericht ausgegangen sei, sei das Auffinden des Vaters mit Blut an
den Händen und den in seinem Blut liegenden Geschädigten sicherlich geeignet, aus psychiatrischer Sicht in der Vergangenheit
eine posttraumatische Belastungsstörung auch schwereren Ausmaßes hervorzurufen. Aktuell sei das Vorliegen einer posttraumatischen
Belastungsstörung aber nicht mehr gegeben. Die psychische Symptomatik habe sich seit der Untersuchung durch Dr. N deutlich
gebessert. Dies sei sicherlich dadurch mitbedingt, dass der Kläger aktuell besondere Sorgfalt im Umgang mit seinen Kindern
aufweisen müsse, weshalb der Kläger auch seit einem Jahr keine Drogen mehr konsumiere. Bei dem Kläger beständen derzeit als
Restsymptome Anpassungsstörungen als Reaktion auf eine schwere Belastung mit gewissen Zwangshandlungen, Albträume und eine
gewisse Störung des Schlaf-Wach-Rhythmus. Andererseits weise der Kläger mittlerweile eine gute Alltagsbewältigung auf. Andere
Faktoren, wie z.B. Probleme des Klägers mit der Arbeitslosigkeit seien nicht auf ein traumatisches Erleben zu beziehen, belasteten
den Kläger aber nachvollziehbarerweise. Unter Berücksichtigung des Lebensweges des Klägers sei festzustellen, dass diese Anpassungsstörung
mit Wahrscheinlichkeit auf die vom Kläger erlebten Tatumstände vom 27.06.1996 zumindest annähernd gleichwertig wahrscheinlich
zurückzuführen sei. Aktuell seien die leichteren psychischen und psychovegetativen Störungen mit einem GdS von 20 zu bewerten,
wobei die noch bestehenden schädigungsbezogenen Restsymptome berücksichtigt seien.
Im Übrigen wird zur Ergänzung Bezug genommen auf den Inhalt der beigezogenen und den Kläger betreffenden Verwaltungsakten
des Beklagten sowie der Gerichtsakte, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung war.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung des Beklagten ist soweit begründet, als dem Kläger Versorgung nach dem
OEG nach einem GdS von 30 nur bis Oktober 2014 zusteht. Im Übrigen ist die Berufung aber nicht begründet und daher überwiegend
zurückzuweisen.
Voraussetzung für die Anerkennung von Schädigungsfolgen und die Gewährung von Versorgung gemäß §
1 OEG ist, dass der Kläger an Gesundheitsstörungen leidet, die rechtlich wesentlich durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen,
tätlichen Angriff verursacht worden sind. Dies setzt nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl. SozR 3-3800 §
1 Nr. 23) eine unmittelbare Schädigung des Anspruchstellers voraus, was grundsätzlich einen engen zeitlichen und örtlichen
Zusammenhang zwischen dem Schädigungstatbestand und der schädigenden Einwirkung ohne örtliche und zeitliche Zwischenglieder
voraussetzt. Als Schädigungsfolgen sind dabei nur solche nachgewiesenen Gesundheitsstörungen anzuerkennen, die wenigstens
mit Wahrscheinlichkeit durch das schädigende Ereignis verursacht worden sind. Wahrscheinlichkeit in dem genannten Sinn liegt
vor, wenn nach geltender medizinischer Lehrmeinung mehr für als gegen einen Ursachenzusammenhang spricht. Ursache einer Gesundheitsstörung
sind in dem hier erheblichen Sinn diejenigen Bedingungen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt
wesentlich mitgewirkt haben. Haben zu dem Eintritt einer Gesundheitsstörung mehrere Bedingungen beigetragen, so sind nur diejenigen
Ursache im Rechtssinn, die von ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Schadens wenigstens den anderen Bedingungen
gleichwertig sind. Kommt dagegen einem der Umstände gegenüber den anderen eine überragende Bedeutung zu, ist er allein Ursache
im Rechtssinn (Theorie der rechtlich wesentlichen Bedingung, vgl. Rohr/Strässer/Dahm, Kommentar zum BVG, Anm. 10 zu § 1).
Bei der Beurteilung des Kausalzusammenhangs ist die Wahrscheinlichkeit nach der herrschenden wissenschaftlichen medizinischen
Lehrmeinung zu ermitteln. Als Grundlage für die Beurteilung der erheblichen medizinischen Sachverhalte dienten der Praxis
die jeweils vom zuständigen Bundesministerium herausgegebenen "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen
Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht", die nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts als vorweggenommene
Sachverständigengutachten eine normähnliche Wirkung hatten (vgl. BSG, SozR 4-3800, § 1 Nr. 3 Rdnr. 12, m.w.N.). Auf Grund des § 30 Abs. 17 BVG hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales die am 1. Januar 2009 in Kraft getretene Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) erlassen. Nach ihrem § 1 regelt diese unter anderem die Grundsätze für die medizinische Bewertung von Schädigungsfolgen und die Feststellung ihres
Schweregrades im Sinne des § 30 Abs. 1 BVG. Nach § 2 VersMedV sind die in § 1 genannten Grundsätze und Kriterien in der Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze" festgelegt. Die in den Anhaltspunkten
(letzte Ausgabe: 2008) enthaltenen Texte und Tabellen, nach denen sich die Bewertung des GdB bzw. GdS bisher richtete, sind
in diese Anlage übernommen worden (vgl. die Begründung BR-Drucks. 767/08, S. 3 f.). Anders als die Anhaltspunkte 1983 bis
2008 enthält die VersMedV keine Bestimmungen über die Kausalitätsbeurteilung bei einzelnen Krankheitsbildern, so dass insoweit entweder auf die letzte
Fassung der Anhaltspunkte (2008) zurückgegriffen werden muss oder bei Anzeichen dafür, dass diese den aktuellen Kenntnisstand
der medizinischen Wissenschaft nicht mehr beinhalten, andere Erkenntnisquellen, insbesondere Sachverständigengutachten, genutzt
werden müssen (BSG, Urteil vom 07.04.2011, B 9 VJ 1/10 R, juris; Urteil des Senats vom 12.12.2012, Az.: L 4 VG 5/10).
Wie sich zur Überzeugung des Senats aus den beigezogenen Unterlagen und ärztlichen Befunden ergibt, ist der Kläger am 27.06.1996
insoweit Opfer einer Gewalttag geworden, als er miterleben musste, wie sein Vater den Geschädigten, Herrn F , mit einem Pflasterstein
und einem Messer getötet hat. Der Senat lässt insoweit dahinstehen, ob entsprechend den früheren Angaben des Klägers und den
Feststellungen im damaligen Ermittlungsverfahren der Kläger erst hinzugekommen ist nachdem der Geschädigte schon tot war,
oder ob - wie der Kläger nun vorträgt - er hinzugekommen ist, während der Vater bereits einen Teil der Tötungshandlung begangen
hat, aber noch mit dem Messer zugestochen hatte. In beiden Fällen ist zur Überzeugung des Senats davon auszugehen, dass dieses
Geschehen im Sinne eines sog. Schockschadens als unmittelbare Gewalttat anzusehen ist, wovon das Sozialgericht zu Recht ausgegangen
ist.
In ständiger Rechtsprechung werden auch Opfer sog. Schockschäden in den Schutzbereich des
OEG einbezogen. Dabei geht es um die psychische Schädigung von Personen, die nicht selbst von einem tätlichen Angriff getroffen,
sondern Zeuge einer Gewalttat werden oder denen die Nachricht von einem besonders schrecklichen Geschehen übermittelt wird,
dem sog. "Sekundäropfer". Dass die psychische Schädigung nicht bei demjenigen eintritt, auf den der Angriff (unmittelbar)
gerichtet ist, steht einem Anspruch nicht entgegen, weil §
1 Abs.
1 Satz 1
OEG nicht einen Angriff auf den Geschädigten voraussetzt, sondern es sich auch um einen Angriff gegen eine andere Person handeln
kann. Auch braucht sich der Vorsatz des Angreifers nicht auf die psychische Schädigung auch der anderen Person zu beziehen.
Nach der Rechtsprechung des BSG steht einem Anspruch nicht entgegen, dass das Opfer eines sog. Schockschadens keiner körperlichen, sondern einer psychischen
Einwirkung ausgesetzt ist. Auch der Anspruch eines Sekundäropfers setzt einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem Schädigungstatbestand
und der schädigenden Einwirkung im Sinne einer engen, untrennbaren Verbindung beider Elemente voraus. Es müssen die psychischen
Auswirkungen der Gewalttat beim Sekundäropfer bei wertender Betrachtung mit der Gewalttat so eng verbunden sein, dass beide
eine natürliche Einheit (BSG, Urteil vom 12. Juni 2003, B 9 VG 1/02 R, juris) bilden. Maßgebliches Kriterium für das Vorliegen des erforderlichen unmittelbaren Zusammenhangs ist die zeitliche,
örtliche und personale Nähe, wobei nicht alle Aspekte kumulativ vorliegen müssen (vgl. Hansen, Oferschutz für Dritte, ZfS
2006, 68). Allerdings bedarf es aufgrund der Rechtsprechung des BSG und des Rundschreibens des BMA vom 26.11.2002 einer besonderen Nähe des Sekundäropfers in den Fällen des unmittelbaren Miterlebens
der Gewalttat nicht, so dass Tatzeugen Versorgungsschutz auch für die psychischen Folgen einer Gewalttat genießen können.
Wie beim zivilrechtlichen Schadensanspruch eines Dritten aus §
823 BGB, der erst bei nachhaltigen traumatischen Schädigungen eingreift, die das Maß der normalen Wechselfälle des Zusammenlebens
von Menschen im allgemeinen überschreiten, bedarf es zur Anerkennung eines Schockschadens nach dem
OEG einer erheblichen Schwere, wie das BSG (SozR 4-3800 § 1 Nr. 3 mit Anm. Hansen, SGB 2004, 500) hervorhebt. Sofern der Kläger nach seinen jetzigen Angaben den Angriff des Vaters unmittelbar
miterlebt hat, bedarf es dann der vom Beklagten besonderen personalen Nähe zum unmittelbaren Opfer nicht. Dass das Miterleben
der Gewalttat von der Schwere her geeignet war, etwa eine Posttraumatische Belastungsstörung auszulösen, steht für den Senat
aufgrund der eingeholten Gutachten fest.
Aber selbst wenn der Kläger erst hinzugekommen ist, als die Gewalttat des Vaters bereits abgeschlossen war, ist der Kläger
"Opfer" i.S.d. §
1 Abs.
1 OEG geworden. Denn nach der Rechtsprechung des BSG, der sich der Senat anschließt, kann allein eine zeitliche und örtliche Nähe zum primär schädigenden Geschehen den erforderlichen
engen Zusammenhang begründen, auch wenn es an einer besonderen personalen Nähe zu dem Primäropfer fehlt (BSG, SozR 4-3800 § 1 Nr. 3 mit Anm. Hansen SGb 2004, 500; BSG, Beschluss vom 04.03.2014, Az.: B 9 V 60/13 B, juris). Im vorliegenden Fall steht für den Senat die zeitliche und örtliche Nähe des Klägers zur Gewalttat außer Zweifel.
Anders als bei den Schockschäden durch Übermittlung der Nachricht von einer Gewalttat (vgl. etwa BSGE 44, 98 ff) war der Kläger jedenfalls am Tatort, und unstreitig spätestens unmittelbar nach der Tat, hat das unmittelbare Opfer in
seinem Blut und den Vater als Täter davor stehen gesehen. Auch diese Umstände sind nach den Eigenheiten gemäß den Gutachten
geeignet, einen Schockschaden auszulösen.
Unmittelbarer Tatzeuge ist nicht nur derjenige, der die Tat "gesehen" hat. Zeuge ist jeder, der den aufzuklärenden Sachverhalt
durch eigene Wahrnehmung (wie etwa das Hören) bekunden kann. Insoweit unterscheidet sich der vorliegende Fall von der Entscheidung
des LSG des Saarlandes (Urteil vom 24.09.2013 - L 5 VE 5/11). Die Betroffenen dieses Falles hatten die konkrete Gewalttat
weder unmittelbar gesehen noch durch andere eigene Wahrnehmung unmittelbar miterlebt.
Dass der Kläger durch das Miterleben und Auffinden dieser Gewaltsituation einen psychischen Schaden erlitten hat, steht zur
Überzeugung des Senats aus den zeitnahen Befunden sowie den vom Beklagten und vom Senat eingeholten Gutachten fest. Dies zeigt
sich auch schon in dem Entlassungsbericht der Psychosomatischen Klinik Bad N vom 11.03.1998, in dem als zentraler und alles
dominierender Lebensabschnitt in der Entwicklung des Klägers die Auseinandersetzung des Vaters mit einem Nebenbuhler mit Todesfolge
beschrieben wurde. Auch dort ist, zeitnah nach der Tat, als Schilderung des Klägers angegeben, dass er den Todeskampf des
Geschädigten, den er als Opa angenommen habe, mitbekommen habe. Im Verlauf der Therapie wurde als affektivste Auswirkung der
therapeutischen Arbeit die Bearbeitung des konkret miterlebten Traumas, den Todschlag des Geliebten der Mutter hervorgehoben,
was bei dem Kläger zu einer tiefen Trauer und im weiteren Verlauf immer wieder zu depressiven Verstimmungen mit latent suizidalen
Tendenzen geführt hatte. Auch dort ist schon über zunehmende Schlafstörungen berichtet, die im direkten Zusammenhang mit der
Angst vor gravierenden Albträumen mit Bildern des Todschlages gestanden haben.
Nach den von Dr. N bei der Untersuchung am 03.02.2012 erhobenen Befunden bestanden zum damaligen Zeitpunkt im Rahmen einer
posttraumatischen Belastungsstörung eine Angststörung, depressive Störung mit mittelgradigem sozialen Rückzug sowie eine Zwangsstörung,
welche der Sachverständige zu Recht mit einem GdS von 30 bewertet hat, wovon auch die Versorgungsärztin Frau Dr. W -Sch in
ihrer Stellungnahme vom 27.04.2012 ausgegangen ist, wenngleich diese eine Nachuntersuchung nach abgeschlossener psychotherapeutischer
Behandlung im April 2016 vorgeschlagen hat. Dieser Bewertung, von der auch das Sozialgericht ausgegangen ist, schließt sich
der Senat an.
Indessen ist es nach der Begutachtung durch Dr. N beim Kläger zu einer Besserung gekommen, wie sich aus dem vom Senat eingeholten
Gutachten des Dr. B ergibt. So hat der Kläger seinen Drogenkonsum ca. ein Jahr vor der Untersuchung im Oktober 2014, also
etwa im Oktober 2013, eingestellt und war bis zur Untersuchung durch Dr. B nicht rückfällig geworden, wie sich auch aus einem
Drogenscreening ergibt. Daher ist, jedenfalls ab dem Zeitpunkt der Untersuchung durch Dr. B , da zu diesem Zeitpunkt auch
die übrigen psychiatrischen Befunde sich gebessert hatten, nur noch ein GdS von 20 zu berücksichtigen. Denn seitdem liegt
keine posttraumatische Belastungsstörung mehr vor, wohl aber - wie Dr. B dargelegt hat - eine Anpassungsstörung mit gewissen
Zwangshaltungen und gelegentlichen Alpträumen, die nach dem Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (Teil B Nr. 3.7) nicht mit
einem höheren GdS als 20 zu bewerten sind.
Nur insoweit ist die Berufung des Beklagten daher begründet.
Die Entscheidung über die Kosten stützt sich auf §
193 SGG.
Die Revision wird nicht zugelassen, da Revisionszulassungsgründe (§
160 Abs.
2 Nr.
1 und Nr.
2 SGG) nicht vorliegen.