Anspruch auf Weitergewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes im sozialgerichtlichen
Verfahren
Anforderungen an die Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs und eines Anordnungsgrundes im Hinblick auf die Zulässigkeit
der Einleitung eines Verwaltungsverfahrens durch ein formloses Schreiben der Versicherten unter Beifügung aktueller Arztberichte
und die Verpflichtung des Leistungsträgers zur Bearbeitung
Gründe
Die Beschwerde der Antragsgegnerin ist zulässig, aber unbegründet. Das Sozialgericht Freiburg (SG) hat dem Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zu Recht stattgegeben.
Das SG hat in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Beschlusses zutreffend die rechtlichen Grundlagen für die Beurteilung des
Sachverhalts dargelegt und ebenso zutreffend ausgeführt, dass die - näher dargelegten - Voraussetzungen des §
86b Abs.
2 Satz 2
Sozialgerichtsgesetz (
SGG) erfüllt sind, weil ein Anordnungsanspruch und -grund glaubhaft gemacht sind. Der Senat schließt sich dem nach eigener Überprüfung
uneingeschränkt an, sieht deshalb gemäß §
142 Abs.
2 Satz 3
SGG von einer weiteren Darstellung der Gründe weitgehend ab und weist die Beschwerde aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung
zurück.
Anlässlich des Beschwerdevorbringens ist (lediglich) ergänzend anzumerken, dass auch der Senat unter Berücksichtigung der
vorliegenden Befundberichte keinen Zweifel am Vorliegen eines Anordnungsanspruchs hat, nachdem beim Antragsteller im Januar
2020 ein Tumorrezidiv im Pankreaskopf (Bericht der Radiologischen Praxis A., 13.01.2020), ein "nicht heilbares Rezidiv eines
cholangiozellulären Karzinoms mit multiplen Lebermetastasen, Lymphknotenmetastasen, Pankreasmetastasen" (Prof. Dr. B., Onkologie
Dreil. 18.05.2020) festgestellt wurde, weshalb dem Antragsteller wöchentlich eine palliative Chemotherapie mit Gemcitabine
plus Oxaliplatin verabreicht wird und er "dadurch zu 100% erwerbsunfähig" ist (Prof. Dr. B., a. a. O.). Dass diese ärztliche
Einschätzung nicht zu bezweifeln sein dürfte, bedarf nach Überzeugung des Senats keiner weiteren Darlegung. Entgegen der Auffassung
in der Beschwerdebegründung gehört die aktuelle finanzielle Situation des Antragstellers nicht zum geltend gemachten Anspruch
auf Gewährung einer Erwerbsminderungsrente, sondern allenfalls zum Anordnungsgrund.
Unabhängig davon, dass der Verweis auf andere subsidiäre Leistungen bis zur Entscheidung schon grundsätzlichen Bedenken unterliegt,
wenn der Anordnungsanspruch in der oben dargestellten Weise dargetan ist, ist es dem Antragsteller in Anbetracht seines Gesundheitszustandes
schon nicht ansatzweise zumutbar, bis zu einer Entscheidung des Antragsgegners Leistungen anderer Leistungsträger in Anspruch
zu nehmen, zumal auch dort eine eigene Anspruchsprüfung erfolgen müsste. Damit liegt auch der erforderliche Anordnungsgrund
vor.
Nachdem sich die Antragsgegnerin bislang zum medizinischen Sachverhalt nicht geäußert hat und ohne nähere Erläuterung, welche
Angaben für eine Verbescheidung fehlen, auf der Vorlage des ausgefühlten Antragsvordruckes beharrt, steht dem Antragsteller
derzeit auch kein "schnellerer" und "einfacherer" Weg zur Verfügung, seinen Anspruch durchsetzen zu können. Ein Fehlen des
Rechtsschutzbedürfnisses kann gerade nicht mit dem eingeforderten, aber nicht vorgelegten Formular begründet werden.
Gemäß §
115 Abs.
1 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB VI) beginnt das Verfahren mit dem Antrag. § 18 Satz 2 Nr. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) bestimmt, dass der RV-Träger auf einen Antrag hin tätig werden muss. Der Antrag ist eine öffentlich-rechtliche Willenserklärung,
die verfahrensrechtlich sowie unter Umständen materiell-rechtliche Wirkungen hat. Ein Antrag muss in erkennbarer Weise den
Willen zum Ausdruck bringen, dass von einem Antragsrecht Gebrauch gemacht wird; er muss zudem unmissverständlich und ohne
Vorbehalt erklärt sein (KassKomm/Seewald, 108. EL März 2020,
SGB I §
16 Rn. 15). Die Wirksamkeit eines Antrags hängt nicht davon ab, dass er vollständig gestellt worden ist; wenn das Begehren unmissverständlich
zum Ausdruck gebracht worden ist (BSG, Urteil vom 12.02.2001 - B 13 RJ 28/03 R -, juris). Eine bestimmte Form des Antrages sehen dabei weder §
16 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB I) noch die §§
115 ff.
SGB VI vor. Somit gilt auch für den damit bewirkten Start des Verwaltungsverfahrens der Grundsatz der Nichtförmlichkeit (§ 9 Satz 1 SGB X). Demnach müssen die in §
16 SGB I verpflichteten Stellen, zu denen auch die deutsche Rentenversicherung gehört (vgl. §§
12,
23 SGB I), selbst mündliche Anträge entgegennehmen und gemäß dieser Vorschrift behandeln (KassKomm/Seewald, a. a. O, § 16 Rn. 21).
Unter Beachtung dessen besteht kein Zweifel, dass der Antragsteller mit dem - formlosen - Schreiben vom 16.01.2020 unter Beifügung
von aktuellen Arztberichten das Verwaltungsverfahren mit dem Begehren, die gewährte Rente über den Beendigungszeitpunkt hinaus
zu gewähren, ordnungsgemäß eingeleitet hat und die Antragsgegnerin verpflichtet war, diesen zu bearbeiten.
Dies hat sie mit der Übersendung des Formulars ohne weitere Erläuterung, aus welchen Gründen dieses erforderlich ist und warum
die bereits gemachten Angaben und die vorgelegten Unterlagen für eine Bescheidung nicht ausreichen, nicht hinreichend erfüllt.
Ein von der Verwaltung vorgesehenes Formblatt kann die Antragsbefugnis nicht beschränken, und eine im Gesetz ggf. vorgeschriebene
Schriftlichkeit eines Antrags bedeutet nicht, dass ein Vordruck verwendet werden muss (BSG, Urteil vom 30.05.1978 - 7/12 RAr 100/76 -, BSGE 46, 218). Die in §
60 Abs.
2 SGB I geregelte Benutzung von Vordrucken betrifft nicht den Antrag direkt und ist, da als Sollvorschrift ausgestaltet, nicht strikt
verpflichtend. Die Pflichten beziehen sich ausschließlich auf die in §
60 Abs.
1 Satz 1 Nr.
1 und
2 SGB I genannten Angaben und betreffen somit nicht die Verwendung eines bestimmten Antragsformulars (KassKomm/Spellbrink, 108. EL
März 2020,
SGB I §
60 Rn. 32). "Sollen" ist in diesem Zusammenhang nicht, wie in einer an die Behörde gerichteten Vorschrift, als "müssen" mit
Abweichungsmöglichkeit in atypischen Fällen zu verstehen, die gesetzliche Formulierung bringt vielmehr den spezifischen Charakter
der geregelten Verhaltenserwartung zum Ausdruck: Der Bürger wird nicht zu einem erzwingbaren Verhalten verpflichtet, er muss
aber Nachteile hinnehmen, die sich ggf. aus der Nichtbeachtung der Vorschrift ergeben können. Hat er dem Leistungsempfänger
allerdings von sich aus - ohne den vorgesehenen Vordruck zu benutzen - alle entscheidungs- und leistungserheblichen Tatsachen
mitgeteilt, so dürfen ihm Rechtsnachteile i. S. d §
66 SGB I nicht auferlegt werden (BeckOK SozR/Hase, 56. Ed. 01.09.2019,
SGB I §
60 Rn. 12). Die Antragsgegnerin hat aber bislang nicht dargelegt, welche Angaben im Sinne des §
60 Abs.
1 SGB I nicht beantwortet sind, es ist auch nicht vorgetragen, dass die Antragsgegnerin den Antragsteller hierauf hingewiesen hätte,
obwohl dieser zu erkennen gegeben hat, keine Notwendigkeit für die Übersendung eines Formulars zu sehen. Dies gilt mit Blick
darauf, dass es sich nicht um eine erstmalige Bewilligung der Rente handelt, sondern um deren Weiterbewilligung umso mehr.
Die Antragsgegnerin hat auch weder in der Antragserwiderung noch zur Begründung der Beschwerde dargelegt, welche Angaben ihr
für eine Entscheidung über den Weiterbewilligungsantrag fehlen. Soweit die Antragsgegnerin auf die im Antragsformular enthaltenen
Hinweise bezogen auf Rechte und Pflichten von Antragstellern verweist, sind diese kaum für die zeitgerechte Bearbeitung des
Antrages notwendig oder gar erforderlich. Solche Hinweise können jederzeit an den Antragsteller übersandt oder ggf. auch mit
dem Bescheid verbunden werden. Da es sich insoweit nicht um Mitwirkungspflichten bei der Sachaufklärung bezogen auf die Bewilligung
der geltend gemachten Rente handelt, dürften solche Gesichtspunkte auch keine Grundlage für eine Versagung nach den §§
60,
66 SGB I sein. Gleiches dürfte für die Durchsetzung der Verwendung von Vordrucken überhaupt gelten. Denn eine Versagung ist nach §
66 SGB I nur dann gerechtfertigt, wenn die Sachaufklärung durch die Nichtvorlage des Vordruckes erheblich erschwert wäre. Dies ist
aufgrund des bisherigen Sachvortrages, der Angaben des Antragstellers im Rahmen der formlosen Beantragung, der Vorlage aktueller
Befundberichte und der aufgrund der bereits bewilligten Rente bekannten Daten des Antragstellers nicht ohne weiteres ersichtlich,
zumal die Antragsgegnerin bislang keine nachvollziehbaren Ausführungen dazu gemacht hat, woran die Verbescheidung des Antrages
tatsächlich scheitern könnte. Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller gegenüber auch nicht zu erkennen gegeben, dass die
vorgelegten Befundberichte nicht ausreichend sind, den medizinischen Sachverhalt abschließend zu überprüfen. Soweit sie deshalb
eine (mit dem Formular verbundene) erneute Entbindungserklärung fordert, erschließt sich dies ebenfalls nicht ohne weiteres,
es sei denn, eine solche liegt nicht (mehr) vor, ist widerrufen oder war von vornherein befristet oder beschränkt abgegeben
worden. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Antragsgegnerin gehalten ist, dass jeder Berechtigte die ihm
zustehenden Sozialleistungen in zeitgemäßer Weise umfassend und zügig erhält (§
17 Abs.
1 Nr.
1 SGB I). Dies scheint mit dem Beharren auf ein ausgefülltes und unterschriebenes Formular ohne konkrete Darlegung eines Hinderungsgrundes
für eine Entscheidung angesichts der erheblichen Erkrankung des Antragstellers etwas aus dem Blick geraten zu sein.
Dass der Antragsteller keine weiteren Sozialleistungen oder sonstiges Einkommen bezieht, ist im Übrigen nach den Angaben im
formlosen Antrag und aufgrund der schwerwiegenden Erkrankung offensichtlich. Eine eidesstattliche Versicherung hat er zudem
vorgelegt. Aber auch insoweit vermag dies den Anspruch auf Weitergewährung der Rente wegen Erwerbsminderung nicht zu tangieren,
sondern allenfalls im Rahmen eines Anordnungsgrundes zu würdigen sein.
Nach alledem teilt der Senat die vom SG vorgenommene Verpflichtung der Antragsgegnerin, vorläufig Rente wegen voller Erwerbsminderung über den 30.04.2020 hinaus
und unter den im Tenor des SG enthaltenen Einschränkungen zunächst bis längstens 31.12.2020 in gesetzlicher Höhe zu erbringen.
Mit dieser Entscheidung hat sich der Antrag auf vorläufige Aussetzung gemäß §
199 Abs.
2 SGG erledigt.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des §
193 SGG.
Der Beschluss ist mit der Beschwerde nicht anfechtbar (§
177 SGG)