Vorläufige Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach SGB II für rumänische Staatsangehörige
Europarechtswidrigkeit des § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB II
Gründe
I.
Die Antragstellerinnen begehren im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die vorläufige Bewilligung von Leistungen zur Sicherung
des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).
Die 1977 geborene Antragstellerin zu 1) ist rumänische Staatsangehörige und hält sich nach Aktenlage seit Juni 2013 mit ihren
1998 und 1999 geborenen schulpflichtigen Töchtern, den Antragstellerinnen zu 2) und 3), im Bundesgebiet auf. Ihr geschiedener
Ehemann und Vater ihrer Kinder ist in Rumänien inhaftiert. Sie hatte ein Gewerbe als - nicht ausgebildete - Schneiderin "ohne
Nähmaschine, mit Nadel und Faden" angemeldet, übte aber mangels Kunden eine Erwerbstätigkeit nicht aus. Für die Zeit ab Juni
2013 erhielt sie für beide Töchter Kindergeld iHv 368 Euro monatlich. Im Februar 2014 mietete sie für sich und ihre Kinder
eine Wohnung in H mit 55 qm Wohnfläche an. Die Miete (330 Euro Kaltmiete; 120 Euro Neben- und Heizkostenvorauszahlung) zahlte
sie ab März nur zum Teil.
Den Antrag vom 14.02.2014 auf Leistungen nach dem SGB II lehnte der Antragsgegner mit Bescheid vom 02.05.2014, bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 19.05.2014, ab. Da die Antragstellerin
zu 1) sich allein zum Zweck der Arbeitsuche in Deutschland aufhalte, seien die Antragstellerinnen gem. § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II von Leistungen ausgeschlossen. Die dagegen erhobene Klage wird beim SG Gelsenkirchen unter dem Aktenzeichen S 36 AS 1596/14 geführt.
Bei diesem Gericht haben die Antragsteller am 21.05.2014 im Wege des einstweiligen Rechtsschutz beantragt, ihnen vorläufige
Leistungen nach Maßgabe der §§ 40 SGB II, 328
SGB III zuzusprechen. Die Antragstellerin zu 1) sei arbeitsuchend und habe sich fortlaufend - wegen sprachlicher Schwierigkeiten
leider erfolglos - um Aufträge als Schneiderin bemüht. Sie seien mittellos und bedürftig. Die Ablehnung des Antrages verstoße
insbesondere gegen das Recht der Europäischen Gemeinschaft (EU).
Das SG hat den Antragstellern mit einer am selben Tage zugegangenen Verfügung vom 22.05.2014 (einem Donnerstag) aufgegeben, u.a.
Angaben zum Girokonto-Guthaben, Kindergeldbezug, Lebensunterhalt und Einreisezweck binnen 3 Tagen schriftlich glaubhaft zu
machen. Am Montag, dem 26.05.2014, haben die Antragsteller eine eidesstattliche Versicherung der Antragstellerin zu 1) sowie
Kopien von Kontoauszügen und des Kindergeldbescheides der Familienkasse vom August 2013 eingereicht.
Das SG hat durch Beschluss vom 27.05.2014 den Antrag mit der Begründung abgelehnt, die Antragsteller hätten den Anordnungsanspruch
nicht hinreichend glaubhaft gemacht. Ausführungen zu den Rechtsgrundlagen und den Leistungsvoraussetzungen enthält die Entscheidung
nicht.
Mit ihrer Beschwerde vom selben Tage rügen die Antragsteller, die Frist für die Glaubhaftmachung sei erst am 27.05.2014, 24.00
Uhr, abgelaufen, das SG habe entgegen eigener Fristbestimmung zu früh entschieden. Auch greife in der Sache selbst der Leistungsausschluss nach §
7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II nicht ein. Im Eilrechtsschutz seien jedenfalls nach der Rechtsprechung des für Nordrhein-Westfalen zuständigen Landessozialgerichts
weder die Antragstellerin zu 1) noch ihre Töchter als von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen anzusehen.
Die Antragstellerinnen beantragen,
den Beschluss des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 27.05.2014 zu ändern und den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung
zu verpflichten, ihnen ab dem 27.05.2014 vorläufig Leistungen nach dem SGB II (§ 40 SGB II i.V.m. §
328 Abs.
1 S. 1 Nr.
1 SGB III) in Form der Regelleistung für die Dauer von sechs Monaten, längstens bis zur Entscheidung in der Hauptsache zu gewähren.
Der Antragsgegner beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Er erachtet den erstinstanzlichen Beschluss für zutreffend.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte
und der beigezogenen Verwaltungsakte des Antragsgegners Bezug genommen; dieser ist Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
II.
Die gemäß §§
172,
173 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) statthafte und zulässige Beschwerde der Antragstellerinnen gegen den Beschluss des SG Gelsenkirchen ist begründet.
Nach §
86b Abs.
2 S. 1
SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die
Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt
oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug
auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint
(§
86b Abs.
2 S. 2
SGG). Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt voraus, dass der Antragsteller das Bestehen eines zu sichernden Rechts (den
so genannten Anordnungsanspruch) und die Notwendigkeit einer vorläufigen Regelung (den so genannten Anordnungsgrund) glaubhaft
macht (§
86 b Abs.
2 S. 4
SGG, §
920 Abs.
2 der
Zivilprozessordnung -
ZPO -).
Die Voraussetzungen der §§ 7 Abs. 1 S. 1 Nrn 1 - 4, 8, 9 SGB II zum Alter, zur Erwerbsfähigkeit, zum gewöhnlichen Aufenthalt und zur Hilfebedürftigkeit der Antragstellerinnen (Anordnungsanspruch)
erachtet das Gericht nach Vorlage der eidesstattlichen Versicherung (§
294 Abs.
1 ZPO) ebenso für glaubhaft gemacht wie auch den Anordnungsgrund angesichts des Umstandes, dass die Antragsteller nur über Kindergeld
als Einkommen und kein Vermögen verfügen.
Es kann ergebnisbezogen offen bleiben, ob sich der Leistungsanspruch allein aus §§ 7 Abs. 1 S. 1 Nrn. 1 - 4, 8, 9 SGB II ableitet oder § 40 Abs. 2 Nr. 1 SGB II i.V.m. §
328 Abs.
1 S. 1 Nr.
1 SGB III daneben oder sogar alleinige Anspruchsgrundlage ist.
Allein auf §§ 7 Abs. 1 S. 1 Nrn 1 - 4, 8, 9 SGB II kann der Anspruch gestützt werden, wenn man es mit dem Senat zwar grundsätzlich für zulässig hält, EU-Ausländer von den Leistungen
des SGB II auszunehmen, den Leistungsausschluss in der umfassenden Form des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II aber für europarechtswidrig hält (s LSG NRW Urteil vom 28.11.2013 - L 6 AS 103/13). Dann sind die Anspruchsvoraussetzungen des Leistungsanspruchs glaubhaft gemacht, der Leistungsausschluss greift trotz Vorliegens
der tatbestandlichen Voraussetzungen nicht.
Als Anspruchsgrundlage kommen aber auch §§ 40 Abs. 2 Nr. 1 SGB II, 328 Abs.
1 S. 1 Nr.
1 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB III) i.V.m. §§ 7, 8, 9 SGB II in Betracht (im Ergebnis ebenso LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 27.05. 2014 - L 34 AS 1150/14 B ER , [...], mwN). Nach der über § 40 Abs. 2 Nr. 1 SGB II hier anwendbaren Vorschrift des §
328 Abs.
1 S. 1 Nr.
1 SGB III kann über die Erbringung von Geldleistungen vorläufig entschieden werden, wenn die Vereinbarkeit einer Vorschrift, von der
die Entscheidung über den Antrag abhängt, mit höherrangigem Recht Gegenstand eines Verfahrens bei dem Bundesverfassungsgericht
(BVerfG) oder dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) ist. Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt, denn die
Voraussetzungen des erhobenen Anspruchs sind glaubhaft gemacht und die Vereinbarkeit des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II mit europäischem Gemeinschaftsrecht ist Gegenstand der Vorlage des BSG an den EuGH gemäß Art 267 AEUV (BSG Vorlagebeschluss vom 12.12.2013 - B 4 AS 9/13 R).
Dem Anspruch auf vorläufige Leistungen steht nicht entgegen, dass der Antragsgegner bereits über die zugrundeliegenden Leistungen
nach dem SGB II eine endgültige (ablehnende) Entscheidung getroffen hat.
Die Antragstellerinnen haben diese vorläufigen Leistungen spätestens im Widerspruchsverfahren - und hier wie im gerichtlichen
Eilverfahren ausdrücklich - beantragt. In der Fallgestaltung des § 328 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB II ist der Anspruch auf vorläufige Leistungen ein aliud, der sich durch eine endgültige ablehnende Entscheidung jedenfalls so
lange nicht erledigt, wie der Grund für die vorläufige Leistungserbringung (- Vorlageverfahren -) fortbesteht (aA LSG Berlin-Brandenburg
Beschluss vom 20.03.3014 - L 29 AS 514/14 B ER, [...] Rn. 40 ff., mwN; allgemein zum Verhältnis vorläufiger zu endgültiger Entscheidung s BSG Urteil vom 10.05. 2011 - B 4 AS 139/10 R, mwN, [...] - Rn. 15). Der Regelungszweck des § 328 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB II erschöpft sich nämlich nicht in der der Behörde eingeräumten Befugnis, Leistungen (als Ermessensleistung) ausnahmsweise schon
dann (vorläufig) zu erbringen zu dürfen, wenn bzw. obwohl die Sach- und Rechtslage noch nicht abschließend geklärt ist (so
aber anscheinend Düe in Brand,
SGB III, 6. Aufl. 2012, § 238 Rn 2 m.w.N.). Die Vorschrift dient auch dem individuellen Interesse des Antragstellers, nicht gänzlich von Leistungen in
dem Zeitraum bis zur (endgültigen) Klärung entscheidungserheblicher Rechtsfragen durch das zuständige höchste Gericht ausgeschlossen
zu sein (s Eicher in Eicher/Schlegel,
SGB III nF, Loseblattausgabe, Stand: September 2013, §
328 Rn 2, 44; Hengelhaupt in Hauck/Haines,
SGB III, Lief. 8/2008, §
328 Rn. 335 - 337, mwN). Hier lässt §
328 Abs.
1 S. 1 Nr.
1 SGB III, zumal als Ermessensleistung ausgestaltet, grundsätzlich eine interessengerechte Übergangsregelung zu. Danach handelt es
sich aber ersichtlich nicht nur um eine Regelung für die Zeit bis zur endgültigen Entscheidung der Behörde, Leistungsansprüche
können vielmehr bis zur anstehenden Klärung der Rechtsfragen durch BVerfG und EuGH zugesprochen werden.
Vor diesem Hintergrund kann für die hier vorliegende Fallgestaltung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren offen bleiben,
ob der Leistungsträger über diesen (im Verwaltungs- und Eilverfahren) geltend gemachten Leistungsanspruch in einem gesonderten
Verwaltungsverfahren zu entscheiden hat, oder im Rechtsbehelfsverfahren gegen die endgültige Ablehnung auch vorläufige Leistungen
nach §
328 Abs.
1 S. 1 Nr.
1 SGB III zugesprochen werden können (zu den Rechtsschutzmöglichkeiten s Hengelhaupt in Hauck/Haines,
SGB III, Lief. 8/2008, §
328 Rn. 335 - 337, mwN). Denn hier stände jedenfalls bei noch offenem Verwaltungsverfahren einerseits und anhängiger Klage gegen
die endgültige Entscheidung andererseits keine bestandskräftige ablehnende Entscheidung in der Hauptsache entgegen. Zudem
handelt es sich bei den hier in Rede stehenden Leistungen zur Deckung des Regelbedarfs um solche, auf die nach Maßgabe des
§
328 Abs.
1 S. 1 Nr
1 SGB III bei zutreffender Beurteilung des Ermessens ein Rechtsanspruch besteht. Denn schon die Weigerung als solche, im Rahmen der
Ermessensentscheidung nach §
328 Abs.
1 S. 1 Nrn. 1 und 2
SGB III, überhaupt etwas zu leisten, dürfte ungeachtet der Art der Leistung schon regelmäßig pflichtwidrig sein (so Düe, aaO, Rn
18). Das Ermessen des Antragsgegners wird hier angesichts des existenzsichernden Charakters der Leistungen und des aus Art.
1 Abs.
1 Grundgesetz (
GG) i.V.m dem Sozialstaatsprinzip des Art.
20 Abs.
1 GG abgeleiteten Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (vgl. BVerfG Urteil vom 18.07.2012 -
1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11 -, [...] Rn. 62) so weit eingeengt und bezogen auf die allein beantragte Regelleistung auf Null reduziert, dass diese auch
auf dieser Rechtsgrundlage vorläufig zu bewilligen waren (vgl. Eicher aaO; s auch LSG Thüringen Beschluss vom 25.04.2014 -
L 4 AS 306/14 B ER , [...] Rn. 24 ff., 34; LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 27.05.2014 - L 34 AS 1150/14 B ER, www.sozialgerichtsbarkeit.de; SG Halle/Saale Beschluss vom 30.05.2014 - S 17 AS. 2325/14 ER, juri Rn. 31, 33, mwN jeweils zur Ermessensreduzierung auf Null
bei existenzsichernden SGB II-Leistungen).
Da der Antrag in der Hauptsache mithin hinreichende Erfolgsaussicht aufwies, war den Antragstellerinnen ratenfreie Prozesskostenhilfe
auch für das erstinstanzliche Verfahren S 36 AS 1461/14 ER zu bewilligen und ihre Bevollmächtigte beizuordnen (§
73 SGG i.V.m. §
114 ZPO).
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des §
193 SGG.
Der Beschluss ist nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angreifbar (§
177 SGG).