BVerwG, Urteil vom 13.09.1985 - 5 C 113.83
Zum notwendigen Lebensunterhalt im Sinne des Abs. 1 Satz 1 gehören nicht Kosten einer Reise zur Teilnahme an einer auswärtigen
Demonstration.
Fundstellen: BVerwGE 72, 113
, DRsp V(545)92c, DVBl 1986, 289
, DÖV 1986, 292
, JZ 1986, 179
, NJW 1986, 737
Normenkette: BSHG § 12 Abs.1 S.1
»Die Kl. hat .. keinen Anspruch darauf, daß der Bekl. als ausschließlich in Betracht zu ziehende Hilfe zum Lebensunterhalt..
die Kosten übernimmt, die dadurch entstanden sind, daß die Kl. und ihre fünf Kinder von K. nach Bonn und zurück gereist sind...
Zum notwendigen Lebensunterhalt i. S. des § 12 Abs. 1 Satz 1 BSHG gehören diese Kosten nicht. Rechnet man die eine Reise erfordernde und damit Kosten verursachende Teilnahme an einer auswärts
stattfindenden Demonstration deshalb zu den persönlichen Bedürfnissen, weil sie zu den in Satz 2 des § 12 Abs. 1
BSHG genannten Beziehungen zur Umwelt zählt Ä diese verstanden als politische Betätigung einschließende Teilnahme am Leben in
der Gemeinschaft i. S. des §
9
SGB I .. Ä, so steht der Einbeziehung dieses Bedürfnisses in den notwendigen Lebensunterhalt [jedenfalls] entgegen, daß Beziehungen
zur Umwelt nach der angeführten Vorschrift des BSHG nur in vertretbarem Umfang zu den persönlichen Bedürfnissen gehören. ...
In diesem Verständnis liegt nicht eine systemwidrige, hinter dem vom Gesetzgeber Gewollten zurückbleibende Auslegung des §
12 Abs. 1
BSHG. Die .. in Gesetzesform gebrachte Vorstellung davon, was an Sozialhilfe dem Grunde und der Höhe nach gewährt werden muß (soll,
kann), schloß .. zwangsläufig mindestens grobe haushaltsrechtliche Überlegungen dazu ein, was in dem zu regelnden Sozialbereich
finanzierbar ist, dies im Sinne einer langfristigen Perspektive und mit dem Blick darauf, welche Bedürfnisse in anderen Bereichen
des Sozialleistungsrechts mittels öffentlicher Mittel befriedigt werden. ... Darauf deutet § 12 Abs. 1 Satz 2 BSHG ausdrücklich hin, wenn er die Beziehungen zur Umwelt »nur in vertretbarem Umfange« zu den persönlichen Bedürfnissen rechnet.
Bei der Gesetzesauslegung kann deshalb nicht unberücksichtigt bleiben, daß das Maß dessen, was der einzelne von der Gemeinschaft
vernünftigerweise verlangen kann, durch die Finanzierbarkeit der in Anspruch genommenen Leistungen bestimmt wird. Aus dieser
Sicht ergibt sich, daß das in Frage stehende Anliegen über den vertretbaren Umfang hinausgeht, in dem Beziehungen zur Umwelt
zu den persönlichen Bedürfnissen und damit zum notwendigen Lebensunterhalt i. S. des § 12 Abs. 1
BSHG gehören; denn Ä ernst genommen Ä würde es sowohl der Sache nach und im Anschluß daran vom zwangsläufig in Betracht zu ziehenden
Personenkreis her einen Ä nur aus dem Steueraufkommen zu finanzierenden Ä Aufwand verursachen, der unübersehbar und mit sachgerechten
Maßstäben nicht zu begrenzen wäre.
»Politische Betätigung« als Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft schließt vieles ein. ... Jeder Versuch einer Eingrenzung
oder Einschränkung der politischen Betätigung des einzelnen, also seiner Teilnahme am politischen Leben, zu dem Zweck, die
Inanspruchnahme öffentlicher Mittel in Grenzen zu halten, müßte scheitern. ... Ebenso wäre der Kreis möglicher Anspruchsteller
unübersehbar. ...
Auf der Grundlage aller dieser Überlegungen verbietet sich eine Auslegung des § 12 Abs. 1
BSHG dahin, die mit besonderem Aufwand verbundene politische Betätigung halte sich als persönliches Bedürfnis des Empfängers von
Sozialhilfe oder eines potentiell Hilfebedürftigen noch in vertretbarem Rahmen, so daß der Einsatz öffentlicher Mittel geboten
sei. Diese Ansicht steht zur Aufgabe der Sozialhilfe, dem Empfänger der Hilfe die Führung eines Lebens zu ermöglichen, das
der Würde des Menschen entspricht (§ 1 Abs. 2 Satz 1 BSHG; s. auch §
9
SGB I), nicht in Widerspruch. [Wird ausgeführt] ...
Auch aus dem Grundrecht der Meinungsäußerungsfreiheit (Art.
5 Abs.
1 Satz 1
GG) kann der einzelne, insbesondere der Empfänger von Hilfe zum Lebensunterhalt, nicht den Anspruch ableiten, ihm die Mittel
in die Hand zu geben, die ihm für die Ausübung dieses Grundrechts notwendig erscheinen. Insoweit ist dieses Grundrecht ein
Abwehrrecht im klassischen Sinne. Niemand hindert(e) die Kl., ihre Meinung frei zu äußern, und niemand zwingt sie zu einer
Meinungsäußerung. In bezug auf das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln (Art.
8 Abs.
1
GG), das .. zu den unentbehrlichen Funktionselementen eines demokratischen Gemeinwesens gehört, gilt nichts anderes. ...«