Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde im sozialgerichtlichen Verfahren
Bezeichnung des Verfahrensmangels einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör
Nichtberücksichtigung des Vortrags einer Partei zum Facharbeiterstatus für einen Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung
bei Berufsunfähigkeit aus der gesetzlichen Rentenversicherung
Gründe:
I
Das LSG Berlin-Brandenburg hat mit Urteil vom 28.5.2015 einen Anspruch der Klägerin auf eine Rente wegen voller oder teilweiser
Erwerbsminderung sowie wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit verneint. Zwar sei die Klägerin aus gesundheitlichen
Gründen nicht mehr in der Lage, ihren erlernten und bis 31.12.2005 ausgeübten Beruf als Diätköchin weiter auszuüben. Jedoch
könne sie ausgehend von einem Berufsschutz als Angelernte des oberen Bereichs auf die ungelernte Tätigkeit einer Telefonistin
verwiesen werden, die ihr medizinisch und sozial zumutbar sei. Die konkrete tarifliche Eingruppierung durch den Arbeitgeber
in die Facharbeiterlohngruppe 5 Fallgruppe 29 des Berliner Bezirkstarifvertrags Nr 2 zum Bundesmanteltarifvertrag-Ost (BTV
Nr 2) - "Köche" - sei zu Unrecht erfolgt, weil ihre Ausbildung zur Diätköchin im Beitrittsgebiet nicht die tarifvertraglich
notwendige Mindestdauer von zweieinhalb Jahren umfasst habe und keine Gleichstellung ihres Prüfzeugnisses mit einer in den
alten Ländern der Bundesrepublik Deutschland abgelegten Abschlussprüfung nach Art 37 des Einigungsvertrags (EV) vorliege; dies sei für eine Gleichstellung mit einem Facharbeiter nach § 2 Abs 4 Unterabs 3 BTV Nr 2 erforderlich. Selbst wenn von einer ursprünglich zutreffenden tariflichen Einstufung als Facharbeiterin
ausgegangen werden müsste, wäre zweifelhaft, ob die Klägerin noch Berufsschutz als Facharbeiterin geltend machen könne. Nach
einer Anlage zur Beschreibung ihres Aufgabenkreises (BAK) vom 21.1.1997 sei anzunehmen, dass sie nur noch zu 50 % Facharbeitertätigkeiten
zu verrichten gehabt habe.
Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil hat die Klägerin Beschwerde beim BSG eingelegt. Sie rügt eine Verletzung des rechtlichen Gehörs, weil das LSG den Bescheid über die Feststellung der Gleichwertigkeit
ihrer Prüfung als Diätköchin mit der Abschlussprüfung als Köchin nicht zur Kenntnis genommen habe.
II
Die Beschwerde der Klägerin ist zulässig und begründet.
1. Die Klägerin hat zutreffend einen Verfahrensmangel (§
160 Abs
2 Nr
3 SGG) in Form eines Verstoßes des LSG gegen den aus §
62 SGG iVm Art
103 Abs
1 GG folgenden Anspruch auf rechtliches Gehör gerügt, auf dem das angefochtene Urteil beruhen kann.
Der Anspruch auf rechtliches Gehör verpflichtet die Gerichte, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen
und in Erwägung zu ziehen. Dabei ist grundsätzlich davon auszugehen, dass ein Gericht das Vorbringen der Beteiligten zur Kenntnis
genommen und in Erwägung gezogen hat, auch wenn das Vorbringen in den Entscheidungsgründen nicht ausdrücklich berührt wird,
weil das Gericht nach Art
103 Abs
1 GG nicht verpflichtet ist, jedes Vorbringen ausdrücklich zu bescheiden. Art
103 Abs
1 GG ist nur verletzt, wenn sich im Einzelfall aus besonderen Umständen ergibt, dass ein Gericht seiner Pflicht, das Vorbringen
der Parteien zur Kenntnis zu nehmen und zu erwägen, nicht nachgekommen ist. Geht das Gericht allerdings auf den wesentlichen
Kern des Tatsachenvortrags einer Partei zu einer Frage, die für das Verfahren von zentraler Bedeutung ist, in den Gründen
nicht ein, so lässt dies auf die Nichtberücksichtigung des Vortrags schließen. Art
103 Abs
1 GG bietet zwar keinen Schutz dagegen, dass der Sachvortrag der Beteiligten aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts
ganz oder teilweise unberücksichtigt bleibt. Die sich aus Art
103 Abs
1 GG ergebende Pflicht, die Ausführungen der Prozessparteien zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen, schließt es jedoch
aus, diese aus Gründen, die - anders als beispielsweise die Beschränkung der Nachprüfung auf Rechtsfragen im Rechtsmittelverfahren
(vgl BVerfG Beschluss vom 21.4.1982 - 2 BvR 810/81 - BVerfGE 60, 305, 310 = Juris RdNr 15) - außerhalb des Prozessrechts liegen, unberücksichtigt zu lassen (vgl BVerfG Kammerbeschluss vom 25.3.2010
- 1 BvR 2446/09 - Juris RdNr 11 mwN; BSG Beschluss vom 1.8.2017 - B 13 R 214/16 B - Juris RdNr 18).
Vorliegend hat das LSG den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör verletzt, weil es das Vorbringen der Klägerin aus deren
Berufungsbegründung zur Feststellung der Gleichwertigkeit ihrer Ausbildung als Diätköchin mit der bundesdeutschen Abschlussprüfung
als Köchin aufgrund von Art 37 Abs 1 EV durch - mit dem selben Schriftsatz eingereichten - Bescheid der Senatsverwaltung für
Integration, Arbeit und Soziales vom 13.10.2011 nicht zur Kenntnis genommen hat. Dass dies der Fall gewesen ist und das LSG
diesen Bescheid auch nicht in Erwägung gezogen hat, ergibt sich - worauf die Klägerin in der Beschwerdebegründung zutreffend
hinweist - aus dessen Ausführungen zu einer fehlerhaften tariflichen Eingruppierung der Klägerin. Danach hat es die Eingruppierung
der Klägerin als Facharbeiterin nach § 2 Abs 4 Unterabs 3 BTV Nr 2 abgelehnt, weil es (vermeintlich) an einer Gleichstellung
nach Art 37 EV fehle. Zu dieser Aussage konnte das LSG nur gelangen, weil es den Bescheid vom 13.10.2011 übersehen oder aus
anderen Gründen nicht zur Kenntnis genommen hatte. Dies ergibt sich auch daraus, dass das LSG bei der Prüfung des Berufsschutzes
das weitere in die Gesamtwürdigung einzustellende Kriterium einer Ausbildungsdauer von grundsätzlich mehr als zwei Jahren
verneint hat, ohne den Bescheid zu erwähnen. Denn eine im Einzelfall kürzere oder längere Ausbildungsdauer schließt den Facharbeiterstatus
nicht aus (vgl BSG Urteil vom 21.6.2001 - B 13 RJ 45/00 R - Juris RdNr 32), insbesondere wenn - wie hier - ein gleichwertiger Befähigungsnachweis wie nach einer entsprechenden Ausbildungsdauer
erworben worden ist.
Auf dieser Verletzung des Anspruchs der Klägerin auf rechtliches Gehör kann die angefochtene Entscheidung auch beruhen. Denn
ausgehend von der in den Entscheidungsgründen des angegriffenen Urteils zum Ausdruck kommenden Rechtsauffassung des LSG ist
nicht auszuschließen, dass dieses die Klägerin im Rahmen der Gesamtschau aller Bewertungskriterien als Facharbeiterin eingestuft
hätte, wenn es die Gleichstellungsentscheidung zur Kenntnis genommen hätte. In diesem Fall hätte die Klägerin - auch nach
Auffassung des LSG - nicht auf die Tätigkeit einer Telefonistin verwiesen werden können. Eine ungelernte Tätigkeit ist zwar
für eine obere Angelernte, grundsätzlich aber nicht für eine Facharbeiterin zumutbar (BSG Urteil vom 30.3.1977 - 5 RJ 98/76 - BSGE 43, 243, 246 = SozR 2200 § 1246 Nr 16 S 50 = Juris RdNr 23). Feststellungen zu einer tariflichen Gleichstellung von ungelernten Telefonisten
mit sonstigen Ausbildungsberufen, die eine Verweisung ggf ermöglichen würden (vgl BSG Urteil vom 12.9.1991 - 5 RJ 34/90 - SozR 3-2200 § 1246 Nr 17, Juris RdNr 22 f; BSG Urteil vom 8.9.1993 - 5 RJ 34/93 - Juris RdNr 12), hat das LSG nicht getroffen.
Dem Erfolg der Nichtzulassungsbeschwerde steht nicht entgegen, dass das LSG Zweifel äußert, ob sich die Klägerin selbst bei
ursprünglich zutreffender tariflicher Eingruppierung ihrer Tätigkeit als Diätköchin in eine Tarifgruppe für Facharbeiter noch
weiterhin hierauf stützen könne. Die Entscheidung stellt sich deshalb noch nicht im Ergebnis als richtig dar. Denn die Klägerin
weist zutreffend darauf hin, dass das LSG hierzu keine ausreichenden Feststellungen getroffen hat. Tatsächlich hielt es das
Berufungsgericht lediglich für "zweifelhaft, ob die Klägerin einen Facharbeiterschutz noch immer geltend machen könnte". Im
Ergebnis hat das LSG dies also offengelassen. Dies verdeutlichen auch die in dieser Urteilspassage gewählten Formulierungen,
nach der BAK der Klägerin sei "anzunehmen", dass diese nur zu 50 % Facharbeitertätigkeiten verrichtet habe, und es sei davon
"auszugehen", dass bestimmte Tätigkeiten auch von angelernten Kräften verrichtet werden könnten. Insoweit fehlen aber hinreichende
Feststellungen, inwieweit die zitierte Tätigkeitsbeschreibung des Arbeitgebers von derjenigen abweicht, die typischerweise
dem Berufsbild der im Tarifvertrag genannten "Köche" entspricht. Zu diesbezüglicher weiterer Sachaufklärung besteht schon
deshalb Anlass, weil der Arbeitgeber zunächst selbst von einem Umfang der Facharbeitertätigkeiten von 70 % ausging.
2. Vor diesem Hintergrund kann dahinstehen, ob auch die von der Klägerin erhobene Rüge eines Verstoßes des LSG gegen die Sachaufklärungspflicht
aus §
103 SGG zulässig und begründet ist. Insoweit macht sie geltend, das LSG sei dem von ihr noch in der mündlichen Verhandlung wiederholten
Antrag auf Einholung eines neurologisch-psychiatrischen Gutachtens ohne hinreichenden Grund nicht nachgekommen.
3. Nach §
160a Abs
5 SGG kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde im Falle des Vorliegens der - hier nach alledem gegebenen - Voraussetzungen
des §
160 Abs
2 Nr
3 SGG das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen. Hiervon
macht der Senat zur Vermeidung von Verfahrensverzögerungen Gebrauch.
4. Die Kostenentscheidung bezüglich des Beschwerdeverfahrens bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.