Anspruch auf Gewaltopferentschädigung bei posttraumatischer Belastungsstörung mit Vorschädigung; besondere berufliche Betroffenheit
nach Geburt eines Kindes aus Vergewaltigungshandlung
Tatbestand:
Die 1957 geborene Klägerin begehrt Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (
OEG) in Verbindung mit den Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG).
Die Klägerin hat am 05.02.2002 einen Antrag auf Leistungen nach dem
OEG eingereicht. Sie leide an Schlafstörungen, Depressionen, ständiger Unruhe, Angstzuständen, Panikattacken und Alpträumen als
Folge von körperlichen Misshandlungen und wiederholten Vergewaltigungen.
Die Klägerin hat im April 1974 ihren ehemaligen Lebensgefährten G. A. kennen gelernt. Nach einem Selbstmordversuch mit Schlaftabletten
haben ihre Eltern im Einvernehmen mit dem Jugendamt der Stadt C-Stadt ihr Einverständnis dahingehend erklärt, dass die Klägerin
im Mai 1974 zu ihrem Lebensgefährten zog. Die Beziehung ist anfänglich ohne Zwischenfälle verlaufen, bis die Klägerin und
ihr Partner in finanzielle Not geraten sind. A. verlangte dann von der Klägerin, sie solle sich von Verwandten und ihren Eltern
Geld leihen. Die finanziellen Schwierigkeiten des Paares hatten ihre Ursache u.a. auch darin, dass die Klägerin ihre Arbeitsstelle
als Verkäuferin verloren hatte. A. hatte sie häufig an ihrem Arbeitsplatz aufgesucht und dies war nach Meinung der Klägerin
der Grund, warum ihr Arbeitgeber ihr kündigte. Um die finanzielle Not etwas zu lindern, erlaubte A. der Klägerin, dass sie
in einem Gasthaus in C-Stadt arbeitete. Diese Arbeitsstelle behielt sie jedoch auch nur für kurze Zeit, weil A. sie dort wiederholt
aufsuche, ihr Szenen mache und sie schlug. Ursache dieses Verhaltens war die maßlose Eifersucht von A ... Dieser duldete ab
August 1974 nicht mehr, dass die Klägerin alleine die gemeinschaftliche Wohnung verließ. Sie ist dort gleichsam "inhaftiert"
worden. In dieser Zeit kam es auch häufig zu Auseinandersetzungen zwischen der Klägerin und ihm. Er hat sie mit Händen und
Fäusten geschlagen; es ist aber auch vorgekommen, dass er sie mit den Füßen getreten hat, als sie bereits am Boden lag. Einmal
wurde sie auch mit einem Gürtel geschlagen, an dem eine Eisenschnalle befestigt war. A. verlangte dann von der Klägerin, noch
während er sie schlug, dass sie mit ihm den Geschlechtsverkehr ausübe. In einer nicht mehr feststellbaren Zahl von Fällen
willigte die Klägerin aus Furcht vor weiteren Schlägen in den Geschlechtsverkehr mit A. ein. Am 02.10.1974 gelang es der Klägerin,
mit Hilfe ihres Vaters wieder im Hause ihrer Eltern aufgenommen zu werden. Aus dieser Beziehung stammt die im Juli 1975 geborene
Tochter N. R., die von der Klägerin aufgezogen wurde. A. ist schuldig gesprochen worden, eines fortgesetzten Verbrechens der
Vergewaltigung in Tateinheit mit einem fortgesetzten Vergehens der Freiheitsberaubung und einem fortgesetzten Vergehen der
Körperverletzung (vgl. Urteil des Jugend-Schöffengerichts bei dem Amtsgericht K. vom 07.11.1975).
Der Beklagte zog die Schwerbehinderten-Akten und die Rentenakten der Landesversicherungsanstalt Schwaben bei. Dort hat Dr.
G. mit nervenärztlichem Gutachten vom 13.12.1988 einen Einstieg in die Arbeitswelt nur im Rahmen einer beschützenden Arbeitsstelle,
z.B. in den U.-Werkstätten für erreichbar erachtet. Die Klägerin leide seit dem 9. Lebensjahr unter Depressionen. Sie sei
schon immer ein trauriges Kind gewesen. Bis zum 14. Lebensjahr habe sie bettgenässt. Schon mit 9 Jahren habe sie angeblich
einen Selbstmordversuch gemacht.
Im Folgenden hat der Beklagte mit dem streitgegenständlichen Bescheid vom 12.04.2002 den Antrag auf Beschädigtenversorgung
im Hinblick auf die Härteregelung §
10 a OEG abgelehnt. Die Klägerin habe zwar nach dem Schwerbehindertengesetz (nunmehr:
SGB IX) einen Grad der Behinderung (GdB) von 50. Jedoch seien diese Gesundheitsstörungen ohne Rücksicht auf die Ursachen festgestellt
worden. Nach versorgungsärztlicher Überzeugung würde hier jedoch eindeutig die schädigungsfremde Persönlichkeitsstörung mit
depressiven Zügen überwiegen. Diese habe bereits vor der Schädigung vorgelegen und habe ihre Ursachen in den desolaten häuslichen
Verhältnissen während der Kindheit. Diese Behinderungen mögen zwar durch die Gewalttaten von 1974 vorübergehend verschlimmert
worden seien. Die Schädigungsfolgen seien jedoch durch nachfolgende Faktoren dann wieder völlig in den Hintergrund getreten,
z.B. durch die 1980 geschlossene unglückliche Ehe mit einem Alkoholiker.
Im Rahmen des Widerspruchsverfahrens wies Dr. S. mit psychiatrisch-versorgungsärztlicher Stellungnahme vom 05.06.2002 darauf
hin, dass die zahlreichen vorhandenen Berichte eine seit der Kindheit gestörte Persönlichkeitsentwicklung erkennen lassen
würden. Neben einer Milieuschädigung sei auch eine familiäre Disposition zum "Substanzgebrauch" erkennbar. Der Vater sei ein
Trinker gewesen, mehrere Geschwister hätten Probleme mit Alkohol aufgewiesen. Auch die Mutter sei als psychisch krank geschildert
worden. Die Klägerin soll bis zum Alter von 14 Jahren Bettnässerin gewesen sein. Mit 15 Jahren, also vor den hier zur Debatte
stehenden schädigenden Ereignissen, habe sie einen Selbstmordversuch unternommen. Einen weiteren Selbstmordversuch habe sie
noch unmittelbar vor dem Zusammenziehen mit ihrem damaligen süditalienischen Freund unternommen, nämlich als ihre Eltern sich
dem Auszug aus dem Elternhaus entgegenstellten. Auch nach der Schädigung habe das Leben der Klägerin aus einer Aneinanderreihung
von Unglücksfällen und Rückschlägen bestanden. Vor allem habe sie 1980 einen Alkoholiker geheiratet, von dem sie sich drei
Jahre später wieder getrennt habe. 1985/1986 sei sie fast ein halbes Jahr nur im Bett gelegen. 1992 seien Persönlichkeitsstörungen
und ein psychischer Erschöpfungszustand beschrieben worden, 1994 eine Bulimie sowie 1999 und 2000 eine Fettsucht. Einerseits
sei die gestörte Persönlichkeit Grund für diese Häufung negativer Lebensereignisse, andererseits werde eine depressive Symptomatik
hierdurch unterhalten. Am Zustandekommen des gegenwärtigen Zustandsbildes seien die vor 28 Jahren erlittenen negativen Erlebnissen
mit dem damaligen Freund nicht maßgeblich. Der Widerspruch gegen den Bescheid vom 12.04.2002 wurde mit Widerspruchsbescheid
des Bayer. Landesamtes für Versorgung und Familienförderung vom 17.07.2002 zurückgewiesen.
Im Rahmen des anschließenden Klageverfahrens holte das Sozialgericht Augsburg aktuelle Befundberichte von Dr. A. (Internist)
und Dr. B. (Neurologe und Psychiater) ein. Letzterer machte auf die "vielschichtige Problematik" mit Essstörung, depressiver
Entwicklung, Spannungskopfschmerzen, sehr geringer emotionaler Belastbarkeit und hierdurch bedingte sehr schnelle Entwicklung
von Stress und Tinnitus aufmerksam. Das Sozialgericht Augsburg bestellte mit Beweisanordnung vom 18.11.2002 Dr. F. gemäß §
106 Abs.
3 Nr.
5 des Sozialgerichtsgesetzes (
SGG) zur ärztlichen Sachverständigen. Diese wies mit nervenfachärztlichem Gutachten vom 20.01.2003 darauf hin, dass neben der
"broken-home-Anamnese" klar Symptome einer chronisch-posttraumatischen Belastungsstörung vorliegen. Ihrer Ansicht nach habe
sich durch die massiven fortgesetzten Vergewaltigungen eine vorbestehende depressive Persönlichkeitsentwicklung mit Essstörung
noch deutlich akzentuiert; d.h. die Gewalttaten hätten zu einer Verschlimmerung der psychischen Symptomatik geführt. Das depressive
Syndrom bei Persönlichkeitsstörung, Zustand nach Alkohol- und Benzodiazepinabhängigkeit sowie Zustand nach Essstörung bedinge
einen Einzel-GdB von 60. Der schädigungsbedingte Anteil sei mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) mit 30 v.H. zu
berücksichtigen.
Der nach §
109 SGG benannte und beauftragte Sachverständige Prof. Dr. M. S. hat mit psychiatrischem Gutachten vom 27.07.2004 die weiteren Schicksalsschläge
der Klägerin zusammenfassend dargestellt, die sie ab 1980 hat hinnehmen müssen: Heirat eines 1945 geborenen Maschinenschlossers,
der Alkoholiker war und sie in alkoholisiertem Zustand ebenfalls geschlagen und vergewaltigt habe, 1985 erfolgte die Scheidung.
Ab 1983 war sie arbeitslos, krank, und nach eigenen Angaben "vollgestopft mit Valium". Die Klägerin habe eine Wegnahme ihrer
Tochter durch das Jugendamt befürchtet, wenn sie einen Medikamentenentzug im Krankenhaus durchführen lasse. 1986 habe sie
ihren zweiten Ehemann kennen gelernt und 1997 geheiratet. Bereits 1988 sei die gemeinsame Tochter N. geboren; diese sei mit
einem schweren Herzfehler zur Welt gekommen, sei 1991 in Monaco operiert worden. Der zweite Mann der Klägerin sei 12 Jahre
älter als diese, leide an Epilepsie und sei mittlerweile berentet. Obwohl dieser sehr viel für sie getan habe, habe man sich
auseinandergelebt (Trennung 2002). Die Tochter N. lebe bei der Klägerin; wegen einer Lernschwäche besuche sie die 9. Klasse
der Förderschule in A-Stadt und sei in psychotherapeutischer Behandlung. In Übereinstimmung mit den Ausführungen von Dr. F.
ist auch Prof. Dr. S. mit psychiatrischem Gutachten vom 27.07.2004 zu dem Ergebnis gekommen, dass aufgrund der schweren psychischen
Störung mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten ein Einzel-GdB von 60 gerechtfertigt sei. Allein aufgrund der
Schädigungsfolgen sei eine MdE von 30 v.H. angemessen.
Der Beklagte hat mit Schriftsatz vom 07.03.2005 darauf hingewiesen, dass er sich mangels entsprechender Veranlassung bislang
noch nicht zu einer eventuellen Erhöhung der MdE nach § 30 Abs. 2 BVG geäußert habe. Nachdem eine "außergewöhnlichen Härte" von der Klägerin bislang nicht vorgetragen worden sei, könne der Beklagte
auch nicht erkennen, dass eine Erhöhung nach § 30 Abs. 2 BVG um 20 v.H. in Betracht komme. Um einen Anspruch auf Entschädigung verwirklichen zu können, müsse eine MdE von 50 v.H. erreicht
werden, da die Klägerin vor dem 15.05.1976 geschädigt worden sei (§
10 a OEG). Dies sei vorliegend nicht der Fall.
Das Sozialgericht Augsburg wies die Klage mit Urteil vom 31.03.2006 ab. Die Klägerin habe zwar überzeugend für das Gericht
dargestellt, dass sie durch die Misshandlungen ihres damaligen Lebenspartners A. schwer geschädigt worden sei. Nach dem Ergebnis
der Beweisaufnahme bedinge dies eine MdE von 30 v.H. Nach Auffassung des Gerichts werde derzeit auch unter Berücksichtigung
einer besonderen beruflichen Betroffenheit der Klägerin die Mindest-MdE von 50 v.H. nicht erreicht.
Die hiergegen gerichtete Berufung vom 09.06.2006 ging am selben Tag beim Bayer. Landessozialgericht (BayLSG) ein. Dres. M.
und M. teilten mit, dass sie nicht im Besitz von Unterlagen betreffend die Klägerin seien. Die Bevollmächtigten der Klägerin
benannten mit Schriftsatz vom 14.12.2006 die behandelnden Ärzte der Klägerin Dr. P., Dr. R., Dr. V., Dr. B. und Dr. H., deren
Unterlagen mit weiteren Fremdbefunden beigezogen wurden. Im Folgenden bestellte der Senat mit Beweisanordnung vom 29.03.2007
Dr. R. gemäß §
106 Abs.
3 Nr.
5 SGG zur ärztlichen Sachverständigen. Auch diese kam mit psychiatrischem Fachgutachten vom 30.11.2007 zu dem Ergebnis, dass die
psychischen Störungen insgesamt mit einem GdB von 60 einzuschätzen seien. Die Einzel-MdE der posttraumatischen Belastungsstörung
müsse mit 30 v.H. berücksichtigt werden, da es sich um eine stärker behindernde Störung mit wesentlicher Einschränkung der
Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit handele.
Der nach §
109 SGG benannte und beauftragte Sachverständige Prof. Dr. Z. untersuchte die Klägerin vom 15.04. bis 17.04.2008 stationär in der
psychosomatischen Klinik W ... Er hob mit Gutachten vom 20.05.2008 hervor, es sei demnach von einer weiteren Zunahme der Chronifizierung
seit 2002 auszugehen. Panikattacken seien in den zugrunde gelegten Befunden nicht erwähnt worden. Diese hätten zum Zeitpunkt
der Begutachtung seit 1998 in Stärke und Frequenz in den letzten Monaten deutlich zugenommen. Es besteht ein "Circulus vitiosus"
mit der Folge, dass die posttraumatische Belastungsstörung mit einer MdE um 50 v.H. zu berücksichtigen sei. In Berücksichtigung
weiterer Störungen ergebe sich auf nervenfachärztlichem Gebiet eine Gesamt-MdE um 70 v.H. Auch die fehlende Möglichkeit einen
Beruf auszuüben, sei als schädigungsbedingt zu bewerten. Eine Berufsausbildung abzuleisten sei der Klägerin aufgrund der posttraumatischen
Belastungsstörung, der Essstörung sowie der depressiven Dekompensation zum Zeitpunkt nach der Tat sowie durch die Schwangerschaft,
die ebenfalls tatbedingt gewesen sei, nicht möglich gewesen.
Dr. K. wies mit psychiatrisch-versorgungsärztlicher Stellungnahme vom 30.06.2008 darauf hin, dass die zahlreichen Schicksalsschläge
und ungünstigen Lebensumstände der Klägerin vor und nach den Taten des A. von Prof. Dr. Z. nicht ausreichend gewichtet worden
seien. Den Ausführungen von Prof. Dr. Z. könne daher nicht gefolgt werden.
In Berücksichtigung der divergierenden ärztlichen Voten bestellte der Senat mit weiterer Beweisanordnung vom 04.08.2008 Dr.
A. gemäß §
106 Abs.
3 Nr.
5 SGG zur ärztlichen Sachverständigen. Diese kam mit nervenärztlichem Gutachten vom 09.10.2008 zu dem Ergebnis, dass die posttraumatische
Belastungsstörung ganz im Vordergrund stehe. Hierfür allein sei eine MdE von 50 v.H. anzuerkennen, während für die Double
depression und für die Essstörung jeweils 40 v.H. ausreichend erscheinen würden.
Dr. K. hielt mit psychiatrisch-versorgungsärztlicher Stellungnahme vom 23.10.2008 an seiner Auffassung fest, dass den gutachterlichen
Voten von Dr. F., Prof. Dr. S. und Dr. R. zu folgen sei. Auch wenn die schädigenden Ereignisse sehr belastend gewesen seien,
seien bei der Beurteilung allerdings auch die zuvor bestehenden psychischen Auffälligkeiten zu berücksichtigen.
Die Bevollmächtigten der Klägerin legten mit Schriftsatz vom 16.02.2009 dar, dass diese nach ihrer Auffassung bedürftig i.S.
von §
10 a Abs.
1 Nr.
2 OEG sei. Nach Erörterung in der mündlichen Verhandlung vom 17.02.2009 wurde der Rechtsstreit zur weiteren Sachverhaltsaufklärung
vertagt. Der Beklagte wurde gebeten, Alternativberechnungen zur Frage des Vorliegens einer Bedürftigkeit bei der Klägerin
unter Zugrundelegung eines Grades der Schädigungsfolgen (GdS) von 50, 60, 70 und 80 durchzuführen.
Die Bemühungen des Bevollmächtigten der Klägerin und des Senats um Erhalt weiterer ärztlicher Unterlagen blieben ohne Erfolg.
Der Beklagte legte mit Schriftsatz vom 20.05.2009 dar, dass die Klägerin die wirtschaftlichen bzw. finanziellen Voraussetzungen
des §
10 a Abs.
1 Satz 1 Nr.
2 OEG durchwegs ab Februar 2002 erfülle. Mit Telefax vom 21.07.2009 legte der Bevollmächtigte der Klägerin einen alten Aktenauszug
der AOK Bayern vor. Daraus ergäbe sich, dass die Annahme eines Selbstmordversuches der Klägerin im Alter von neun Jahren widerlegt
sei.
In der mündlichen Verhandlung vom 28.07.2009 beantragt der Bevollmächtigte der Klägerin,
das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 31.03.2006 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, den Bescheid vom 12.04.2002
in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.07.2002 aufzuheben und bei der Klägerin als Schädigungsfolge eine posttraumatische
Belastungsstörung, rezidivierende depressive Störung bei Dysthymie, Essstörung und Panikstörung im Sinne der Entstehung anzuerkennen
und den GdS nach § 30 Abs. 1 und 2 BVG mit 70 festzustellen.
Der Bevollmächtigte des Beklagten beantragt,
die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 10.05.2006 zurückzuweisen.
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird gemäß §
202 SGG i.V.m. §
540 der
Zivilprozessordnung (
ZPO) sowie entsprechend §
136 Abs.
2 SGG auf die Unterlagen des Beklagten sowie die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin ist gemäß den §§
143,
144 und
151 SGG zulässig und begründet. Die bei der Klägerin bestehende Schädigungsfolge "posttraumatische Belastungsstörung" ist im Sinne
der Entstehung anzuerkennen. Unter Berücksichtigung einer besonderen beruflichen Betroffenheit im Sinne von § 30 Abs. 2 BVG stehen der Klägerin ab 01.02.2002 Versorgungsleistungen nach einem Grad der Schädigungsfolgen (GdS) von 50 zu.
In dem Zeitraum August 1974 bis 02.10.1974 ist die Klägerin zahlreichen Misshandlungen von Seiten ihres ehemaligen Lebensgefährten
A. ausgesetzt gewesen. Dieser ist mit Urteil des Jugend-Schöffengerichts bei dem Amtsgericht K. vom 07.11.1975 eines fortgesetzten
Verbrechens der Vergewaltigung in Tateinheit mit einem fortgesetzten Vergehen der Freiheitsberaubung und einem fortgesetzten
Vergehen der Körperverletzung für schuldig befunden worden. Hierbei handelt es sich um Gewalttaten im Sinne von §
1 Abs.
1 OEG, welche in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zu entschädigen sind. Die Klägerin ist nach Maßgabe der Härteregelung §
10 a Abs.
1 Nrn. 1 bis 3
OEG anspruchsberechtigt.
Alle am Verfahren beteiligten Ärzte haben, wenn auch mit unterschiedlicher Gewichtung, übereinstimmend bestätigt, dass bei
der Klägerin zwar eine Vorschädigung vorgelegen hat, aufgrund der Gewalttaten des A. sich jedoch eine posttraumatische Belastungsstörung
entwickelt hat, die trotzdem die Klägerin im Laufe ihres weiteren Lebens zahlreiche Schicksalsschläge hat hinnehmen müssen,
überwiegend auf die Taten von 1974 zurückzuführen ist.
Zur Frage der Schwere der psychischen Gesamtbeeinträchtigung ohne Berücksichtigung der Ursache divergieren die gerichtlich
bestellten Sachverständigen nur geringfügig. Dr. F. hat mit Gutachten vom 20.01.2003 einen Gesamt-GdB von 60 befürwortet.
Gleiches gilt für den nach §
109 SGG gehörten Sachverständigen Prof. Dr. S. mit Gutachten vom 27.07.2004 und die zweitinstanzlich gehörte Sachverständige Dr.
R. mit Gutachten vom 30.11.2007. Zu einer etwas höheren Einschätzung mit einem GdB von 70 sind Prof. Dr. Z. mit Gutachten
vom 20.05.2008 und Dr. A. mit Gutachten vom 09.10.2008 gekommen. Unschädlich hierbei ist, dass die jeweiligen Gutachter sich
nicht exakt an die sprachlichen Vorgaben des Gesetzes gehalten haben. Aus ihren Gutachten ergibt sich jedoch zweifelsfrei,
dass vorstehend bezeichnete Werte von 60 bzw. 70 sich auf den Grad der Behinderung (GdB) im Sinne des Schwerbehindertenrechts
(
SGB IX) beziehen.
In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass alle ärztlichen Sachverständigen sich in dem Beurteilungsspielraum bewegen,
den die "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht
1996, 2004 ff. in Rdz.26.3 vorgeben. Danach sind Neurosen, Persönlichkeitsstörungen, Folgen psychischer Traumen mit einem
GdB von 30 bis 40 zu berücksichtigen, sofern sie stärker behindernde Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis-
und Gestaltungsfähigkeit darstellen. Der Gesamt-Beschwerdekomplex ist bei der Klägerin als schwere Störung einzustufen, weil
aktenkundig und gutachterlich übereinstimmend bestätigt mittelgradige soziale Anpassungsschwierigkeiten bestehen, für welche
ein GdB von 50 bis 70 vorgesehen ist.
Die mit Wirkung zum 01.01.2009 in Kraft getretenen "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" (Anlage zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung)
sind im Teil B Rdz. 3.7 inhaltsgleich mit den vormals zu berücksichtigenden "Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit
im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht 1996, 2004 ff." (§ 30 Abs. 17 BVG).
Hiervon ausgehend steht zur Überzeugung des erkennenden Senats fest, dass die gerichtlich bestellten Sachverständigen Dr.
F., Prof. Dr. S. und zweitinstanzlich Dr. R. R. die bei der Klägerin bestehende Schädigungsfolge "posttraumatische Belastungsstörung"
(im Sinne der Entstehung) mit einem GdS von 30 unterbewertet haben. Maßgeblicher und gewichtiger Gesichtspunkt hierfür ist,
dass aus der Beziehung zu A. die erste im Juli 1975 geborene Tochter N. hervorgegangen ist. Damit war die Klägerin, die ihre
Tochter aufgezogen hat, ständig mit den Folgen der Taten ihres Lebensgefährten konfrontiert, zumal auch die Tochter psychische
Störungen entwickelte, die auf die Umstände ihrer Zeugung zurückzuführen sind. Nachdem die Klägerin im Folgenden bei ihren
Eltern ausgezogen ist, hat sich eine starke Verschlechterung ihres seelischen Zustandes eingestellt, weil die Klägerin, die
sich noch in Entwicklung befunden hat, durch die Person ihres Vertrauens schwer misshandelt und wiederholt vergewaltigt worden
ist. Sie hat nach eigenen Angaben unter Depressionen gelitten, starke Ängste gehabt und sich auch nicht mehr getraut, im Dunkeln
zu schlafen. Hieraus ist aktenkundig ein Medikamentenabusus entstanden (Das verordnete Valium hat sie nach eigenen Angaben
mit Alkohol gemischt. Später hat sie zusätzlich das Aufputschmittel Captagon zu sich genommen). Dies gebietet es nach Auffassung
des erkennenden Senats, von einer "stärker behindernden Störung" im Sinne von Rdz.26.3 der "Anhaltspunkte für die ärztliche
Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht 1996, 2004 ff." auszugehen, die nicht
mit einem GdS von 30, sondern von 40 zu entschädigen ist. Gleiches gilt im Hinblick auf die "Versorgungsmedizinischen Grundsätze"
im Teil B Rdz.3.7.
Dr. K. hat mit psychiatrisch-versorgungsärztlichen Stellungnahmen vom 30.06.2008 und 23.10.2008 zutreffend darauf hingewiesen,
dass nicht die Gesamtheit des psychischen Beschwerdekomplexes nach den Vorschriften des
OEG zu entschädigen ist, sondern nur die Folgen der Gewalttaten durch A ...
In Berücksichtigung der traumatischen Erlebnisse der Klägerin in der Kindheit und die weiteren Schicksalsschläge, die die
Klägerin später hat hinnehmen müssen, somit zur Überzeugung des Senats ist es nicht gerechtfertigt, wesentlich mehr als die
Hälfte der Schwere des Gesamtleidensbildes der relativ kurzen Zeit des Zusammenlebens mit A. und dessen Tätlichkeiten anzulasten.
Bereits der Vater und der Großvater väterlicherseits sind alkoholabhängig gewesen. Die Mutter hat an Depressionen gelitten.
Auch die Geschwister der Klägerin haben Alkoholprobleme gehabt. Aktenkundig ist die Klägerin bereits als Kind depressiv gewesen.
Sie ist etwa bis zu dem 13. oder 14. Lebensjahr Bettnässerin gewesen (die diesbezüglichen Angaben divergieren aktenkundig
um etwa ein Jahr). Weiterhin hat die Klägerin bereits als Kind unter Übergewicht gelitten. Angeblich habe ihr die Mutter Schlankheitsmittel
verabreicht, um das Gewicht in der Pubertät zu normalisieren. Nach der Trennung von A. am 02.10.1974 ist die bei der Klägerin
bestehende krankhafte Esssucht immer wieder manifest geworden. In den Jahren 1975 bis 2002 war das Gewicht schwankend und
hat zwischen 60 kg und 140 kg betragen. Nicht übersehen werden darf die belastende erste Ehe der Klägerin (Heirat 1980) mit
einem ebenfalls sehr gewalttätigen alkoholabhängigen Ehemann, von dem sie sich 1985 getrennt hat. Auch die zweite Ehe (Heirat
1987) ist nicht von Dauer gewesen; nach eigenen Angaben der Klägerin habe man sich letztendlich auseinandergelebt, bis man
sich 2002 getrennt habe. Die aus dieser Ehe hervorgegangene Tochter N. ist herzkrank und lernbehindert (Besuch der Förderschule
in A-Stadt), alles also Umstände die eine Verschlechterung des Gesundheitszustands begünstigt haben.
Sämtliche vorstehend aufgeführten Schicksalsschläge haben sich zur Überzeugung des erkennenden Senats ebenfalls auf die psychische
Gesamtsituation der Klägerin ausgewirkt und dürfen entgegen den Ausführungen von Prof. Dr. Z. mit Gutachten vom 20.05.2008
nicht in den Hintergrund gedrängt werden. In kritischer Würdigung der ärztlichen Einschätzungen von Dr. F., Prof. Dr. S.,
Dr. R. R. und Dr. K. einerseits sowie Prof. Dr. Z. und Dr. A. andererseits steht zur Überzeugung des erkennenden Senats fest,
dass die bei der Klägerin bestehende entschädigungspflichtige "posttraumatische Belastungsstörung" im Sinne der Entstehung
anzuerkennen und mit einem GdS von 40 angemessen und zutreffend bewertet ist.
Dies korrespondiert letztendlich mit den Ausführungen von Dr. A. mit nervenärztlichem Gutachten vom 09.10.2008, wenn diese
die bei der Klägerin schädigungsbedingt bestehende "posttraumatische Belastungsstörung" mit einem GdS von 50 bewertet hat.
Denn dem Gutachten von Dr. A. ist zu entnehmen, dass diese eine besondere berufliche Betroffenheit i. S. von § 30 Abs. 2 BVG eingearbeitet hat. Nicht überzeugend ist Dr. A. jedoch insoweit, als sie auch die bei der Klägerin bestehende depressive
Störung bei Dysthymie samt Ess- und Panikstörung ebenfalls den schädigenden Ereignissen ursächlich anlastet. Denn aktenkundig
ist die Klägerin bereits vor dem Zusammenziehen mit A. psychisch auffällig gewesen (Bettnässen bis zum 13. oder 14. Lebensjahr,
Essstörungen, broken-home-Syndrom). Auch die weiteren Schicksalsschläge der Klägerin, die diese nach der Trennung von A. am
02.10.1974 in den Folgejahren hat hinnehmen müssen, haben sich ungünstig auf die vorbestehende depressive Störung bei Dysthymie
sowie die Ess- und Panikstörung ausgewirkt. In der Zusammenschau ist daher festzustellen, dass die "posttraumatische Belastungsstörung"
i. S. der Entstehung festzustellen und gemäß § 30 Abs. 1 BVG mit einem GdS von 40 zu entschädigen ist. Die weiteren Gesundheitsstörungen, die bei der Klägerin bestehen, können den schädigenden
Ereignissen des Jahres 1974 jedoch nicht wesentlich (mit) ursächlich angelastet werden.
Sowohl das Sozialgericht Augsburg mit Urteil vom 31.03.2006 als auch Prof. Dr. M. Z. mit Gutachten vom 20.05.2008 haben zutreffend
darauf hingewiesen, dass die fehlende Möglichkeit einen Beruf auszuüben, als schädigungsbedingt zu bewerten ist. Auf die Geburt
der Tochter N. im Juli 1975 wird in diesem Zusammenhang nochmals aufmerksam gemacht. In Anordnung der ständigen Rechtsprechung
des Bundessozialgerichts (BSG mit Urteil vom 22.10.1970 - 9 RV 736/69, Urteil vom 15.12.1977 - 10 RV 19/77) ist es daher geboten, den GdS gemäß § 30 Abs. 2 BVG um 10 auf 50 zu erhöhen, wie dies Dr. A. mit Gutachten vom 09.10.2008 bereits sinngemäß zum Ausdruck gebracht hat. Dementsprechend
ist die Klägerin allein infolge der Gewalttaten des A. als schwerbeschädigt im Sinne von §
10 a Abs.
1 Nr.
1 OEG anzusehen.
Ausweislich der Berechnungen des Beklagten mit Schriftsatz vom 20.05.2009 ist die Klägerin auch durchgehend ab 01.02.2002
(Antragsmonat) bedürftig im Sinne von §
10 Abs.
1 Nr.
2 OEG. Des Weiteren hat die Klägerin unverändert ihren Wohnsitz in A-Stadt (§
10 a Abs.
1 Nr.
3 OEG), so dass der Berufung der Klägerin stattzugeben ist.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf §§
183,
193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich (§
160 Abs.2 Nrn. 1 und 2
SGG).