Parallelentscheidung zu BSG - B 12 R 2/15 R - v. 15.9.2016
Gründe:
I
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit der Nachforderung von Gesamtsozialversicherungsbeiträgen.
Der Kläger ist Insolvenzverwalter der R. GmbH, über deren Vermögen durch Beschluss des Amtsgerichts Alzey am 1.11.2010 das
Insolvenzverfahren eröffnet wurde. Er zeigte dem Insolvenzgericht gegenüber die Masseunzulänglichkeit (§
208 Insolvenzordnung [InsO]) an, kündigte den Arbeitnehmern und stellte diese ab dem Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung von der Arbeitsleistung
frei, dies unter Anrechnung auf eventuell noch bestehende Urlaubsansprüche und anderweitige Vergütungsansprüche. Beitragsnachweise
für die gekündigten Arbeitnehmer erstellte der Kläger für die Zeit ab 1.11.2010 nicht mehr.
Nach einer Betriebsprüfung forderte die beklagte Deutsche Rentenversicherung Bund vom Kläger als Insolvenzverwalter für die
Zeit vom 1.11.2010 bis 28.2.2011 Beiträge für alle Zweige der Sozialversicherung zuzüglich Säumniszuschlägen nach. Die Beklagte
forderte die Zahlung an die beigeladenen Einzugsstellen, sofern dem Insolvenzgericht nicht bereits Masseunzulänglichkeit nach
§
208 InsO angezeigt worden sei (Bescheid vom 16.8.2011). Im Widerspruchsverfahren reduzierte die Beklagte die Beitragsforderung auf
insgesamt 10 186,37 Euro, weil einige Arbeitnehmer während der Zeit der Freistellung neue Beschäftigungen aufgenommen hatten
und Beiträge von der Bundesagentur für Arbeit getragen wurden (Bescheid vom 3.4.2012). Im Übrigen wies sie den Widerspruch
zurück (Widerspruchsbescheid vom 15.6.2012).
Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 31.7.2013). Auf die Berufung des Klägers hat das LSG das Urteil des SG sowie den Bescheid der Beklagten vom 3.4.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.6.2012 (im Tenor ist als Datum
offensichtlich irrtümlich 15.6.2010 genannt) aufgehoben, "soweit der Kläger darin zur Zahlung von Beiträgen und Säumniszuschlägen
verpflichtet wird". Im Übrigen hat es die Berufung zurückgewiesen: Der Bescheid vom 3.4.2012 habe den Ausgangsbescheid nicht
nur ersetzt - in Bezug auf die Höhe der Nachforderung. Zusätzlich habe er die Verpflichtung zur Zahlung unabhängig von der
Anzeige der Masseunzulänglichkeit ausgesprochen. Damit habe er die rechtliche Situation des Klägers iS einer reformatio in
peius verschlechtert. Der Bescheid sei insoweit rechtswidrig, als der Kläger bei sog Altmasseverbindlichkeiten iS von §
209 Abs
1 Nr
3 InsO nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens und Anzeige der Masseunzulänglichkeit "nicht mehr zur Zahlung aufgefordert werden"
dürfe. Dem Bescheid komme nur die Bedeutung eines Beitragsnachweises zu. Bei den von der Beklagten festgesetzten Beiträgen
für die Zeit nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens handele es sich um sog Altmasseverbindlichkeiten, da diese nicht vom Kläger
als Insolvenzverwalter begründet worden seien. Wegen einer solchen Masseverbindlichkeit sei die Vollstreckung nach §
210 InsO unzulässig, sobald der Insolvenzverwalter die Masseunzulänglichkeit angezeigt habe. Dabei richte sich das Vollstreckungsverbot
nicht nur gegen titulierte Ansprüche der Massegläubiger, sondern stehe bereits einer Verfolgung der Ansprüche im Wege der
Leistungsklage entgegen. Die Beklagte sei daher nicht berechtigt gewesen, sich durch den Erlass des Beitragsbescheides einen
Vollstreckungstitel zu verschaffen. Für den Erlass eines zur "Zahlung" verpflichtenden Beitragsbescheides fehle es an einer
Rechtsgrundlage. Das Vollstreckungsverbot stehe allerdings dem Erlass eines Bescheides der Beklagten mit dem Inhalt der "Feststellung"
einer Beitragsschuld in bestimmter Höhe nicht entgegen. Die Insolvenz des Arbeitgebers und die Freistellung der Arbeitnehmer
ließen die bestehenden Beschäftigungsverhältnisse unberührt. Damit seien Beitragsansprüche nach §
22 Abs
1 S 1
SGB IV entstanden und nach §
23 SGB IV fällig. Diese seien nicht davon abhängig, ob das geschuldete Arbeitsentgelt den Arbeitnehmern zugeflossen sei. Da keine Verpflichtung
zur Beitragszahlung bestanden habe, sei die Festsetzung von Säumniszuschlägen rechtswidrig (Urteil vom 16.12.2014).
Hiergegen richtet sich (allein) die Revision des Klägers, der die Verletzung von §§
22,
23,
14 SGB IV und von §
615 BGB rügt. Entgegen der Ansicht des LSG seien Beitragsansprüche der Versicherungsträger von vornherein nicht entstanden. Nach
dem Entstehungsprinzip seien Sozialversicherungsbeiträge nur für geschuldetes Arbeitsentgelt zu entrichten. Für die von der
Arbeitspflicht freigestellten und damit faktisch nicht mehr beschäftigt gewesenen Arbeitnehmer werde aber kein Arbeitsentgelt
geschuldet. Nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der R. GmbH habe er (der Kläger) sich als Insolvenzverwalter
im Annahmeverzug befunden. In diesem Falle könnten die Arbeitnehmer zwar für die infolge des Verzugs nicht geleisteten Dienste
die vereinbarte Vergütung verlangen. Die Arbeitnehmer müssten sich darauf jedoch nach §
615 S 2
BGB dasjenige im Wert anrechnen lassen, was sie infolge des Unterbleibens der Dienstleistung erspart hätten oder durch anderweitige
Verwendung ihrer Dienste erwürben oder zu erwerben böswillig unterließen. Zur Bezifferung dieses Wertes stehe ihm (dem Kläger)
ein Auskunftsanspruch gegen die Arbeitnehmer zu. Er habe nach der Rechtsprechung des BAG die Zahlung des Arbeitsentgelts verweigern
dürfen, da die Arbeitnehmer trotz entsprechender Aufforderung keine Auskunft zu erzielten Einsparungen oder Einkünften erteilt
hätten (Hinweis auf BAG Urteile vom 19.3.2002 - 9 AZR 16/01 - und vom 6.9.2006 - 5 AZR 703/05), weshalb diesen auch - beitragspflichtige - Vergütungsansprüche nicht zugestanden hätten.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 16. Dezember 2014 zu ändern und das Urteil des Sozialgerichts Mannheim
vom 31. Juli 2013 sowie den Bescheid der Beklagten vom 3. April 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. Juni
2012 in vollem Umfang aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beigeladenen stellen keine Anträge und äußern sich nicht.
II
Die Revision des Klägers bleibt ohne Erfolg. Es kann offenbleiben, ob die Revision zulässig ist (dazu 1.). Jedenfalls ist
sie unbegründet (dazu 2.).
1. Der Senat muss nicht entscheiden, ob die Revision mangels einer den gesetzlichen Anforderungen entsprechenden Revisionsbegründung
im Hinblick darauf unzulässig ist, dass sie möglicherweise in Bezug auf die gerügte Verletzung von Vorschriften des materiellen
Rechts nicht den Anforderungen des §
164 Abs
2 S 1 und 3
SGG genügt (vgl dazu nur: BSG SozR 4-1500 § 164 Nr 3 RdNr 9; zuletzt Senatsurteil vom 29.6.2016 - B 12 KR 14/14 R - NZS 2016, 919 RdNr 10 = Juris RdNr 10 mwN).
Um diese Voraussetzungen zu erfüllen, muss die Revisionsbegründung ua den wesentlichen Lebenssachverhalt darstellen, über
den das LSG entschieden hat (vgl hierzu BSG Urteil vom 24.3.2016 - B 12 R 5/15 R - Juris RdNr 11 mwN - zur Veröffentlichung in SozR 4 vorgesehen). Hierfür genügt es nach dem Verständnis des Senats, wenn
der Revisionsführer - wie der Kläger - den für die geltend gemachte Rechtsverletzung entscheidungsrelevanten, also den vom
LSG festgestellten, Lebenssachverhalt in eigenen Worten kurz wiedergibt (so bereits BSG Urteil vom 24.2.2016 - B 13 R 31/14 R - Juris RdNr 16 - zur Veröffentlichung in SozR 4-1500 § 164 Nr 4 vorgesehen; BSG Urteil vom 24.3.2016 - B 12 R 5/15 R - Juris RdNr 11 - zur Veröffentlichung in SozR 4-1500 § 164 Nr 5 vorgesehen). Ob darüber hinaus - wie der 5. Senat des BSG annimmt - auch ausdrücklich darzulegen ist, dass und an welcher genauen Stelle des Berufungsurteils das LSG bestimmte Tatumstände
festgestellt hat (BSG Beschluss vom 5.11.2014 - B 5 RE 5/14 R - BeckRS 2014, 74155 RdNr 8; BSG Urteil vom 23.7.2015 - B 5 R 32/14 R - NZS 2015, 838 RdNr 7 = Juris RdNr 7), kann vorliegend dahinstehen. Zwar genügt die Revisionsbegründung des Klägers diesen strengeren Anforderungen
nicht. Eine in Betracht kommende Divergenz ist jedoch nicht entscheidungserheblich und daher nicht klärungsbedürftig (vgl
demgegenüber ua Anfragebeschlüsse des 12. Senats an den 5. Senat vom 27.4.2016 - B 12 KR 16/14 R und B 12 KR 17/14 R), weil - wie im Folgenden unter 2. näher darzulegen ist - das angegriffene Urteil des LSG im Ergebnis aus anderen Gründen
Bestand hat.
2. Die Revision des Klägers bleibt ohne Erfolg, weil sie jedenfalls unbegründet ist. Das angefochtene Urteil des LSG lässt
revisionsrechtlich bedeutsame Rechtsfehler zu Lasten des Klägers nicht erkennen.
a) Gegenstand des Rechtsstreits iS von §
95 SGG sind die Bescheide der beklagten Deutschen Rentenversicherung Bund vom 16.8.2011 und vom 3.4.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 15.6.2012. Mit diesen Bescheiden wurden im Anschluss an eine Betriebsprüfung von dem Kläger Beiträge für alle Zweige der
Sozialversicherung sowie Säumniszuschläge zur Zahlung an die beigeladenen Einzugsstellen nachgefordert.
Anders als im Tenor des LSG-Urteils angedeutet, hat der im Widerspruchsverfahren ergangene und nach §
86 SGG zum Gegenstand des Verfahrens gewordene Bescheid vom 3.4.2012 den vorherigen Bescheid vom 16.8.2011 nicht vollständig ersetzt,
sondern nur geändert. Ein Verwaltungsakt wird nämlich "geändert", wenn er teilweise aufgehoben und durch eine Neuregelung
ersetzt wird; ein Verwaltungsakt wird hingegen nur dann "ersetzt", wenn der neue Verwaltungsakt vollständig an die Stelle
des bisherigen tritt (vgl zB Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 11. Aufl 2014, §
86 RdNr 3; §
96 RdNr 4 mwN). Letzteres ist hier nicht der Fall. Mit Bescheid vom 3.4.2012 hat die Beklagte dem Widerspruch des Klägers ausdrücklich
nur "teilweise abgeholfen". Der vorangegangene Bescheid hatte damit - sowohl nach dem eigenen Verständnis der Beklagten als
auch aus der Sicht eines objektiv verständigen Bescheidadressaten - hinsichtlich des nicht zurückgenommenen Teils weiter Bestand.
Da der abändernde Bescheid vom 3.4.2012 eine Neuregelung nur hinsichtlich der Höhe der nachgeforderten Beiträge und Säumniszuschläge
getroffen, im Übrigen aber der Bescheid vom 16.8.2011 Bestand behalten hat, liegt entgegen der Ansicht des LSG auch keine
"reformatio in peius" durch den späteren Bescheid vom 3.4.2012 vor. Die im früheren Bescheid vom 16.8.2011 getroffene Einschränkung
hinsichtlich der Zahlungspflicht ("sofern dem Insolvenzgericht nicht bereits Masseunzulänglichkeit nach §
208 InsO angezeigt worden ist"), auf die das LSG bei seiner Annahme einer reformatio in peius entscheidend abgestellt hat, wurde durch
den späteren Bescheid vom 3.4.2012 nicht geändert. Im Übrigen hat das Berufungsgericht der Sache nach - zutreffenderweise
- über den gesamten Streitgegenstand entschieden.
Im Revisionsverfahren sind vor diesem Hintergrund alle genannten Bescheide der Beklagten zu überprüfen, dies allerdings nur
noch, soweit der Kläger, der alleiniger Revisionsführer ist, in der Berufungsinstanz unterlegen ist. Da die Beklagte keine
Revision eingelegt hat, ist das LSG-Urteil in dem Umfang rechtskräftig geworden, in dem es der Klage stattgegeben und die
Bescheide aufgehoben hat. Damit hat der Senat die Frage der vom LSG angenommenen fehlenden Berechtigung der Beklagten zur
Aufforderung "zur Zahlung" von Beiträgen sowie zur (nach Ansicht des LSG bereits fehlenden) Berechtigung zur Feststellung
und Aufforderung "zur Zahlung" von Säumniszuschlägen im Revisionsverfahren nicht (mehr) zu beantworten. Für das Revisionsverfahren
ist damit schon ein Rechtsschutzbedürfnis des Klägers zu verneinen, soweit er mit Schreiben vom 13.10.2015 dennoch ausdrücklich
eine "klarstellende Entscheidung" des Senats "zur Aufbürdung bzw zum Unterbleiben von Säumniszuschlägen" begehrt. Vom Senat
zu überprüfen ist nur die Berechtigung der Beklagten zur "Feststellung" einer Beitragsschuld.
b) Die Bescheide der Beklagten sind - in dem dargestellten noch streitigen Umfang - rechtmäßig.
Die Beklagte war für den Erlass der Bescheide sachlich zuständig (dazu aa). Für die Zahlung des Gesamtsozialversicherungsbeitrages
für die betroffenen Beschäftigten ist der Kläger als Arbeitgeber passivlegitimiert; er ist auch richtiger Adressat der ergangenen
Bescheide (dazu bb). Der Erteilung der Bescheide steht ein möglicherweise bestehendes Vollstreckungsverbot nach §
210 InsO dabei nicht entgegen (dazu cc). Der Kläger muss den Gesamtsozialversicherungsbeitrag für die betroffenen Beschäftigten zahlen,
weil diese auch nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens entgeltlich beschäftigt und damit versicherungspflichtig waren, sodass
Beitragsansprüche entstanden sind (dazu dd). Fehler bei der Berechnung der Beiträge sind nicht ersichtlich (dazu ee).
aa) Die Beklagte war für den Erlass der Bescheide nach der von ihr durchgeführten Betriebsprüfung gemäß § 28p Abs 1 S 1
SGB IV sachlich zuständig.
Nach dieser Regelung prüfen die Träger der Rentenversicherung bei den Arbeitgebern, ob diese ihre Meldepflichten und ihre
sonstigen Pflichten nach dem
SGB IV, die im Zusammenhang mit der Abführung von Gesamtsozialversicherungsbeiträgen stehen, ordnungsgemäß erfüllen; sie prüfen
insbesondere die Richtigkeit der Beitragszahlungen und der Meldungen (§
28a SGB IV) mindestens alle vier Jahre. Nach Satz 5 der Vorschrift erlassen die Träger der Rentenversicherung im Rahmen der Prüfung
Verwaltungsakte zur Versicherungspflicht und Beitragshöhe in der gesetzlichen Kranken-, sozialen Pflege- und gesetzlichen
Rentenversicherung sowie nach dem Recht der Arbeitsförderung einschließlich der Widerspruchsbescheide gegenüber den Arbeitgebern;
insoweit gelten §
28h Abs
2 SGB IV sowie § 93 iVm § 89 Abs 5 SGB X nicht.
bb) Der Kläger ist in seiner Funktion als Insolvenzverwalter der insolventen R. GmbH als Arbeitgeber (§
28e SGB IV) für die Entrichtung der Sozialversicherungsbeiträge zuständig. Als Schuldner ist er daher zu Recht Adressat der Bescheide
der Beklagten. Durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens geht nämlich das Recht des Schuldners, das zur Insolvenzmasse gehörende
Vermögen zu verwalten und über es zu verfügen, auf den Insolvenzverwalter über (§
80 Abs
1 InsO). Insofern rückt der Insolvenzverwalter in die Arbeitgeberstellung ein und nimmt sämtliche hiermit verbundenen Rechte und
Pflichten wahr (vgl Gemeinsamer Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes Beschluss vom 27.9.2010 - GmS-OGB 1/09 - BGHZ 187, 105 RdNr 18 mwN).
cc) Ein - möglicherweise bestehendes - Vollstreckungsverbot nach §
210 InsO steht einer Geltendmachung der von der Beklagten nachgeforderten Beiträge und deren Zahlung an die Einzugsstellen gegenüber
dem Kläger als Insolvenzverwalter und Arbeitgeber im Übrigen nicht entgegen.
Wie der Senat bereits entschieden hat, hindert ein nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit bestehendes insolvenzrechtliches
Vollstreckungsverbot den prüfenden Rentenversicherungsträger nicht daran, nach einer Betriebsprüfung ermittelte rückständige
Gesamtsozialversicherungsbeiträge gegenüber dem Insolvenzverwalter durch Leistungs- bzw Zahlungsbescheid festzusetzen (vgl
ausführlich BSG Urteil vom 28.5.2015 - B 12 R 16/13 R = SozR 4-2400 § 28p Nr 5 RdNr 20 ff; zustimmend Hess, EWiR 2016, 55 f; Schmidt, jurisPR-SozR 4/2016 Anm 4; vgl auch Plagemann, NZI 2016, 31 f). Denn im Falle einer Betriebsprüfung, wie sie hier erfolgte, ist das Verfahren zur Erhebung von Gesamtsozialversicherungsbeiträgen
grundsätzlich zweigeteilt. Der Leistungs- bzw Zahlungsbescheid des prüfenden Rentenversicherungsträgers hat die Funktion eines
Grundlagenbescheides. Ob ein solcher Bescheid vollstreckt werden darf oder die zwangsweise Durchsetzung der Beitragsforderung
wegen eines insolvenzrechtlichen Vollstreckungsverbots ausscheidet, ist erst auf einer späteren Ebene von den Krankenkassen
als Einzugsstellen beim Einzug der Beiträge zu prüfen. An dieser Rechtsprechung hält der Senat fest.
dd) Die Beklagte hat in ihren Bescheiden auch beanstandungsfrei angenommen, dass der Kläger den Gesamtsozialversicherungsbeitrag
für die kraft Gesetzes in den einzelnen Zweigen der Sozialversicherung versicherten Beschäftigten zu zahlen hat, weil solche
Beitragsansprüche bestehen (vgl §
28d S 1
SGB IV iVm §
7 SGB IV und §
5 Abs
1 Nr
1 SGB V, §
20 Abs
1 S 2 Nr
1 SGB XI, §
1 S 1 Nr
1 SGB VI, §
24 Abs
1, §
25 Abs
1 S 1
SGB III). Auch nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der R. GmbH waren die Arbeitnehmer wegen Beschäftigung versicherungspflichtig
(dazu [1]) und insbesondere im Sinne des Sozialversicherungsrechts gegen Entgelt beschäftigt (dazu [2]).
(1) Die Arbeitnehmer waren auch nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der R. GmbH wegen Beschäftigung in
den Zweigen der Sozialversicherung versicherungspflichtig. Ihre (entgeltliche) Beschäftigung endete insbesondere nicht durch
die vom Kläger als Insolvenzverwalter erklärte Freistellung der Arbeitnehmer von ihrer vertraglichen Pflicht zur Arbeitsleistung.
Eine versicherungspflichtige Beschäftigung setzt nämlich nicht zwingend eine tatsächliche Arbeitsleistung voraus. Bei einer
Freistellung von Arbeitnehmern besteht die Beschäftigung vielmehr selbst dann fort, wenn eine anschließende Fortsetzung der
vertraglichen Beziehungen mit Blick auf eine bereits konkretisierte Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht mehr beabsichtigt
ist, etwa - wie im vorliegenden Fall - nach dem Ablauf der Kündigungsfrist (vgl BSGE 59, 183, 185 = SozR 4100 § 168 Nr 19 S 44 f; BSGE 101, 273 = SozR 4-2400 § 7 Nr 10, RdNr 19).
(2) Entgegen der Ansicht des Klägers waren die Arbeitnehmer ferner nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen
der R. GmbH im Sinne des Sozialversicherungsrechts gegen Entgelt beschäftigt (§
7 SGB IV iVm den oben genannten, für die einzelnen Versicherungszweige geltenden Regelungen; vgl §
14 SGB IV).
Die betroffenen Arbeitnehmer hatten einen Entgeltanspruch aus dem bis zum Ablauf der Kündigungsfrist fortbestehenden Arbeitsverhältnis.
Dieser Anspruch ergibt sich aus §
611 Abs
1 BGB iVm dem (unabhängig von der Insolvenz der R. GmbH fortbestehenden) Arbeitsvertrag. Dabei kann es dahinstehen, ob sich der
Kläger als Arbeitgeber - wie er meint - durch die Freistellung der Arbeitnehmer in Annahmeverzug (§
293 BGB) befand. Liegen die Voraussetzungen eines Annahmeverzugs vor, erhält §
615 S 1
BGB den Arbeitnehmern - abweichend vom Grundsatz "Ohne Arbeit kein Lohn" (§
326 Abs
1 BGB) - jedenfalls den ursprünglichen Vergütungsanspruch des §
611 Abs
1 BGB aufrecht (vgl BAG AP Nr
132 zu §
615 BGB RdNr
17;
BGB AP Nr 11 zu §
305 BGB RdNr 13; BAG AP Nr 1 zu §
280 nF
BGB Bl 416; Krause in Henssler/Willemsen/Kalb, Arbeitsrecht Kommentar, 7. Aufl 2016, §
615 RdNr 4; Linck in Schaub, Arbeitsrechts-Handbuch, 16. Aufl 2015, §
95 RdNr 3; Belling in Erman,
BGB Kommentar, 14. Aufl 2014, §
615 RdNr 34). Die Höhe des Anspruchs bemisst sich dabei nach dem Lohnausfallprinzip (vgl
BGB AP Nr 11 zu §
305 BGB RdNr 13; Henssler in Münchener Kommentar zum
BGB, 7. Aufl 2016, §
615 RdNr 51, 56).
Das Vorliegen einer entgeltlichen, zur Beitragspflicht des Arbeitsentgelts in den Zweigen der Sozialversicherung führenden
Beschäftigung ist unabhängig davon zu bejahen, ob die Arbeitnehmer der R. GmbH das Entgelt bereits ausgezahlt bekommen hatten
oder nicht. Das folgt aus dem im Beitragsrecht der Sozialversicherung geltenden Entstehungsprinzip (§
22 Abs
1 S 1
SGB IV).
Danach entstehen die Beitragsansprüche (schon), sobald ihre im Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes bestimmten Voraussetzungen
vorliegen. Für die Beitragspflicht von Arbeitsentgelt ist nach der ständigen Rechtsprechung des Senats, die auch hier einschlägig
ist, insoweit allein das Entstehen eines arbeitsrechtlichen Entgeltanspruchs maßgebend, ohne Rücksicht darauf, ob (und von
wem) dieser Anspruch im Ergebnis erfüllt wird oder nicht (stRspr; vgl zuletzt BSG Urteil vom 16.12.2015 - B 12 R 11/14 R ["CGZP"] - Juris RdNr 25 mwN - SozR 4-2400 § 28p Nr 6, auch zur Veröffentlichung in BSGE 120 vorgesehen; zuletzt BSG Urteil vom 29.6.2016 - B 12 R 8/14 R - RdNr 18 - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen; aus dem Schrifttum vgl zB Hase in Festschrift 50 Jahre Bundessozialgericht,
2004, S 167 ff; Axer in von Maydell/Ruland/Becker, Sozialrechtshandbuch, 5. Aufl 2012, §
14 RdNr 32; Mette in Beck'scher Online-Kommentar Sozialrecht, Stand Dezember 2015, §
22 SGB IV RdNr 4; Roßbach in Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann, Kommentar zum Sozialrecht, 4. Aufl 2015, §
22 SGB IV RdNr 4 f; Zieglmeier in Kasseler Komm, Stand Juni 2016, §
22 SGB IV RdNr 5 f; zur Verfassungskonformität des Prinzips vgl BVerfG SozR 4-2400 § 22 Nr 3). Dabei ist es für die Beitragsbemessung
unerheblich, ob der einmal entstandene Entgeltanspruch - zB wegen tarifvertraglicher Verfallklauseln oder wegen Verjährung
- vom Arbeitnehmer (möglicherweise) nicht mehr realisiert werden kann. Sobald die Voraussetzungen eines Vergütungsanspruchs
vorliegen, entsteht kraft Gesetzes die Beitragspflicht, und zwar unabhängig davon, ob und in welcher Höhe das Arbeitsentgelt
tatsächlich ausgezahlt wird (vgl Schlegel, NZA 2011, 380, 382 mwN; Körner, ASR 2014, 57, 60). Der (tatsächliche) Zufluss von Arbeitsentgelt ist für das Beitragsrecht der Sozialversicherung dagegen nur relevant,
soweit der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer mehr leistet als Letzterem unter Beachtung der gesetzlichen, tariflichen oder einzelvertraglichen
Regelungen zusteht, also dann, wenn ihm über das geschuldete Arbeitsentgelt hinaus überobligatorische Zahlungen zugewandt
werden (vgl zuletzt BSG Urteil vom 16.12.2015 - B 12 R 11/14 R, aaO, Juris RdNr 25 mwN).
Aus diesem Grunde ist es im zu entscheidenden Fall ohne Bedeutung, ob sich der Kläger als Insolvenzverwalter nach Freistellung
der Arbeitnehmer der R. GmbH im Annahmeverzug befand, insbesondere, ob (und mit welchen Folgen) die Arbeitnehmer auf ein rechtmäßiges
Auskunftsverlangen des Klägers zur Höhe anderweitigen Verdienstes (§
615 S 2
BGB) geschwiegen hatten. Zwar trifft es zu - worauf sich der Kläger beruft -, dass nach der Rechtsprechung des BAG im Falle des
Annahmeverzugs ein Auskunftsrecht des Arbeitgebers bezüglich der Höhe anderweitigen Verdienstes für den Gesamtzeitraum des
Annahmeverzugs in entsprechender Anwendung des § 74c Abs 2 HGB besteht; dieses Auskunftsrecht befreit den Arbeitgeber allerdings nicht davon, insoweit gegenüber dem Arbeitnehmer zumindest
greifbare Anhaltspunkte für das Vorhandensein eines anderweitigen Verdienstes darzulegen und dieses ggf zu beweisen (stRspr;
vgl. BAG EzA §
615 BGB Nr 108, S 4; BAG AP Nr 1 zu §
615 BGB Anrechnung, Bl 1088; BAG AP Nr 52 zu §
615 BGB, Bl 700 R; ebenso Joussen in Beck'scher Online-Kommentar Arbeitsrecht, Stand Juni 2016, §
615 BGB RdNr 82; Preis in Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 16. Aufl 2016, §
615 BGB RdNr 111). Auch kann der Arbeitgeber die Zahlung des Arbeitsentgelts verweigern, solange die betroffenen Arbeitnehmer die
verlangte Auskunft nicht erteilen (stRspr; vgl BAG EzA §
615 BGB Nr 108, S 4; BAG AP Nr 1 zu §
615 BGB Anrechnung, Bl 1088 f; BAG AP Nr 52 zu §
615 BGB, Bl 700 R; ebenso Henssler, aaO, §
615 RdNr 124; Krause, aaO, §
615 RdNr 110; Linck, aaO, §
95 RdNr 78; Preis, aaO, §
615 BGB RdNr 111; Weidenkaff in Palandt,
BGB, 75. Aufl 2016, §
615 BGB RdNr 19). Dieses Zurückbehaltungsrecht hat jedoch auf das im Beitragsrecht der Sozialversicherung allein maßgebende, dem
zeitlich vorangehenden Entstehen des Entgeltanspruchs der Arbeitnehmer keinen Einfluss. Erst recht entfaltet ein Zurückbehaltungsrecht
aus dem Arbeitsverhältnis - also aus dem Innenverhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer - keine Rechtswirkungen für
das in §
22 SGB IV iVm den für die einzelnen Versicherungszweige geltenden sozialversicherungsrechtlichen Bestimmungen geregelte Entstehen des
Beitragsanspruchs der Sozialversicherungsträger. Ein solches Zurückbehaltungsrecht lässt damit die Pflicht des Arbeitgebers
zur Entrichtung von Sozialversicherungsbeiträgen gänzlich unberührt.
ee) Für Fehler bei der Berechnung der Beiträge durch die Beklagte bestehen keine Anhaltspunkte. Der Kläger hat im Rechtsstreit
insoweit auch keine Einwände erhoben.
3. Die Kostenentscheidung folgt aus §
197a Abs
1 S 1 Teils 3
SGG iVm §
154 Abs
2, §
162 Abs
3 VwGO, da weder der Kläger noch die Beklagte zu dem in §
183 SGG genannten Personenkreis gehören.
4. Der Streitwert für das Revisionsverfahren war gemäß §
197a Abs
1 S 1 Teils 1
SGG iVm § 63 Abs 2 S 1, § 52 Abs 1 und 3, § 47 Abs 1 GKG in Höhe des Betrags der streitigen Beitragsforderung festzusetzen.