Anspruch auf Gewährung von Regelaltersrente anstelle eines bewilligten Altersruhegeldes; Sozialrechtlicher Herstellungsanspruch
aufgrund einer Verletzung der Hinweispflichten des Rentenversicherungsträgers
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist noch die Gewährung von Regelaltersrente anstelle des bewilligten Altersruhegeldes ab 01.01.2003
streitig.
Die am 1927 in der heutigen U. geborene Klägerin siedelte am 15.11.1989 in die Bundesrepublik über und ist Inhaberin eines
Ausweises für Vertriebene und Flüchtlinge der Kategorie "A". Am 27.11.1989 beantragte die Klägerin die Gewährung von Altersruhegeld
ab dem 60. Lebensjahr für weibliche Versicherte zum frühestmöglichen Rentenbeginn, welche mit Bescheid vom 03.07.1990 zum
01.10.1987 bewilligt, jedoch erst ab 15.11.1989 gezahlt wurde. Im März 1991 erhielt die Beklagte weitere Unterlagen betreffend
die Umsiedlereigenschaft der Klägerin. Die Beklagte erließ daraufhin den Rentenbescheid vom 22.07.1991, mit welchem das Altersruhegeld
unter Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten und weiteren Ersatzzeiten neu festgestellt wurde.
Am 29.12.2006 stellte die Klägerin einen Überprüfungsantrag gemäß § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) "wegen der Bewertung von rentenrechtlichen Zeiten". Es wurde beantragt, die Zeiten vom 11.05.1944 bis 31.12.1944 wie auch
die Zeiten vom 01.09.1980 bis 31.10.1989 als Ersatzzeiten wegen Rückkehrverhinderung und/oder Gewahrsam anzuerkennen. Darüber
hinaus beantragte die Klägerin am 25.07.2007, ihr ab 01.01.1992 Altersrente für langjährig Versicherte bzw. ab 01.10.1992
Regelaltersrente zu bewilligen. Die Rentenreform 1992 sei bereits im November 1989 verabschiedet worden. Die Beklagte habe
es versäumt, ihr bei Bescheiderteilung am 22.07.1991 eine Umwandlung der Rente in eine solche für langjährige Versicherte
bzw. in eine Regelaltersrente zu empfehlen. Mit Bescheid vom 21.08.2008 stellte die Beklagte die Rente neu fest, indem sie
den Bescheid vom 22.07.1991 durch diesen ersetzte und die Umsiedlungszeit vom 11.05.1944 bis 31.12.1944 als Ersatzzeit anerkannte.
Das Inkrafttreten des
Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (
SGB VI) zum 01.01.1992 begründe dagegen keine Ansprüche auf Neufeststellung oder Umwandlung der Rente und könne demzufolge auch
keinen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch begründen. Die antragsgemäße Gewährung von Altersrente auf Grund des Antrags
vom November 1989 unter Zugrundelegung des Leistungsfalls 09.09.1987 mit Rentenbeginn zum 01.10.1987 und Zahlungsbeginn zum
15.11.1989 entspreche den zu diesem Zeitpunkt gültigen Rechtsvorschriften. Im Rahmen des hiergegen eingelegten Widerspruchs
begehrte die Klägerin den Versicherungsfall auf den 31.10.1989 "zu verschieben", um weitere Ersatzzeiten vom 10.09.1987 bis
31.10.1989 zu erlangen sowie weiterhin die Gewährung einer Regelaltersrente. In der Sitzung des Widerspruchsausschusses vom
27.06.2012 wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid (mit offensichtlich falschem Datum 14.05.2012) den Widerspruch insgesamt
zurück.
Hiergegen hat sich die am 24.07.2012 zum Sozialgericht Ulm erhobene Klage gerichtet, mit der die Klägerin zuletzt noch die
Gewährung von Regelaltersrente ab 01.10.1992 unter Berücksichtigung weiterer Ersatzzeiten begehrt hat. Die Beklagte hat eine
fiktive Rentenberechnung bezüglich einer zum 01.10.1992 an Stelle der bisherigen Rente tretende Regelaltersrente vorgelegt
(vgl. hierzu Blatt 21 ff. SG-Akte; Nachzahlungsbetrag bis 30.09.2013: 17.021,85 EUR). Mit Urteil vom 20.11.2013 hat das Sozialgericht die Beklagte verurteilt,
der Klägerin Regelaltersrente ab dem 01.10.1992 zu gewähren und im Übrigen die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt,
die Klägerin sei im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs nach den vom Bundessozialgericht in seiner Entscheidung
vom 22.10.1998 (B 5 RJ 56/97 R) aufgestellten Maßstäben zur Hinweispflicht gemäß §
115 Abs.
6 SGB VI so zu stellen, als ob sie den Rentenantrag vor dem 01.10.1992 gestellt habe, sodass ab diesem Zeitpunkt ein Anspruch auf
Regelaltersrente bestehe. Welche Nachzahlungsansprüche der Klägerin unter Beachtung des § 44 Abs. 4 SGB X zustehen, sei dabei von der Beklagten zu prüfen und zu entscheiden. Soweit die Klägerin die Anerkennung weiterer Ersatzzeiten
beanspruche, sei die Klage unbegründet.
Gegen das der Beklagten am 02.12.2013 zugestellte Urteil hat diese am 19.12.2013 Berufung eingelegt. Sie ist der Auffassung,
dass eine Hinweispflicht nach §
115 Abs.
6 SGB VI nicht bestanden habe, wenn bereits eine Altersrente vor Vollendung des 65. Lebensjahres bezogen worden sei, "weil die Berechtigten
dann bereits eine Leistung erhalten". Der anderslautenden Rechtsprechung des Bundessozialgericht werde nicht gefolgt. Die
Verletzung einer Verpflichtung zur Beratung gemäß §
14 SGB I sei nicht festzustellen, da nach Aktenlage im Jahr 1992 kein konkreter Anlass zur Beratung bestanden habe.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 20.11.2013 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
Zur Begründung hat sie ausgeführt, das Sozialgericht Ulm habe mit seiner Entscheidung im Hinblick auf die Regelaltersrente
die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts nachvollzogen, weshalb das Urteil nicht zu beanstanden sei.
In der mündlichen Verhandlung vom 26.06.2014 haben die Beteiligten den Rechtsstreit im Hinblick auf die Gewährung einer Regelaltersrente
für den Zeitraum 01.10.1992 bis 31.12.2002 übereinstimmend für erledigt erklärt.
Bezüglich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Verwaltungsakte der Beklagten sowie auf die Prozessakten
erster und zweiter Instanz Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die gemäß §
151 Abs.
1 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) form- und fristgerecht eingelegte und gemäß den §§
143,
144 SGG statthafte Berufung der Beklagten ist zulässig. Sie ist indes unbegründet und ist daher mit der aus dem Tenor ersichtlichen
Maßgabe zurückzuweisen.
Nachdem die Beteiligten den Rechtsstreit für den Zeitraum 01.10.1992 bis 31.12.2002 übereinstimmend für erledigt erklärt haben,
ist im Berufungsverfahren nur noch die Gewährung einer Regelaltersrente für den Zeitraum ab 01.01.2003 streitig. Das Sozialgericht
hat zu Recht der Klage stattgegeben, soweit die Klägerin damit die Gewährung von Regelaltersrente ab 01.01.2003 begehrt hat.
Der angefochtene Bescheid vom 21.08.2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides auf die Sitzung des Widerspruchsausschusses
vom 27.06.2012 ist insoweit rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten.
Der Klägerin steht ab 01.01.2003 die Regelaltersrente zu. Nach §
35 SGB VI a.F. haben Versicherte Anspruch auf Altersrente, wenn sie das 65. Lebensjahr vollendet und die allgemeine Wartezeit von fünf
Jahren (vgl. hierzu §
50 Abs.
1 Nr.
1 SGB VI) erfüllt haben. Dies war bei der Klägerin am 10.09.1992 der Fall.
Der Gewährung von Regelaltersrente ab 01.01.2003 steht weder die Regelung in §
99 Abs.
1 SGB VI noch §
34 Abs.
4 Nr.
3 SGB VI, letztere in der ab 01.08.2004 anzuwendenden Fassung, entgegen.
§
99 Abs.
1 Satz 1
SGB VI bestimmt, dass eine Rente aus eigener Versicherung von dem Kalendermonat an geleistet wird, zu dessen Beginn die Anspruchsvoraussetzungen
für die Rente erfüllt sind, wenn die Rente bis zum Ablauf des dritten Kalendermonats nach Ablauf des Monats beantragt wird,
in dem die Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind; bei späterer Antragstellung wird eine Rente aus eigener Versicherung von
dem Kalendermonat an geleistet, in dem die Rente beantragt wird (§
99 Abs.
1 Satz 2
SGB VI). Der Klägerin wurde zuletzt mit Rentenbescheid vom 22.07.1991 Altersruhegeld gemäß § 1248
RVO bewilligt. Einen Antrag auf Umwandlung dieser Rente in eine Regelaltersrente stellte die Klägerin zwar erst am 25.07.2007.
Gleichwohl schließt dies einen Anspruch auf Zahlung der Regelaltersrente ab 01.01.2003 nicht aus. Denn die Klägerin ist auf
Grund eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs so zu behandeln, als hätte sie den Rentenantrag bereits mit Vollendung
des 65. Lebensjahres im September 1992 gestellt. Die Beklagte hat nämlich ihre aus §
115 Abs.
6 SGB VI folgende Hinweispflicht verletzt und demgemäß die Klägerin so zu stellen, als hätte diese den gemäß §
99 SGB VI erforderlichen Antrag rechtzeitig gestellt.
Das von der Rechtsprechung entwickelte Rechtsinstitut des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs greift - im Sinne des öffentlich-rechtlichen
Nachteilsausgleichs - ein, wenn ein Leistungsträger durch die Verletzung einer ihm aus dem Sozialleistungsverhältnis obliegenden
Haupt- oder Nebenpflicht, insbesondere zur Auskunft und Beratung, nachteilige Folgen für die Rechtsposition des Betroffenen
herbeigeführt hat und diese Rechtsfolgen durch ein rechtmäßiges Verwaltungshandeln wieder beseitigt werden können. Zwischen
der Pflichtverletzung und dem Nachteil für den Betroffenen muss ein ursächlicher Zusammenhang bestehen; auf ein Verschulden
des Trägers kommt es dagegen nicht an (vgl. BSG, Urteil vom 17.08.2000, B 13 RJ 87/98 R, veröffentlicht in [...]).
Nach dem zeitgleich mit §
99 SGB VI eingeführten §
115 Abs.
6 SGB VI sollen die Rentenversicherungsträger die Berechtigten in "geeigneten Fällen" darauf hinweisen, dass sie eine Leistung erhalten
können, wenn sie diese beantragen (Satz 1). In Richtlinien der Deutschen Rentenversicherung Bund kann bestimmt werden, unter
welchen Voraussetzungen solche Hinweise erfolgen sollen (Satz 2). Die Verletzung der sich aus §
115 Abs.
6 SGB VI ergebenden Pflicht ist nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts grundsätzlich geeignet, einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch
zu begründen, wobei unschädlich ist, ob gemeinsame Richtlinien bestanden oder nicht (vgl. hierzu und zum Nachfolgenden BSG, Urteil vom 13.11.2002, B 8 KN 2/01 R, SozR 3-2600 §
99 Nr.
7). Denn Sinn und Zweck des §
115 Abs.
6 SGB VI besteht darin, Versicherte in bestimmten Fällen vor den Nachteilen des Antragsverfahrens zu bewahren, zumindest dann, wenn
sie im Hinblick auf die komplizierte gesetzliche Regelung schwierig vorauszusehen sind. Hiervon ausgehend richtet sich nach
der genannten Rechtsprechung die Geeignetheit einer Fallgruppe im Wesentlichen nach folgenden Merkmalen: Für den Versicherungsträger
muss ohne einzelfallbezogene Sachaufklärung erkennbar sein, dass ein abgrenzbarer Kreis von Berechtigten die Anspruchsvoraussetzungen
für eine Leistung erfüllt, die von solchen Personen im Regelfall in Anspruch genommen wird, und dass die Berechtigten den
Rentenantrag aus Unwissenheit nicht stellen. Gemessen an diesen Kriterien handelt es sich auch bei dem Fall der Klägerin um
einen solchen typischen Sachverhalt, bei dem es zur Feststellung der Anspruchsvoraussetzungen der Regelaltersrente (Vollendung
des 65. Lebensjahres und Erfüllung der Wartezeit) keiner einzelfallbezogenen Sachbearbeitung bedurfte. Die Beklagte konnte
aus den Daten, die über die Klägerin gespeichert waren (Geburtsdatum, Versicherungsverlauf, Altersruhegeldbescheid), ohne
weiteres erkennen, dass die anspruchsbegründenden Tatbestandsmerkmale für die Regelaltersrente erfüllt waren, und diese Daten
mittels EDV abrufen.
Soweit die Rechtsprechung in der Vergangenheit zusätzlich das Kriterium der abgrenzbaren Versicherungsgruppe aufgestellt hatte,
bei der der Wechsel in der Regel, d.h. in der überwiegenden Zahl der Fälle, zu einer Leistungserhöhung führt, so hat das Bundessozialgericht
in der zitierten Entscheidung dieses zusätzliche Erfordernis jedenfalls beim Wechsel von einem bereits zuvor bezogenen Knappschaftsruhegeld
zur Regelaltersrente nach dem
SGB VI aufgegeben. Für diese Fallgruppe soll es genügen, dass für den Rentenversicherungsträger erkennbar war, dass Bestandsrentner
auf Grund der seit dem Inkrafttreten des
SGB VI am 01.01.1992 bestehenden Rechtslage in den Genuss einer höheren Regelaltersrente kommen konnten, und er davon ausgehen musste,
dass die Berechtigten den Rentenantrag aus Unkenntnis nicht stellen. Im Gegensatz zum früheren Recht erhielt die abgrenzbare
Gruppe der Bestandsrentner durch die neue Rechtslage ab 01.01.1992 das Recht, bei Vollendung des 65. Lebensjahres die Regelaltersrente
zu beantragen. Ihre Rente war daher neu zu berechnen. Durch die vielfältigen Neuregelungen gegenüber dem bis zum 31.12.1991
geltenden Recht hatte diese Gruppe damit die Chance, eine höhere Rente zu erhalten; die Gründe für die Rentenerhöhung und
die Zahl der Betroffenen im Einzelnen können dabei dahinstehen. Nach dem früheren Recht galt dagegen das sogenannte Versicherungsfallprinzip,
wonach es bei dem einmal eingetretenen (einen) Versicherungsfall des Alters blieb und eine Neufeststellung der Altersrente
nur in Ausnahmefällen möglich war. Für die Versicherten bestand angesichts dieser Rechtslage kein Anlass, einen Antrag auf
Regelaltersrente zu stellen. Mit Inkrafttreten des
SGB VI ab 01.01.1992 wurde dieser Versichertengruppe dann die Möglichkeit zu einem Wechsel von einer vorgezogenen Altersrente zur
Regelaltersrente eröffnet; die einen solchen Wechsel ausschließende Norm des §
34 Abs.
4 Nr.
3 SGB VI ist erst zum 01.08.2004 in Kraft getreten. Dabei ist zusätzlich zu berücksichtigen, dass sich die Bestandsrentner mit einem
Antrag auf Regelaltersrente nicht der Gefahr einer Verschlechterung ihrer Rechtsposition aussetzten; denn ihre "bisherige
Rente" blieb nach §
88 Abs.
1 Satz 1
SGB VI besitzgeschützt und die Regelung in §
89 Abs.
1 Satz 1
SGB VI garantierte außerdem, dass die höchste Rente geleistet wurde. Der typische, ohne Einzelfallprüfung, durch den Versicherungsträger
erkennbare Sachverhalt im Sinne eines "geeigneten Falls", auf den sich das Informationsbedürfnis des Berechtigten bezieht,
ist daher in den genannten Fällen dadurch gekennzeichnet, dass diesen Berechtigten erstmals mit Inkrafttreten des
SGB VI ab 01.01.1992 die Möglichkeit eröffnet wurde, zu einer höheren Rentenleistung zu kommen, wobei diese Möglichkeit im Hinblick
auf §
99 Abs.
1 SGB VI antragsabhängig ist.
Die vorstehenden Gesichtspunkte, die das Bundessozialgericht zur Begründung eines "geeigneten Falles" für die Bezieher von
vorgezogenem Knappschaftsruhegeld als tragend erachtet hat, tragen in gleicher Weise für den hier vorliegenden Fall des Bezugs
von Altersruhegeld für weibliche Versicherte ab dem 60. Lebensjahr. Auch für die Bezieher von vorgezogenem Altersruhegeld
galt, dass durch die vielfältigen Neuregelungen gegenüber dem bis zum 31.12.1991 geltenden Recht die Chance bestand, eine
höhere Rente zu erhalten, was sich im Fall der Klägerin - ohne dass es hierauf ankäme - konkret bestätigte. So hätte diese
ausweislich der fiktiven Rentenberechnung der Beklagten vom 04.09.2013 für den Zeitraum vom 01.10.1992 bis 30.09.2013 eine
Nachzahlung von 17.021,85 EUR zu gegenwärtigen. Gleichermaßen wie für die Bezieher von Knappschaftsruhegeld galt auch für
die Bezieher von Altersruhegeld das Versicherungsfallprinzip, wonach es bei dem einmal eingetretenen Versicherungsfall des
Alters blieb und eine Neufeststellung der Altersrente nur in Ausnahmefällen möglich war, weshalb auch diese Versicherten keinen
Anlass hatten, einen Antrag auf Regelaltersrente zu stellen. Für die Beklagte war im Übrigen die neu eingeführte Möglichkeit
der Bezieher vorzeitiger Altersrenten zur Stellung eines Antrags auf Regelaltersrente und der Effekt einer nicht nur theoretischen,
sondern tatsächlichen Rentenerhöhung auch ohne weiteres erkennbar (vgl. BSG a.a.O.). Für den konkreten Fall der Neuordnung der beitragsfreien und beitragsgeminderten Zeiten für Versicherte in der Rentenversicherung
der Arbeiter und Angestellten ergab sich bereits aus der Gesetzesbegründung (BT-Drucksache 11/4124 Seite 247, Tabelle 3),
dass diese Neuordnung zu beachtlichen Mehrausgaben führen würde. Diese sind dort für das Jahr 1993 mit 100 Millionen DM, ab
1994 sogar mit 200 Millionen DM bzw. später mit 300 Millionen DM jährlich beziffert (BT-Drucksache a.a.O.).
Die Beklagte kam gegenüber der Klägerin ihrer Hinweispflicht aus §
115 Abs.
6 SGB VI nicht nach; aus dortiger Sicht durchaus folgerichtig, nachdem die Beklagte im vorliegenden Fall eine Hinweispflicht von vornherein
(aber wie soeben dargestellt zu Unrecht) verneinte. Jedenfalls für die Gruppe der sogenannten Bestandsrentner durfte die Beklagte
auch nicht davon ausgehen, dass die Versicherten über die Möglichkeit und die Voraussetzungen einer Inanspruchnahme von Regelaltersrente
bei Vollendung des 65. Lebensjahres hinreichend informiert waren (BSG a.a.O.). Die Klägerin besaß weder anderweitige Kenntnis noch kann ihre Unkenntnis auf grobe Fahrlässigkeit zurückgeführt
werden. Die Verletzung der Hinweispflicht durch die Beklagte war auch ursächlich dafür, dass die Klägerin nicht bei Vollendung
des 65. Lebensjahres im September 1992 oder innerhalb des Drei-Monats-Zeitraumes nach §
99 Abs.
1 Satz 2
SGB VI einen Rentenantrag stellte. Nach den schriftlichen Darlegungen der Klägerin im Verwaltungs- und im anschließenden Gerichtsverfahren
hat der Senat keine Zweifel, dass die Klägerin bei entsprechender Kenntnis von der für sie ausschließlich vorteilhaften Möglichkeit
der Beantragung von Regelaltersrente fristgerecht Gebrauch gemacht hätte. Nur die Unkenntnis der Klägerin über die Möglichkeit,
ab Vollendung des 65. Lebensjahres Regelaltersrente zu beziehen, verhinderte die rechtzeitige Antragstellung. Ist damit ein
Anspruch der Klägerin auf Fiktion einer fristgerechten Antragstellung bereits auf Grund der Verletzung der Hinweispflicht
aus §
115 Abs.
6 SGB VI zu bejahen, kann dahingestellt bleiben, ob darüber hinaus auch im Zusammenhang mit der Neufeststellung des Altersruhegeldes
im Frühjahr 1991 eine Beratungspflicht bestand.
Entgegen der Auffassung der Beklagten steht der Rentengewährung auch nicht die Regelung in §
34 Abs.
4 SGB VI entgegen. Danach ist nach bindender Bewilligung einer Rente wegen Alters der Wechsel in eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit
(Nr. 1), Erziehungsrente (Nr. 2) oder andere Rente wegen Alters (Nr. 3) ausgeschlossen. Darunter fällt grundsätzlich zwar
auch der von der Klägerin begehrte Wechsel zur Regelaltersrente, indes findet diese erst zum 01.08.2004 und damit deutlich
nach fingierter Antragstellung in Kraft getretene Norm hier keine Anwendung.
Welches Recht bei Inkrafttreten neuen Rechts anzuwenden ist, ergibt sich aus §
300 SGB VI. Diese am 01.01.1992 in Kraft getretene Vorschrift beantwortet grundsätzlich die Frage, ob auf einen bestimmten Sachverhalt
"altes" oder "neues" Recht Anwendung findet; die übergangsrechtlichen Grundsätze in §
300 Abs.
1 bis
3 SGB VI gelten für alle Änderungen des
SGB VI, also nicht nur für den Übergang von der
RVO zum
SGB VI zum 01.01.1992 (BSG, Urteil vom 01.12.1999, B 5 RJ 20/98 R, SozR 3-2600 § 300 Nr. 15). In Abs. 1 dieser Vorschrift ist bestimmt, dass neues Recht grundsätzlich ab dem Zeitpunkt seines
Inkrafttretens anzuwenden ist, auch wenn es sich auf einen Sachverhalt oder einen Anspruch bezieht, der bereits vor diesem
Zeitpunkt bestanden hat. Ausnahmen sind in Abs. 2 vorgesehen. Danach sind aufgehobene oder ersetzte Vorschriften auch nach
dem Zeitpunkt ihrer Aufhebung noch auf den bis dahin bestehenden Anspruch anzuwenden, wenn der Anspruch bis zum Ablauf von
drei Kalendermonaten nach der Aufhebung geltend gemacht wird. Darüber hinaus findet früher geltendes Recht aber auch dann
Anwendung, wenn ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch besteht. So lässt sich der Begründung des Gesetzentwurfs zum Rentenreformgesetz
1992 (BT-Drs. 11/4124 S. 206) in Bezug auf die Ausnahmen von der Anwendung neuen Rechts zu der vorgesehen gewesenen Grundsatzregelung
(seinerzeit noch § 291 - Grundsatz) entnehmen, dass das vorher geltende Recht anzuwenden ist, "wenn eine Neufeststellung innerhalb
von 3 Monaten nach der Aufhebung der bisherigen Vorschriften beantragt worden ist oder wegen eines Verschuldens des Trägers
ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch besteht." In diesem Sinne geht auch das BSG im Falle eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs in Abweichung von den Regelungen des §
300 SGB VI von der Anwendung früheren Rechts aus (vgl. BSG, Urteil vom 30.10.1997, 13 RJ 71/96, SozR 3-2600 § 300 Nr. 12). Der aufgrund des Herstellungsanspruchs entstandene Anspruch der Klägerin auf Regelaltersrente nach altem Recht bleibt
daher vom nachfolgenden Inkrafttreten des §
34 Abs.
4 SGB VI unberührt.
Wie das Sozialgericht in den Urteilsgründen bereits ausgeführt hat, kommt ein Anspruch auf Leistungen für die Vergangenheit
auf Grund eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs rückwirkend längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahre in Betracht;
die Vorschrift des § 44 Abs. 4 SGB X ist insoweit entsprechend anzuwenden (hierzu und zum Nachfolgenden BSG, Urteil vom 27.03.2007, B 13 R 58/06 R, SozR 4-1300 § 44 Nr. 9). Denn sowohl bei der nachträglichen Korrektur eines bindenden belastenden Verwaltungsakts als
auch beim sozialrechtlichen Herstellungsanspruch besteht eine vergleichbare Interessenlage. Die Rechtsähnlichkeit der Fallgruppen
erfordert daher die Gleichbehandlung. Auch kann der Herstellungsanspruch, der die Verletzung einer Nebenpflicht eines Leistungsträgers
sanktioniert, nicht weiterreichen, als der Anspruch nach § 44 Abs. 1 SGB X als Rechtsfolge der Verletzung einer Hauptpflicht (Leistungsgewährung durch rechtmäßigen Verwaltungsakt). Diese Ausschlussfrist
steht vorliegend dem Anspruch der Klägerin auf Regelaltersrente ab 01.01.2003 nicht entgegen. Die Geltendmachung der Regelaltersrente
mit Wirkung auch für die Vergangenheit erfolgte erstmalig im Schriftsatz vom 23.07.2007, weshalb in entsprechender Anwendung
des § 44 Abs. 4 SGB X ein Anspruch auf Regelaltersrente nur für den hier nicht (mehr) streitbefangenen Zeitraum vor dem 01.01.2003 ausgeschlossen
ist.
Nachdem die Klägerin mit ihrem Begehren - gestützt auf den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch - in vollem Umfang durchdringt,
bedarf es keiner weiteren Ausführungen mehr zu der vom Bundessozialgericht in seiner Entscheidung vom 13.11.2002 (a.a.O.)
dargestellten - vom Senat nicht für überzeugend erachteten - Auffassung des 4. Senats, wonach es für einen Wechsel in eine
andere Altersrentenart keines Antrags bedurfte.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.