Anspruch auf Gewaltopferentschädigung; Differenzierung zwischen einer schädigungsbedingt bestehenden posttraumatischen Belastungsstörung
und einer schädigungsunabhängig rezidivierenden depressiven Störung
Tatbestand:
Die 1943 geborene Klägerin begehrt Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (
OEG) in Verbindung mit den Vorschriften des Bundesversorgungsgesetztes (BVG). Streitig ist zwischen den Parteien, ob die noch bestehenden seelischen Folgen des Vergewaltigungsversuches vom 15.11.1996
einen rentenberechtigenden Grad der Schädigungsfolgen (GdS) bedingen.
Die Klägerin hat am 12.12.2002 sowohl einen Antrag auf Beschädigtenversorgung nach dem
OEG als auch auf Feststellung einer Behinderung und des Grades der Behinderung (GdB) nach §
69 des Sozialgesetzbuches - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (
SGB IX) eingereicht.
Der Beklagte hat unabhängig von der Ursache nach §
69 SGB IX mit Bescheid des Amtes für Versorgung und Familienförderung M. vom 12.06.2003 den Grad der Behinderung (GdB) mit 30 festgestellt.
Hierbei sind als Gesundheitsstörungen "undifferenzierte somatoforme Störung mit Hauterscheinungen, Atem- und Wirbelsäulenbeschwerden"
berücksichtigt worden. Der hiergegen gerichtete Widerspruch der Klägerin vom 15.06.2003 ist mit Widerspruchsbescheid des Bayer.
Landesamtes für Versorgung und Familienförderung vom 20.11.2003 zurückgewiesen worden. In dem sich anschließenden Klageverfahren
hat das Sozialgericht München die Klage mit Urteil vom 08.09.2005 - S 14 SB 1728/03 abgewiesen und sich hierbei vor allem auf das neuropsychiatrische Sachverständigengutachten des Dr. V. vom 18.04.2005 gestützt.
Danach bestehe bei der Klägerin ein neurasthenisches Syndrom sowie eine undifferenzierte Somatisierungsstörung mit einem GdB
von 30. In dem sich wiederum anschließenden Berufungsverfahren L 15 SB 133/05 hat Dr. D. mit neurologischem Fachgutachten vom 19.02.2008 bestätigt, dass auf seinem Fachgebiet ein Einzel-GdB von 30 bestehe.
Der weiterhin gehörte Sachverständige Dr. L. hat mit orthopädischem Fachgutachten vom 21.02.2008 ausgeführt, dass die Funktionsbehinderung
der Wirbelsäule mit einem Einzel-GdB von 10 zu berücksichtigen sei. Dr. R. hat mit allgemeinärztlichem Gutachten vom 21.02.2008
zusammenfassend einen GdB von 40 befürwortet, weil zusätzlich das hyperreagible Bronchialsystem mit einem Einzel-GdB von 20
und das rezidivierende urtikarielle Exanthem mit einem Einzel-GdB von 30 zu berücksichtigen sei. Aufgrund der übereinstimmenden
Anträge der Beteiligten hat das BayLSG mit Beschluss vom 09.06.2008 - L 15 SB 133/05 - das Ruhen des Verfahrens nach dem
SGB IX angeordnet.
Im Verfahren nach dem
OEG hat der Beklagte die Unterlagen der Staatsanwaltschaft M. beigezogen. Am 15.11.1996 hat K. die Klägerin auf der Höhe des
Hauses, in dem ihr Sohn wohnte, von hinten in den Vorgarten gedrängt und sie zu Fall gebracht. Als sie auf dem Rücken lag,
kniete er sich auf sie und setzte ihr das Messer an die Kehle. Er brachte ihr dadurch einen blutigen Kratzer bei. Die Klägerin
rief sofort mehrmals laut um Hilfe, worauf zwei Männer zum Tatort kamen. Daraufhin gab K. sein Vorhaben auf. Die Klägerin
litt in der Folgezeit unter Herzattacken und Angstzuständen. K. ist einer Vergewaltigung mit sexueller Nötigung und einer
versuchten Vergewaltigung (letztere zu Lasten der hiesigen Klägerin) für schuldig befunden worden. Das Landgericht M. hat
mit Urteil vom 26.06.1997 H. K. deshalb zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt und dessen Unterbringung
in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet.
Ihr Antrag vom 12.12.2002 nach dem
OEG ist mit Bescheid des Amtes für Versorgung und Familienförderung M. vom 03.06.2003 abgelehnt worden. Bei der versorgungsärztlichen
Untersuchung vom 12.05.2003 hätten Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung nicht mehr vorgelegen.
Der Widerspruch vom 08.06.2003 dagegen ist mit Widerspruchsbescheid des Bayer. Landesamtes für Versorgung und Familienförderung
vom 20.11.2003 zurückgewiesen worden. Nach versorgungsärztlicher Beurteilung werde durch die Folgen der Gewalttat vom 15.11.1996
eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) in rentenberechtigender Höhe nicht erreicht.
In dem sich anschließenden Klageverfahren ist Dipl.-Psych. Z. gemäß §
106 Abs.3 Nr.5 des Sozialgerichtsgesetzes (
SGG) gutachterlich gehört worden. Die gerichtlich bestellte Sachverständige hat im psychologischem Gutachten vom 15.07.2004 ausgeführt,
dass die nunmehr geltend gemachten Gesundheitsstörungen nur teilweise mit Wahrscheinlichkeit durch das schädigende Ereignis
hervorgerufen worden seien. Die Angstsymptomatik im Rahmen der Anpassungsstörung sei als Schädigungsfolge anzuerkennen. Für
diese Schädigungsfolge sei eine MdE von 20 v.H. ab 12.02.2002 anzusetzen.
Der Beklagte hat ein entsprechendes Vergleichsangebot unterbreitet, welches jedoch von der Klägerin nicht angenommen worden
ist. Im Folgenden hat das Sozialgericht München mit Beschluss vom 20.12.2004 - S 30 VG 29/03 - das Ruhen auch dieses Verfahrens angeordnet.
Aufgrund seines Vergleichsangebotes hat der Beklagte von Amts wegen einen Bescheid am 16.12.2005 erlassen und als Folge einer
Schädigung nach dem
OEG ab 12.12.2002 anerkannt: "Restsymptomatik einer Anpassungsstörung". Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) ist mit weniger
als 25 v.H. festgestellt worden. Eine Versorgungsrente ist dementsprechend nicht bewilligt worden.
Der hiergegen gerichtete Widerspruch ist mit Widerspruchsbescheid vom 02.11.2006 zurückgewiesen worden. Die weiteren Gesundheitsstörungen
wie die Symptome einer somatoformen Schmerzstörung und einer Neurasthenie würden nicht in ursächlichem Zusammenhang mit der
Gewalttat vom 15.11.1996 stehen.
Das Sozialgericht München zog die Akten des Beklagten bei und holte aktuelle Befundberichte des Krankenhauses für Naturheilwesen
M. sowie von Dr. K. ein. Zur mündlichen Verhandlung am 10.03.2008 ist die Klägerin nicht erschienen, weil sie sich hierzu
nicht in der Lage gesehen hat. Das Sozialgericht München wies die Klage gegen den Bescheid vom 16.12.2005 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 02.11.2006 mit Urteil vom 13.03.2008 - S 30 VG 21/06 - ab. Die Chance, dem Gericht in einer mündlichen Verhandlung einen unmittelbaren Eindruck von ihrer seelischen Situation
zu geben, habe die Klägerin nicht wahrgenommen. Nach einer Prozessdauer von mehr als einem Jahr sei der Rechtsstreit auf der
Basis der vorhandenen Erkenntnisse (vor allem Gutachten der Dipl.-Psych. Z. vom 15.05.2004) entscheidungsreif.
Die hiergegen gerichtete Berufung ging am 07.05.2008 beim Sozialgericht München ein und wurde an das Bayer. Landessozialgericht
(BayLSG) weitergeleitet.
Zur Begründung hob die Klägerin hervor, die Schädigungsfolgen der Straftat würden ihr Leben in einem unerträglichen Maß bestimmen.
Zu weiterführenden Erklärungen sei sie zur Zeit nicht in der Lage.
Der Senat bestellte Dr. K. gemäß §
106 Abs.3 Nr.5
SGG zum ärztlichen Sachverständigen. Entsprechend ihrer Nachricht vom 15.06.2008 musste die Klägerin den vorgeschlagenen Untersuchungstermin
absagen, weil ihr zur Zeit die psychische Kraft fehle. Im Folgenden fertigte Dr. K. das nervenfachärztliche Gutachten vom
01.07.2008 nach Aktenlage. Die reinen Schädigungsfolgen wurden mit einem Grad der Schädigungsfolgen (GdS) von 10 bewertet.
Hierbei hat Dr. K. auch die ärztlichen Unterlagen berücksichtigt, die die Klägerin mit Nachricht vom 22.06.2006 im Verfahren
L 15 SB 133/05 zur Verfügung gestellt hat.
Der Senat gab der Klägerin Gelegenheit zur Stellungnahme bis 01.10.2008, ob die Berufung im Hinblick auf die Ausführungen
von Dr. K. weiterhin aufrecht erhalten werde, gegebenenfalls mit welcher stichhaltigen Begründung. Die Klägerin erwiderte
mit Nachricht vom 15.10.2008, dass es ihr bisher nicht möglich gewesen sei, das Gutachten zu lesen. Sie sei auch jetzt nicht
in der Lage der Aufforderung nachzukommen. Sie müsse sich vor einem erneuten totalen Absturz schützen.
In der mündlichen Verhandlung vom 03.03.2009 ist die Klägerin nicht erschienen. Der Stationsarzt S. der Fachklinik für Psychiatrie
und Psychotherapie G. hatte mit ärztlichem Attest vom 02.03.2009 dargelegt, dass die Klägerin derzeit in keinster Weise belastungsstabil
sei und deswegen um einen Termin zu einem späteren Zeitpunkt gebeten werde.
Nach Vertagung teilte die Klägerin mit Schreiben vom 20.07.2009 mit, dass sie auch der mündlichen Verhandlung vom 28.07.2009
fernbleiben werde. Beigefügt war ein nervenärztlicher Befundbericht von Dr. M. vom 07.07.2009 mit den aktuellen Diagnosen
"rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelschwere Episode, traumatische Belastungsstörung".
Die Klägerin begehrt sinngemäß die Feststellung von Schädigungsfolgen aufgrund des Vergewaltigungsversuches vom 15.11.1996
in rentenberechtigendem Grad.
Der Bevollmächtigte des Beklagten beantragt,
die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 13.03.2008 zurückzuweisen.
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird gemäß §
202 des Sozialgerichtsgesetzes (
SGG) i.V.m. §
540 der
Zivilprozessordnung (
ZPO) sowie entsprechend §
136 Abs.2
SGG auf die Unterlagen des Beklagten sowie die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin ist gemäß §§
143,
144 und
151 SGG zulässig, jedoch unbegründet. Das Sozialgericht München hat die Klage gegen den Bescheid vom 16.12.2005 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 02.11.2006 mit Urteil vom 13.03.2008 - S 30 VG 21/06 - zutreffend abgewiesen.
Vorab ist verfahrensrechtlich darauf hinzuweisen, dass das ruhende Verfahren des Sozialgerichts München S 30 VG 29/03 hier einzubeziehen gewesen ist. Es handelt sich um denselben Streitgegenstand. Der Bescheid vom 16.12.2005 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 02.11.2006 hat den ursprünglich angefochtenen Bescheid vom 03.06.2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 21.11.2003 ersetzt.
In der Sache wird zur Vermeidung von Wiederholungen vorab auf die Gründe des Urteils des Sozialgerichts München vom 13.03.2008
Bezug genommen (§
153 Abs.2
SGG). Das Verfahren leidet insgesamt daran, dass die Klägerin aufgrund der bei ihr bestehenden psychischen Erkrankungen nur eingeschränkt
in der Lage gewesen ist, entsprechend mitzuwirken.
In dem Verfahren nach dem Opferentschädigungsgesetz (
OEG) stehen als wesentliche Erkenntnisquellen neben den Unterlagen des Beklagten nur das psychologische Fachgutachten der Dipl.-Psych.
Z. vom 15.07.2004 und das nervenfachärztliche Gutachten nach Aktenlage von Dr. K. vom 01.07.2008 zur Verfügung. Im Ergebnis
übereinstimmend haben beide Sachverständige schlüssig und überzeugend ausgeführt, dass ein rentenberechtigender GdS nicht
vorliegt. Dr. K. hat bestätigt, dass bei der Klägerin als Folge der am 15.11.1996 erlittenen Schädigung eine Angststörung
in Form einer episodisch paroxysmalen Angst bestehe. Diese Angststörung sei zumindest teilweise auf das Ereignis vom 15.11.1996
zurückzuführen bei einer vorbestehenden, seit Beginn der 80er-Jahre erkennbaren schweren Somatisierungsstörung, die durch
vielfältige psychosomatische Symptome gekennzeichnet sei. Dies ergebe sich zweifelsfrei aus allen Befunden, die bereits seit
dieser Zeit bei der Klägerin ein gravierendes, chronisch progredientes psychosomatisches Krankheitsbild belegten, welches
sich aus vielerlei Symptomen zusammensetze, wie dies bei diesem Krankheitsbild nicht selten sei.
Im Vordergrund stand dabei auch zur Überzeugung des Senats eine Erschöpfungssymp-tomatik mit vielfältigen Symptomen, die entsprechend
den gutachterlichen Ausführungen von Dr. K. als Ausdruck einer Somatisierung anzusehen sind. Die diesbezüglichen Behandlungen
erfolgten auch nicht in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Ereignis vom 15.11.1996, was dafür spricht, dass diesem Ereignis
damals nicht der Stellenwert beigemessen wurde, welcher von der Klägerin nunmehr diesem Ereignis beigemessen wird.
Die Ausführungen des gerichtlich bestellten Sachverständigen Dr. K., der im Ergebnis das psychologische Gutachten der Dipl.-Psych.
Z. vom 15.07.2004 bestätigt hat, stehen in Übereinstimmung mit Rz.26.3 der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit
im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht". Danach sind Folgen psychischer Traumen leichterer Art
mit einem Einzel-GdS von Null bis 20 zu berücksichtigen. Stärker behindernde Störungen mit wesentlicher Einschränkung der
Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit bedingen einen Einzel-GdS von 30 bis 40. Gleiches gilt für die ab 01.01.2009 nunmehr maßgeblichen
"Versorgungsmedizinischen Grundsätze in Teil B Nr. 3.7 (§ 30 Abs.17 BVG i.V.m. der Anlage zu § 2 Versorungsmedizin Verordnung).
In diesem Zusammenhang ist nochmals darauf hinzuweisen, dass nicht die Gesamtheit der nervenfachärztlichen Funktionsstörungen
auf das Ereignis vom 15.11.1996 zurückgeführt werden kann. Vielmehr haben die gerichtlich bestellten Sachverständigen in Übereinstimmung
mit den Voten des versorgungsärztlichen Dienstes des Beklagten zutreffend darauf hingewiesen, dass in Berücksichtigung der
multiplen weiteren Gesundheitsstörungen der Klägerin auf nervenfachärztlichem Gebiet die Folgen der versuchten Vergewaltigung
vom 15.11.1996 einen GdS in rentenberechtigendem Grad nicht erreichen. Dies korrespondiert mit dem aktuell eingereichten nervenärztlichen
Befundbericht der Dr. M. vom 07.07.2009. Dort ist sowohl eine rezidivierende depressive Störung mit gegenwärtig mittelschwerer
Episode als auch die hier relevante posttraumatische Belastungsstörung beschrieben worden. Durch die erfolgte Therapie konnte
eine Stabilisierung auf niedrigem Niveau erreicht werden, sodass ausgeprägte depressive Einbrüche zuletzt nicht mehr aufgetreten
sind. Mangels wesentlicher Änderungen sind die Feststellungen von Dipl.-Psych. Z. nach persönlicher Untersuchung vom 21.05.2004
unverändert maßgebend: Ein schädigungsgedingter GdS in rentenberechtigtendem Grad ist somit nicht gegeben.
Nach alledem ist die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 13.03.2008 zurückzuweisen. Die
Anwesenheit der Klägerin in der mündlichen Verhandlung vom 28.07.2009 ist hierbei gemäß §
110 Abs.1
SGG nicht erforderlich gewesen.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf §§
183,
193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich (§
160 Abs.2 Nrn. 1 und 2
SGG).